Aus dem Keller in die Kirche
Umfragen sehen den Demokraten Joe Biden im Rennen um die US-Präsidentschaft vorn – Doch er könnte den Vorsprung noch verspielen
Neulich waren Gänse zu hören. Joe Biden saß auf der Veranda seines Hauses am Rande von Wilmington im Bundesstaat Delaware, ringsum zartes Grün. Er schaute in eine Kamera, sagte ein paar Sätze, hörte seinen Gesprächspartnern zu, der Gouverneurin von Michigan und deren Amtskollegen in Connecticut und New Jersey, und schaltete sich wieder ein. Bei dem virtuellen runden Tisch ging es um Corona, um den Wirtschaftseinbruch, um 36 Millionen vernichtete Jobs und eine Arbeitslosenquote von 15 Prozent, die höchste seit der Großen Depression. Irgendwann schnatterten im Hintergrund Gänse, die Gäste an den Bildschirmen lächelten, Biden versuchte es mit einem Scherz. Er sprach von kanadischen Zugvögeln, die dem Virus wohl zu entfliehen versuchten. Der Ernst der Lage und das beschauliche Vorortidyll: Es ist nicht ganz einfach, Wahlkampf zu machen, wenn einen die Epidemie in die räumliche Isolation zwingt.
Der Kontrast konnte kaum schärfer sein. US-Präsident Donald Trump, der im Laufe der Pandemie schon etliche fragwürdige Thesen streute, inszenierte sich im staatstragenden Ambiente des Weißen Hauses. Sein Herausforderer Biden, der meist ausgesprochen staatstragend klingt, meldete sich von einem Anwesen an einem Bach namens Little Mill Creek zu Wort, wochenlang, seit Mitte März, ohne es ein einziges Mal zu verlassen. Biden ist 77 Jahre alt, angesichts der Seuche muss er besonders vorsichtig sein.
Anfangs saß er im Keller, die Kulisse ein unaufgeräumtes Bücherregal. Die Verbindung war schlecht, mal ruckelte das Bild, mal fiel es ganz aus. Inzwischen ist nicht nur das Regal aufgeräumt, auch die Technik funktioniert, und Biden sitzt jetzt öfter im Freien, auf seiner Terrasse, wenn er sich irgendwo zuschalten lässt. Es wirkt weniger klaustrophobisch, aber immer noch amateurhaft.
Doch als die Protestwelle nach dem gewaltsamen Tod George Floyds durch das Land rollte, schlug Biden ärztlichen Rat in den Wind und suchte die physische Nähe von Menschen. Am Montag, eine Woche nach dem Tod Floyds, sprach der Demokrat in einer afroamerikanischen Kirche in Wilmington, am Dienstag im Rathaus von Philadelphia.
Trump hatte friedlich protestierende Demonstranten unter Einsatz von Tränengas vertreiben lassen, damit er vom Weißen Haus durch einen kleinen Park zur St. John’s Episcopal Church laufen konnte, der „Kirche der Präsidenten“, um sich mit einer Bibel in der Hand als Mann Gottes zu inszenieren. „Ich wünschte, er würde die Bibel ab und an auch mal öffnen. Wenn er sie öffnen würde, könnte er nämlich was lernen“, donnerte Biden und sprach von der Nächstenliebe und einem Präsidenten, der allein auf Konfrontation setze. „Ist es das, was wir unseren Kindern und Enkeln vermachen wollen? Angst? Wut? Mit dem Finger auf andere zeigen?“
Der einstige Stellvertreter Barack Obamas war angetreten, die alte Ordnung wiederherzustellen. Er versprach die Rückkehr in die Welt vor Trump, zu Empathie anstelle egoistischer Kälte, zu zivilem Diskurs anstelle von Tiraden, die keine Hemmschwelle kennen. „Die Seele der Nation“, stand an seinen Wahlkampfbussen. Immer wieder, so wie er es jetzt erst recht tut, betont er, Amerika müsse seine Seele wiederfinden. Ansonsten sollte sich, so seine Worte, fundamental nichts ändern. Von radikalen Reformen sprach er nicht, das Radikale überließ er seinen linken Rivalen, dem leidenschaftlichen Bernie Sanders und der gründlichen Elizabeth Warren, die von großem Strukturwandel sprach.
Genau das ändert sich jetzt. Zum einen liegt es daran, dass Biden auf die Parteilinke zugehen muss, um zu vermeiden, dass deren Anhänger am 3. November aus Frust nicht wählen und so Trump den Weg zum Sieg ebnen. Zum anderen spricht er immer öfter von einer Ausnahmesituation, die mindestens so dramatisch sei wie die Große Depression der 1930erJahre und deren Bewältigung einen staatlichen Kraftakt erfordere. Der könne noch über das hinausgehen, was Franklin D. Roosevelt alias FDR mit dem „New Deal“zu leisten hatte.
