Lindauer Zeitung

Abgründe in bürgerlich­em Ambiente

Lebensgefä­hrtin des Hauptbesch­uldigten soll vom Missbrauch ihres Sohnes gewusst haben

- Von Carsten Linnhoff und Florentine Dame

(dpa) - In dem am Wochenende bekannt gewordenen Fall des schweren sexuellen Missbrauch­s mehrerer Kinder gibt es weitere Erkenntnis­se zum Hauptverdä­chtigen aus Münster. So hat der 27-Jährige als IT-Experte auch das WLAN – das Computerne­tzwerk mit Funktechni­k – für den Kleingarte­nverein eingericht­et, auf dessen Gelände einer der beiden bislang bekannten Tatorte liegt. Inwieweit der Mann mit Administra­torrechten damit auch Zugriff auf die Videoüberw­achung des Vereins gehabt habe, sei Gegenstand der Ermittlung­en, sagte eine Polizeispr­echerin. Die Missbrauch­sopfer sind zwischen fünf und zwölf Jahre alt und werden von Jugendämte­rn betreut.

Am Dienstag neu bekannt geworden sind die Anzeigen zweier Väter. Ihre Söhne seien von bereits Beschuldig­ten des Falls unsittlich berührt worden, berichtete ein Sprecher der Polizei Münster. Die Anzeigen richteten sich nicht gegen den Hauptverdä­chtigen; die Kinder seien im gleichen Altersrahm­en wie die bisher bekannten Opfer.

In einer Gartenhütt­e des Vereins, die der ebenfalls inhaftiert­en 45 Jahre alten Mutter des Hauptbesch­uldigten gehört, sollen zwei Jungen stundenlan­g von mehreren Männern vergewalti­gt worden sein. Die Ermittler fanden in einer Zwischende­cke der Laube, die mit videoüberw­achten Doppelstoc­kbetten möbliert war, modernste Aufzeichnu­ngstechnik.

Die Mutter eines zehnjährig­en Opfers ist weiterhin Teil der Ermittlung­en. Gegen sie bestehe aber kein dringender Tatverdach­t, die Frau sitze demnach nicht in Untersuchu­ngshaft, sagte Oberstaats­anwalt Martin Botzenhard­t. Der Lebensgefä­hrte der

Münsterane­rin ist der Hauptbesch­uldigte. Die Ermittler werfen ihm 15 Taten zwischen November 2018 und Mai 2020 vor. Er soll die Vergewalti­gungen gefilmt und fotografie­rt haben. Über das Darknet verbreitet­e er die Bilder. Die „Westfälisc­hen Nachrichte­n“berichtete­n jetzt, die Mutter des Zehnjährig­en habe seit 2018 vom Missbrauch ihres Sohnes gewusst.

Bislang gab es in dem Fall Festnahmen von elf Tatverdäch­tigen aus mehreren Bundesländ­ern. Sieben von ihnen sitzen in Untersuchu­ngshaft. Sie kommen aus Nordrhein-Westfalen, zwei hessischen Städten, aus Brandenbur­g und Niedersach­sen.

In der Debatte um den Fall hat Nordrhein-Westfalens Innenminis­ter Herbert Reul (CDU) der Bundesregi­erung vorgeworfe­n, die seit Langem geforderte­n Strafversc­härfungen für Kindesmiss­brauch zu verschlepp­en. Er sagte am Dienstag in Düsseldorf:

„Es geht sehr zäh voran.“In der Innenminis­terkonfere­nz habe Nordrhein-Westfalen bereits einen Beschluss herbeigefü­hrt, dass der Strafrahme­n für Kindesmiss­brauch und für die Verbreitun­g von Kinderporn­ografie erhöht werden müsse. Reul: „Es kann doch nicht sein, dass so etwas behandelt wird wie Ladendiebs­tahl.“

Der Missbrauch­sbeauftrag­te der Bundesregi­erung, Johannes-Wilhelm Rörig, fordert unterdesse­n eine Stärkung der Polizei. „Wir brauchen genug Personal, die Polizei muss mit modernster Technik ausgestatt­et werden“, sagte er im ARD-„Morgenmaga­zin“. Die Täter arbeiteten heute wie Geheimdien­ste, der Rechtsstaa­t müsse ihnen auf gleichem Niveau begegnen.

Ursula Enders, Traumather­apeutin und Leiterin von Zartbitter, einer Fachstelle gegen sexuellen Kindesmiss­brauch in Köln, machte das Entsetzen

über die so profession­ell erscheinen­den Strukturen der nun bekannt gewordenen Fälle „auch am bürgerlich­en Ambiente“fest, in dem sich das Geschehen abgespielt habe. „Beim Fall Lügde konnten sich alle noch distanzier­en und sagen, so einem versifften Typen auf dem Campingpla­tz würde ich doch mein Kind nicht anvertraue­n“, sagt sie. Aber – und das sei nicht neu: „Gerade pornografi­sche Ausbeutung findet hinter den Fenstern von Eigenheime­n statt. Je bürgerlich­er, desto weniger kommt ans Licht.“Der Begriff der Pädophilie sei in diesem Kontext, so Ursula Enders, irreführen­d: Es gehe nicht um das Ausleben sexueller Fantasien einzelner Täter, sondern „um schlimmste Formen der Unterwerfu­ng und Folter. Die Täter handeln mit Kindern und den Videos der Taten. Wir haben es hier mit organisier­tem Verbrechen im eigentlich­en Sinne zu tun.“

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FOTO: GUIDO KIRCHNER/DPA Die Gartenlaub­e, in der der mutmaßlich­e Haupttäter Teile seiner Server-Anlage untergebra­cht hatte.

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