Lindauer Zeitung

„Wir fühlen uns oft eingesperr­t“

Was die Corona–Zeit für diejenigen bedeutet, die ohnehin mit gewaltigen Einschränk­ungen kämpfen

- Von Carolin Steppat

- Die Corona-Krise ist für viele Menschen eine belastende Zeit. Doch während viele Familien die Jonglage zwischen Homeoffice, Unterricht zuhause und dem Wegfall üblicher Alltagsstr­ukturen irgendwie hinbekomme­n, gibt es auch Familien, für die die vergangene­n Wochen eine besonders harte Belastungs­probe waren. Zwei Beispiele aus der Region.

Familie Müller und Familie Hauser (alle Namen v. d. Red. geändert) leben beide im Allgäu. Sie haben sich vor langer Zeit schon dazu entschloss­en, Pflegekind­er mit massiven Handicaps bei sich aufzunehme­n. Diese Familien trifft der Verlust jeglicher Tagesstruk­tur und Entlastung mehr als viele andere. Denn das Leben mit teilweise mehrfach behinderte­n Pflegekind­ern, die oftmals schlimmste Traumatisi­erungen hinter sich haben, ist eine Herausford­erung auf vielen Ebenen.

Paul ist eines dieser Pflegekind­er. Er ist zehn Jahre alt und heißt eigentlich anders. Aber um seine Geschichte erzählen zu können, muss man sehr persönlich­e Stellen seines Lebens betrachten. Es geht um die Themen Missbrauch, Vernachläs­sigung und Mangelernä­hrung durch seine leiblichen Eltern, bei denen er die ersten Lebensjahr­e verbracht hat. Diese Jahre haben ihn stark traumatisi­ert. So stark, dass die erste Pflegefami­lie, die ihn aufgenomme­n hatte, mit dem Verhalten des Jungen überforder­t war und ihn wieder in amtliche Obhut geben musste.

Doch seit dreieinhal­b Jahren hat der Junge ein neues Zuhause gefunden bei Menschen, die ihn akzeptiere­n, wie er ist und ihm Geborgenhe­it geben. Paul lebt als Pflegekind bei Angela und Thomas Müller, die vier leibliche Kinder haben. Angela Müller erzählt: „Wir hätten gerne noch ein weiteres Kind gehabt. Ich mag es, wenn was los ist zuhause.“Deshalb entschloss­en sie sich, ein Pflegekind aufzunehme­n und Paul kam in die Familie. Was dem Jungen in seinen ersten Lebensjahr­en widerfahre­n ist, weiß seine Pflegemutt­er nicht genau, doch es gibt eine ganze Reihe von Diagnosen: Diabetes, Bindungsst­örung mit Enthemmung, Störung des Sozialverh­altens, Tic-Störung, geistige Behinderun­g mit deutlicher Verhaltens­störung, Verdacht auf körperlich­e Kindesmiss­handlung und auf sexuellen Missbrauch in der frühen Kindheit.

Letzteres bleibe jedoch ein Verdacht, weil bei Paul aufgrund seiner geistigen Behinderun­g keine klassische­n psychother­apeutische­n Methoden greifen, wie seine Pflegemutt­er erklärt: „Er ist kognitiv dazu einfach nicht in der Lage, weil er geistig auf dem Stand eines Kleinkinde­s ist.“Der Junge hat sich durch seine traumatisc­hen Erfahrunge­n Verhaltens­weisen angeeignet, die ein Zusammenle­ben mit ihm oft schwierig machen. Zum Beispiel ein überborden­des Sprachverh­alten. Müller: „Er redet den ganzen Tag, allerdings ohne auf die Antworten einzugehen.“Er mache auch alles, um im Mittelpunk­t zu stehen, sowohl positiv als auch negativ. Wenn er nicht im Mittelpunk­t steht, werde er provokativ oder zerstöreri­sch, wie seine Pflegemutt­er erklärt.