Natürlich gibt es ihn noch, den Kandidaten, der sich schlicht als die vernünftigere, menschlichere Alternative zu Trump präsentiert. Neu ist, dass er konkret wird, etwa wenn er Polizeireformen fordert. In den ersten 100 Tagen seiner Präsidentschaft, verspricht er, werde er eine nationale Kommission bilden, deren Aufgabe es sei, verbindliche Regeln für alle Police Departments des Landes aufzustellen. Jemanden in den Würgegriff zu nehmen, kündigt er an, wolle er den Polizisten auf alle Fälle verbieten. Neu ist auch der Vergleich mit Roosevelt. „Vielleicht haben wir es mit der größten Herausforderung der modernen Geschichte zu tun“, sagte er dem CNN-Moderator Chris Cuomo. „Sie wird womöglich in den Schatten stellen, womit FDR konfrontiert war.“
Der Fiskus, betont Biden, müsse so viel Geld ausgeben, wie zum Aufstieg aus dem Tal nötig sei – „whatever
it takes“. Selbst wenn man sich Sorgen über ausufernde Schulden mache, seien massive Investitionen der öffentlichen Hand der einzige Weg, um die Wirtschaft wieder wachsen zu lassen. Der Kandidat habe klar signalisiert, dass es nicht genüge, „einfach dahin zurückzugehen, woher wir gekommen sind“, sagt sein Wirtschaftsberater Jared Bernstein. Die Rückkehr zum Status quo ante, zur Normalität nach Trump’schen Verbalexzessen – es sind Parolen von gestern.
Einige Ideen der Linken hat Biden bereits übernommen. Dazu gehört ein Vorschlag der Senatorin Warren, Schulden aus dem Studium, die Folge exorbitanter Studiengebühren, im Falle einer privaten Insolvenz zu erlassen. Noch vor Monaten hatte er sich hartnäckig dagegen gesträubt. Arbeitsgruppen, die er gemeinsam mit Sanders ins Leben rief, sollen skizzieren, wie es auf Dauerbaustellen vorangehen kann, etwa im Gesundheitssystem oder bei der Einwanderungspolitik. Alexandria Ocasio-Cortez, für linke Demokraten fast so etwas wie eine Ikone, leitet die Taskforce Klimaschutz gemeinsam mit Ex-Außenminister John Kerry. Zwar lässt momentan nichts darauf schließen, dass sich Biden auch „Medicare for All“zu eigen macht, das von Sanders bevorzugte Konzept einer steuerfinanzierten Gesundheitsfürsorge, die auf private Krankenversicherungen völlig verzichtet. Doch dass er sich auch in diesem Punkt auf den progressiven Flügel zubewegt, steht außer Zweifel. Offenbar geht Biden bei seinem Schwenk von der Annahme aus, dass eine Mehrheit der Wähler angesichts der Pandemie bereit ist, staatliche Eingriffe in einem Maße zu akzeptieren, wie es vor der Pandemie einfach nicht vorstellbar war.
Die Demoskopen sehen ihn momentan vorn im Rennen ums Weiße Haus. Nach einem von der Webseite Real Clear Politics ermittelten Durchschnitt mehrerer Umfragen würde er heute landesweit 48,6 Prozent der Stimmen holen, während Trump nur auf 42,6 Prozent käme. Auch in hart umkämpften „Swing States“liegt er vor dem Amtsinhaber – in Florida und Wisconsin mit jeweils drei, in Pennsylvania mit sechs Prozentpunkten.
Doch erstens sind Meinungsumfragen vom Juni im November nur Schall und Rauch. Und zweitens könnte sich Biden, der oft fahrig wirkt, sich verhaspelt, der Namen verwechselt und Anekdoten falsch wiedergibt, noch Ausrutscher leisten. Auch die Causa Tara Reade könnte ihm noch zu schaffen machen. Die in Kalifornien lebende Frau wirft Biden vor, ihr 1993 als Senator auf den Korridoren des Kapitols unter den Rock gegriffen zu haben. Der Beschuldigte bestreitet es kategorisch, Reade bleibt ebenso kategorisch bei ihrer Darstellung.
Der Ausgang des Votums, darin sind sich die Kampagnenstrategen einig, wird wohl davon abhängen, welches Narrativ sich durchsetzt. Gelingt es Biden, die Wahl zu einem Referendum über Trump zu machen, über schlechtes Krisenmanagement, seine Geringschätzung der Wissenschaft, fehlende Empathie, skandalöse Missachtung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, dürfte er der nächste Präsident sein. Hat dagegen Trump Erfolg mit dem Versuch, den Konkurrenten als senilen Greis hinzustellen, obendrein als weltpolitischen Träumer, als einen Freund Chinas, der sich Kritik an Peking verkneift, weil er etwas zu verbergen hat, könnte er es sein, der am Ende triumphiert.