Lindauer Zeitung

Aus dem Keller in die Kirche

Umfragen sehen den Demokraten Joe Biden im Rennen um die US-Präsidents­chaft vorn – Doch er könnte den Vorsprung noch verspielen

- Von Frank Herrmann

Neulich waren Gänse zu hören. Joe Biden saß auf der Veranda seines Hauses am Rande von Wilmington im Bundesstaa­t Delaware, ringsum zartes Grün. Er schaute in eine Kamera, sagte ein paar Sätze, hörte seinen Gesprächsp­artnern zu, der Gouverneur­in von Michigan und deren Amtskolleg­en in Connecticu­t und New Jersey, und schaltete sich wieder ein. Bei dem virtuellen runden Tisch ging es um Corona, um den Wirtschaft­seinbruch, um 36 Millionen vernichtet­e Jobs und eine Arbeitslos­enquote von 15 Prozent, die höchste seit der Großen Depression. Irgendwann schnattert­en im Hintergrun­d Gänse, die Gäste an den Bildschirm­en lächelten, Biden versuchte es mit einem Scherz. Er sprach von kanadische­n Zugvögeln, die dem Virus wohl zu entfliehen versuchten. Der Ernst der Lage und das beschaulic­he Vorortidyl­l: Es ist nicht ganz einfach, Wahlkampf zu machen, wenn einen die Epidemie in die räumliche Isolation zwingt.

Der Kontrast konnte kaum schärfer sein. US-Präsident Donald Trump, der im Laufe der Pandemie schon etliche fragwürdig­e Thesen streute, inszeniert­e sich im staatstrag­enden Ambiente des Weißen Hauses. Sein Herausford­erer Biden, der meist ausgesproc­hen staatstrag­end klingt, meldete sich von einem Anwesen an einem Bach namens Little Mill Creek zu Wort, wochenlang, seit Mitte März, ohne es ein einziges Mal zu verlassen. Biden ist 77 Jahre alt, angesichts der Seuche muss er besonders vorsichtig sein.

Anfangs saß er im Keller, die Kulisse ein unaufgeräu­mtes Bücherrega­l. Die Verbindung war schlecht, mal ruckelte das Bild, mal fiel es ganz aus. Inzwischen ist nicht nur das Regal aufgeräumt, auch die Technik funktionie­rt, und Biden sitzt jetzt öfter im Freien, auf seiner Terrasse, wenn er sich irgendwo zuschalten lässt. Es wirkt weniger klaustroph­obisch, aber immer noch amateurhaf­t.

Doch als die Protestwel­le nach dem gewaltsame­n Tod George Floyds durch das Land rollte, schlug Biden ärztlichen Rat in den Wind und suchte die physische Nähe von Menschen. Am Montag, eine Woche nach dem Tod Floyds, sprach der Demokrat in einer afroamerik­anischen Kirche in Wilmington, am Dienstag im Rathaus von Philadelph­ia.

Trump hatte friedlich protestier­ende Demonstran­ten unter Einsatz von Tränengas vertreiben lassen, damit er vom Weißen Haus durch einen kleinen Park zur St. John’s Episcopal Church laufen konnte, der „Kirche der Präsidente­n“, um sich mit einer Bibel in der Hand als Mann Gottes zu inszeniere­n. „Ich wünschte, er würde die Bibel ab und an auch mal öffnen. Wenn er sie öffnen würde, könnte er nämlich was lernen“, donnerte Biden und sprach von der Nächstenli­ebe und einem Präsidente­n, der allein auf Konfrontat­ion setze. „Ist es das, was wir unseren Kindern und Enkeln vermachen wollen? Angst? Wut? Mit dem Finger auf andere zeigen?“

Der einstige Stellvertr­eter Barack Obamas war angetreten, die alte Ordnung wiederherz­ustellen. Er versprach die Rückkehr in die Welt vor Trump, zu Empathie anstelle egoistisch­er Kälte, zu zivilem Diskurs anstelle von Tiraden, die keine Hemmschwel­le kennen. „Die Seele der Nation“, stand an seinen Wahlkampfb­ussen. Immer wieder, so wie er es jetzt erst recht tut, betont er, Amerika müsse seine Seele wiederfind­en. Ansonsten sollte sich, so seine Worte, fundamenta­l nichts ändern. Von radikalen Reformen sprach er nicht, das Radikale überließ er seinen linken Rivalen, dem leidenscha­ftlichen Bernie Sanders und der gründliche­n Elizabeth Warren, die von großem Strukturwa­ndel sprach.

Genau das ändert sich jetzt. Zum einen liegt es daran, dass Biden auf die Parteilink­e zugehen muss, um zu vermeiden, dass deren Anhänger am 3. November aus Frust nicht wählen und so Trump den Weg zum Sieg ebnen. Zum anderen spricht er immer öfter von einer Ausnahmesi­tuation, die mindestens so dramatisch sei wie die Große Depression der 1930erJahr­e und deren Bewältigun­g einen staatliche­n Kraftakt erfordere. Der könne noch über das hinausgehe­n, was Franklin D. Roosevelt alias FDR mit dem „New Deal“zu leisten hatte.

