Abgründe in bürgerlichem Ambiente
Lebensgefährtin des Hauptbeschuldigten soll vom Missbrauch ihres Sohnes gewusst haben
(dpa) - In dem am Wochenende bekannt gewordenen Fall des schweren sexuellen Missbrauchs mehrerer Kinder gibt es weitere Erkenntnisse zum Hauptverdächtigen aus Münster. So hat der 27-Jährige als IT-Experte auch das WLAN – das Computernetzwerk mit Funktechnik – für den Kleingartenverein eingerichtet, auf dessen Gelände einer der beiden bislang bekannten Tatorte liegt. Inwieweit der Mann mit Administratorrechten damit auch Zugriff auf die Videoüberwachung des Vereins gehabt habe, sei Gegenstand der Ermittlungen, sagte eine Polizeisprecherin. Die Missbrauchsopfer sind zwischen fünf und zwölf Jahre alt und werden von Jugendämtern betreut.
Am Dienstag neu bekannt geworden sind die Anzeigen zweier Väter. Ihre Söhne seien von bereits Beschuldigten des Falls unsittlich berührt worden, berichtete ein Sprecher der Polizei Münster. Die Anzeigen richteten sich nicht gegen den Hauptverdächtigen; die Kinder seien im gleichen Altersrahmen wie die bisher bekannten Opfer.
In einer Gartenhütte des Vereins, die der ebenfalls inhaftierten 45 Jahre alten Mutter des Hauptbeschuldigten gehört, sollen zwei Jungen stundenlang von mehreren Männern vergewaltigt worden sein. Die Ermittler fanden in einer Zwischendecke der Laube, die mit videoüberwachten Doppelstockbetten möbliert war, modernste Aufzeichnungstechnik.
Die Mutter eines zehnjährigen Opfers ist weiterhin Teil der Ermittlungen. Gegen sie bestehe aber kein dringender Tatverdacht, die Frau sitze demnach nicht in Untersuchungshaft, sagte Oberstaatsanwalt Martin Botzenhardt. Der Lebensgefährte der
Münsteranerin ist der Hauptbeschuldigte. Die Ermittler werfen ihm 15 Taten zwischen November 2018 und Mai 2020 vor. Er soll die Vergewaltigungen gefilmt und fotografiert haben. Über das Darknet verbreitete er die Bilder. Die „Westfälischen Nachrichten“berichteten jetzt, die Mutter des Zehnjährigen habe seit 2018 vom Missbrauch ihres Sohnes gewusst.
Bislang gab es in dem Fall Festnahmen von elf Tatverdächtigen aus mehreren Bundesländern. Sieben von ihnen sitzen in Untersuchungshaft. Sie kommen aus Nordrhein-Westfalen, zwei hessischen Städten, aus Brandenburg und Niedersachsen.
In der Debatte um den Fall hat Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) der Bundesregierung vorgeworfen, die seit Langem geforderten Strafverschärfungen für Kindesmissbrauch zu verschleppen. Er sagte am Dienstag in Düsseldorf:
„Es geht sehr zäh voran.“In der Innenministerkonferenz habe Nordrhein-Westfalen bereits einen Beschluss herbeigeführt, dass der Strafrahmen für Kindesmissbrauch und für die Verbreitung von Kinderpornografie erhöht werden müsse. Reul: „Es kann doch nicht sein, dass so etwas behandelt wird wie Ladendiebstahl.“
Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, fordert unterdessen eine Stärkung der Polizei. „Wir brauchen genug Personal, die Polizei muss mit modernster Technik ausgestattet werden“, sagte er im ARD-„Morgenmagazin“. Die Täter arbeiteten heute wie Geheimdienste, der Rechtsstaat müsse ihnen auf gleichem Niveau begegnen.
Ursula Enders, Traumatherapeutin und Leiterin von Zartbitter, einer Fachstelle gegen sexuellen Kindesmissbrauch in Köln, machte das Entsetzen
über die so professionell erscheinenden Strukturen der nun bekannt gewordenen Fälle „auch am bürgerlichen Ambiente“fest, in dem sich das Geschehen abgespielt habe. „Beim Fall Lügde konnten sich alle noch distanzieren und sagen, so einem versifften Typen auf dem Campingplatz würde ich doch mein Kind nicht anvertrauen“, sagt sie. Aber – und das sei nicht neu: „Gerade pornografische Ausbeutung findet hinter den Fenstern von Eigenheimen statt. Je bürgerlicher, desto weniger kommt ans Licht.“Der Begriff der Pädophilie sei in diesem Kontext, so Ursula Enders, irreführend: Es gehe nicht um das Ausleben sexueller Fantasien einzelner Täter, sondern „um schlimmste Formen der Unterwerfung und Folter. Die Täter handeln mit Kindern und den Videos der Taten. Wir haben es hier mit organisiertem Verbrechen im eigentlichen Sinne zu tun.“