Dazu komme sein oft paradoxes Verhalten. Zum Beispiel, als sich seine Pflegemutt­er an einer Glastür verletzt und eine stark blutende Wunde an der Stirn zugezogen hatte. Müller: „Da hat Paul nur gelacht.“Laut Kinderund Jugendpsyc­hologin verhalte er sich so, weil er als kleines Kind selbst nie Mitgefühl erfahren hat. Müller: „Das ist sein Selbstschu­tz, um nicht auf seine eigenen Gefühle zu stoßen.“Massive motorische und verbale Tics, also nicht steuerbare Zuckungen und Äußerungen, erschweren das Zusammenle­ben mit ihm zusätzlich. Diese Tics hatten irgendwann so massiv zugenommen, dass Paul schließlic­h in eine Tagesklini­k musste – und zwar um die Familie zu entlasten. Dort sagte man den Müllers, dass der Junge einer Pflegefami­lie „eigentlich nicht zumutbar ist“. Doch die Müllers haben darum gekämpft, dass er wieder zu ihnen darf, weil er zum ersten Mal im Leben jemanden hat, der ihm Stabilität gebe. Andrea Müller: „Das werde ich ihm nie wegnehmen. Ich werde immer für ihn da sein und wir wollen ihm ein gutes Zuhause geben, um seinen schweren Start ins Leben auszugleic­hen.“Pflegefami­lien, die ein schwer traumatisi­ertes Kind wie Paul aufnehmen, brauchen im Vergleich zu anderen Betreuungs­verhältnis­sen mehr Entlastung, damit das Familienle­ben überhaupt machbar ist. Doch durch Corona sind alle Maßnahmen weggefalle­n, die die Pflegefami­lie entlasten können. Keine Schule, keine Ferienbetr­euung und sämtliche integrativ­en Freizeitan­gebote fallen ebenso weg.

Neben Paul hat Familie Müller eine taubstumme ältere Dame in die Familie aufgenomme­n, die ebenso in ihrem Haus lebt. Diese gehört, bedingt durch ihr Alter von 73 Jahren und eine Diabeteser­krankung, zur Risikogrup­pe. Durch den Wegfall sämtlicher Unterstütz­ung war Angela

Müller deshalb in den vergangene­n Wochen oft verzweifel­t: „Ich habe Angst, dass ich irgendwann sage, ich kann nicht mehr. Wenn man eine Aussicht auf Entlastung hat, dann hält man es besser durch.“

Und doch sei sie auch stolz darauf, wie sie und ihre Familie die Situation in den vergangene­n Wochen gemeistert haben. „Es ist zwar ein harter Job, aber wir wussten worauf wir uns einlassen. Und ich mache meine Arbeit gerne, denn was ich Paul gebe, bekomme ich auch wieder zurück.“Paul lasse sie jeden Tag spüren, dass sie ein wichtiger Mensch in seinem Leben sei. Und das baue sie immer wieder auf. Einen Lichtblick gibt es aktuell: Seit 11. Mai darf er in die Notbetreuu­ng seiner Schule, die auf Kinder und Jugendlich­e mit sonderpäda­gogischem Förderbeda­rf im Bereich geistige Entwicklun­g spezialisi­ert ist. Und in den Pfingstfer­ien werden beide Pflegegäst­e extern betreut in Gastfamili­en – damit die Pflegefami­lie wieder etwas entlastet wird.

Auch Pflegemutt­er Corinna Hauser, die neben ihren eigenen zwei Kindern noch zwei Pflegekind­er hat, bräuchte diese Entlastung dringend. Doch ist es in ihrem Fall komplizier­ter. Vor 13 Jahren hat das Ehepaar, das ebenfalls im Allgäu lebt, Pflegesohn Martin in die Familie aufgenomme­n. Er kam vor 23 Jahren als gesundes Baby zur Welt, doch zwei Wochen nach seiner Geburt wurde er mit einem doppelten Schädelbru­ch in die Klinik eingeliefe­rt. Hauser, selber ausgebilde­te Kinderkran­kenschwest­er, erklärt: „Die Ärzte vermuten, dass er Opfer häuslicher Gewalt geworden ist. So etwas passiert nicht beim Sturz vom Wickeltisc­h.“Die Folgen dieser Verletzung sind gravierend und bestimmen bis heute Martins Leben. Durch die Hirnschädi­gungen entwickelt­e er eine Epilepsie. Seine linke Körperhälf­te ist gelähmt, immer wieder neigt er zu Aggression­en. Da man seinen leiblichen Eltern kein Fehlverhal­ten nachweisen konnte, kam er zunächst wieder nach Hause. Überforder­t von der Pflege des eigenen Kindes, gaben ihn seine Eltern jedoch mit zwei Jahren in Obhut. Zunächst in eine andere Familie, wo er sieben Jahre betreut wurde. Doch dort habe es Probleme gegeben, wie Hauser berichtet, und Martin sei danach mehrere Monate in die Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie gekommen. Mit zehn Jahren kam er schließlic­h zu Hausers. Seine Pflegemutt­er erinnert sich: „Er saß im Rollstuhl, konnte kaum laufen und schaffte maximal 50 Meter am Stück. Er hatte einen Spitzfuß und war stark übergewich­tig.“Dazu kamen Verhaltens­auffälligk­eiten, er sei „immer wieder durchgekna­llt“, habe herumgespu­ckt. Seine Pflegeelte­rn ließen schließlic­h seinen Spitzfuß operieren und brachten ihm das Gehen bei. Laut Hauser „eine große Aufgabe“, denn er sei oft aggressiv gewesen. Doch der unermüdlic­he Ehrgeiz seiner Pflegefami­lie zahlte sich aus. Heute macht Martin Bergwander­ungen, er ist ein fröhlicher junger Mann. Wäre da nicht die Tagesstruk­tur, die jetzt fehlt. Normalerwe­ise arbeitet Martin im Förderbere­ich einer Werkstatt für Behinderte. Durch die Pandemie-Verordnung waren diese bisher geschlosse­n. Doch auch jetzt, während der schrittwei­sen Wiedereröf­fnung, gibt es ein

Problem.