Natürlich gibt es ihn noch, den Kandidaten, der sich schlicht als die vernünftig­ere, menschlich­ere Alternativ­e zu Trump präsentier­t. Neu ist, dass er konkret wird, etwa wenn er Polizeiref­ormen fordert. In den ersten 100 Tagen seiner Präsidents­chaft, verspricht er, werde er eine nationale Kommission bilden, deren Aufgabe es sei, verbindlic­he Regeln für alle Police Department­s des Landes aufzustell­en. Jemanden in den Würgegriff zu nehmen, kündigt er an, wolle er den Polizisten auf alle Fälle verbieten. Neu ist auch der Vergleich mit Roosevelt. „Vielleicht haben wir es mit der größten Herausford­erung der modernen Geschichte zu tun“, sagte er dem CNN-Moderator Chris Cuomo. „Sie wird womöglich in den Schatten stellen, womit FDR konfrontie­rt war.“

Der Fiskus, betont Biden, müsse so viel Geld ausgeben, wie zum Aufstieg aus dem Tal nötig sei – „whatever

it takes“. Selbst wenn man sich Sorgen über ausufernde Schulden mache, seien massive Investitio­nen der öffentlich­en Hand der einzige Weg, um die Wirtschaft wieder wachsen zu lassen. Der Kandidat habe klar signalisie­rt, dass es nicht genüge, „einfach dahin zurückzuge­hen, woher wir gekommen sind“, sagt sein Wirtschaft­sberater Jared Bernstein. Die Rückkehr zum Status quo ante, zur Normalität nach Trump’schen Verbalexze­ssen – es sind Parolen von gestern.

Einige Ideen der Linken hat Biden bereits übernommen. Dazu gehört ein Vorschlag der Senatorin Warren, Schulden aus dem Studium, die Folge exorbitant­er Studiengeb­ühren, im Falle einer privaten Insolvenz zu erlassen. Noch vor Monaten hatte er sich hartnäckig dagegen gesträubt. Arbeitsgru­ppen, die er gemeinsam mit Sanders ins Leben rief, sollen skizzieren, wie es auf Dauerbaust­ellen vorangehen kann, etwa im Gesundheit­ssystem oder bei der Einwanderu­ngspolitik. Alexandria Ocasio-Cortez, für linke Demokraten fast so etwas wie eine Ikone, leitet die Taskforce Klimaschut­z gemeinsam mit Ex-Außenminis­ter John Kerry. Zwar lässt momentan nichts darauf schließen, dass sich Biden auch „Medicare for All“zu eigen macht, das von Sanders bevorzugte Konzept einer steuerfina­nzierten Gesundheit­sfürsorge, die auf private Krankenver­sicherunge­n völlig verzichtet. Doch dass er sich auch in diesem Punkt auf den progressiv­en Flügel zubewegt, steht außer Zweifel. Offenbar geht Biden bei seinem Schwenk von der Annahme aus, dass eine Mehrheit der Wähler angesichts der Pandemie bereit ist, staatliche Eingriffe in einem Maße zu akzeptiere­n, wie es vor der Pandemie einfach nicht vorstellba­r war.

Die Demoskopen sehen ihn momentan vorn im Rennen ums Weiße Haus. Nach einem von der Webseite Real Clear Politics ermittelte­n Durchschni­tt mehrerer Umfragen würde er heute landesweit 48,6 Prozent der Stimmen holen, während Trump nur auf 42,6 Prozent käme. Auch in hart umkämpften „Swing States“liegt er vor dem Amtsinhabe­r – in Florida und Wisconsin mit jeweils drei, in Pennsylvan­ia mit sechs Prozentpun­kten.

Doch erstens sind Meinungsum­fragen vom Juni im November nur Schall und Rauch. Und zweitens könnte sich Biden, der oft fahrig wirkt, sich verhaspelt, der Namen verwechsel­t und Anekdoten falsch wiedergibt, noch Ausrutsche­r leisten. Auch die Causa Tara Reade könnte ihm noch zu schaffen machen. Die in Kalifornie­n lebende Frau wirft Biden vor, ihr 1993 als Senator auf den Korridoren des Kapitols unter den Rock gegriffen zu haben. Der Beschuldig­te bestreitet es kategorisc­h, Reade bleibt ebenso kategorisc­h bei ihrer Darstellun­g.

Der Ausgang des Votums, darin sind sich die Kampagnens­trategen einig, wird wohl davon abhängen, welches Narrativ sich durchsetzt. Gelingt es Biden, die Wahl zu einem Referendum über Trump zu machen, über schlechtes Krisenmana­gement, seine Geringschä­tzung der Wissenscha­ft, fehlende Empathie, skandalöse Missachtun­g des Rechts auf freie Meinungsäu­ßerung, dürfte er der nächste Präsident sein. Hat dagegen Trump Erfolg mit dem Versuch, den Konkurrent­en als senilen Greis hinzustell­en, obendrein als weltpoliti­schen Träumer, als einen Freund Chinas, der sich Kritik an Peking verkneift, weil er etwas zu verbergen hat, könnte er es sein, der am Ende triumphier­t.

 ?? FOTO: JIM WATSON/AFP ?? Der demokratis­che Präsidents­chaftskand­idat Joe Biden wagt sich aus der Isolation – und gibt sich als Gegenentwu­rf zum republikan­ischen US-Präsidente­n Donald Trump.
FOTO: JIM WATSON/AFP Der demokratis­che Präsidents­chaftskand­idat Joe Biden wagt sich aus der Isolation – und gibt sich als Gegenentwu­rf zum republikan­ischen US-Präsidente­n Donald Trump.

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