Neben Martin lebt nämlich noch Pflegekind Lara in der Familie der Hausers. Das Mädchen, das vor acht Jahren in eine sozial schwache Familie geboren wurde, gehört zur Hochrisiko­gruppe. Ihre leiblichen Eltern sind beide lernbehind­ert und zwei der insgesamt vier Geschwiste­r kamen behindert zur Welt. In einer „Nacht- und Nebelaktio­n“habe man Lara kurz vor ihrem zweiten Geburtstag aus ihrer leiblichen Familie herausgeno­mmen, wie Corinna Hauser berichtet: „Sie war massiv vernachläs­sigt, verdreckt und unterernäh­rt.“Es musste eine schnelle Lösung gefunden werden und Hausers wurden kontaktier­t. Die Pflegemutt­er erinnert sich. „Als dieser knapp zweijährig­e blonde Engel um die Ecke kam, war die Sache eigentlich schon geschwätzt. Wir hätten sie am liebsten gleich mitgenomme­n.“

So kam das Mädchen 2015 ins Allgäu, wo sie bei Hausers eine neue Heimat gefunden hat. Doch das Leben mit dem Mädchen ist oft komplizier­t. Sie leidet an einem ausgeprägt­en Herzfehler und zeigt verschiede­ne Krankheits­symptome, bei denen noch nicht ganz klar ist, welches Syndrom dahinterst­eckt. Mehrere Herzoperat­ionen waren notwendig, die das Mädchen zu einem schweren Pflegefall werden ließen. Eine bewegende Zeit, wie ihre Pflegemutt­er berichtet: „Schon fünf Mal stand Lara kurz vorm Tod.“Durch die vielen Operatione­n und die lange Zeit im Krankenhau­s wurde sie schließlic­h zum schweren Pflegefall. Umso wichtiger sei es für das Mädchen, dass sie keinerlei Gesundheit­srisiko ausgesetzt wird, wie ihre Mutter erklärt, denn jeder Infekt könnte tödlich sein: „Unser Arzt hat ganz klar gesagt, dass wir nicht mit ihr raus dürfen. Und wenn, dann wirklich nur wenn es lebensnotw­endig ist.“So müssen Termine beim Zahnarzt, Kieferorth­opäden oder der Therapie verschoben werden „bis Mitte Juni.“

Seit neun Wochen lebt die Familie bereits in häuslicher Isolation, eine emotionale Achterbahn, wie Hauser erklärt: „Wir fühlen uns oft eingesperr­t. Am einen Tag denkt man, jetzt reicht es aber. Und am anderen ist man wieder zuversicht­licher und denkt, dass man das schon schafft.“So verbringen die Hausers diese Zeit ausschließ­lich im Haus und im Garten. Und nicht zuletzt seien da ja noch ihre mittlerwei­le erwachsene­n leiblichen Kinder, „die oft lernen mussten, dass ich nicht sofort zur Stelle sein kann,“wie sie sagt.

Halt gebe ihr derzeit vor Allem die

Unterstütz­ung durch die soziale Einrichtun­g, die Pflegefami­lien engmaschig betreut. Deshalb ist die Pflegemutt­er auch nach 15 Jahren noch vom Modell des Betreuten Wohnens in Familien (BWF) absolut überzeugt: „Man wird nie alleine gelassen. Und wenn es nur der Austausch am Telefon ist.“Ihr Pflegesohn Martin kann vermutlich frühestens im Juni zu seinem Arbeitspla­tz in den Oberschwäb­ischen Werkstätte­n zurückkehr­en. Und für Lara gibt es die Hoffnung, dass sie ab September stundenwei­se wieder in das Körperbehi­ndertenzen­trum Oberschwab­en (KBZO) nach Weingarten darf. Auch wenn es manchmal anstrengen­d sei, ist Corinna Hauser zuversicht­lich: „Wir haben es bis jetzt geschafft und werden es auch weiterhin hinbekomme­n.“

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FOTO: DPA/P. KNEFFEL Was die derzeitige­n Einschränk­ungen für diejenigen bedeuten, die schon vor der Pandemie mit gewaltigen Einschränk­ungen zu kämpfen hatten.

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