„Wir fühlen uns oft eingesperrt“
Was die Corona–Zeit für diejenigen bedeutet, die ohnehin mit gewaltigen Einschränkungen kämpfen
- Die Corona-Krise ist für viele Menschen eine belastende Zeit. Doch während viele Familien die Jonglage zwischen Homeoffice, Unterricht zuhause und dem Wegfall üblicher Alltagsstrukturen irgendwie hinbekommen, gibt es auch Familien, für die die vergangenen Wochen eine besonders harte Belastungsprobe waren. Zwei Beispiele aus der Region.
Familie Müller und Familie Hauser (alle Namen v. d. Red. geändert) leben beide im Allgäu. Sie haben sich vor langer Zeit schon dazu entschlossen, Pflegekinder mit massiven Handicaps bei sich aufzunehmen. Diese Familien trifft der Verlust jeglicher Tagesstruktur und Entlastung mehr als viele andere. Denn das Leben mit teilweise mehrfach behinderten Pflegekindern, die oftmals schlimmste Traumatisierungen hinter sich haben, ist eine Herausforderung auf vielen Ebenen.
Paul ist eines dieser Pflegekinder. Er ist zehn Jahre alt und heißt eigentlich anders. Aber um seine Geschichte erzählen zu können, muss man sehr persönliche Stellen seines Lebens betrachten. Es geht um die Themen Missbrauch, Vernachlässigung und Mangelernährung durch seine leiblichen Eltern, bei denen er die ersten Lebensjahre verbracht hat. Diese Jahre haben ihn stark traumatisiert. So stark, dass die erste Pflegefamilie, die ihn aufgenommen hatte, mit dem Verhalten des Jungen überfordert war und ihn wieder in amtliche Obhut geben musste.
Doch seit dreieinhalb Jahren hat der Junge ein neues Zuhause gefunden bei Menschen, die ihn akzeptieren, wie er ist und ihm Geborgenheit geben. Paul lebt als Pflegekind bei Angela und Thomas Müller, die vier leibliche Kinder haben. Angela Müller erzählt: „Wir hätten gerne noch ein weiteres Kind gehabt. Ich mag es, wenn was los ist zuhause.“Deshalb entschlossen sie sich, ein Pflegekind aufzunehmen und Paul kam in die Familie. Was dem Jungen in seinen ersten Lebensjahren widerfahren ist, weiß seine Pflegemutter nicht genau, doch es gibt eine ganze Reihe von Diagnosen: Diabetes, Bindungsstörung mit Enthemmung, Störung des Sozialverhaltens, Tic-Störung, geistige Behinderung mit deutlicher Verhaltensstörung, Verdacht auf körperliche Kindesmisshandlung und auf sexuellen Missbrauch in der frühen Kindheit.
Letzteres bleibe jedoch ein Verdacht, weil bei Paul aufgrund seiner geistigen Behinderung keine klassischen psychotherapeutischen Methoden greifen, wie seine Pflegemutter erklärt: „Er ist kognitiv dazu einfach nicht in der Lage, weil er geistig auf dem Stand eines Kleinkindes ist.“Der Junge hat sich durch seine traumatischen Erfahrungen Verhaltensweisen angeeignet, die ein Zusammenleben mit ihm oft schwierig machen. Zum Beispiel ein überbordendes Sprachverhalten. Müller: „Er redet den ganzen Tag, allerdings ohne auf die Antworten einzugehen.“Er mache auch alles, um im Mittelpunkt zu stehen, sowohl positiv als auch negativ. Wenn er nicht im Mittelpunkt steht, werde er provokativ oder zerstörerisch, wie seine Pflegemutter erklärt.
Dazu komme sein oft paradoxes Verhalten. Zum Beispiel, als sich seine Pflegemutter an einer Glastür verletzt und eine stark blutende Wunde an der Stirn zugezogen hatte. Müller: „Da hat Paul nur gelacht.“Laut Kinderund Jugendpsychologin verhalte er sich so, weil er als kleines Kind selbst nie Mitgefühl erfahren hat. Müller: „Das ist sein Selbstschutz, um nicht auf seine eigenen Gefühle zu stoßen.“Massive motorische und verbale Tics, also nicht steuerbare Zuckungen und Äußerungen, erschweren das Zusammenleben mit ihm zusätzlich. Diese Tics hatten irgendwann so massiv zugenommen, dass Paul schließlich in eine Tagesklinik musste – und zwar um die Familie zu entlasten. Dort sagte man den Müllers, dass der Junge einer Pflegefamilie „eigentlich nicht zumutbar ist“. Doch die Müllers haben darum gekämpft, dass er wieder zu ihnen darf, weil er zum ersten Mal im Leben jemanden hat, der ihm Stabilität gebe. Andrea Müller: „Das werde ich ihm nie wegnehmen. Ich werde immer für ihn da sein und wir wollen ihm ein gutes Zuhause geben, um seinen schweren Start ins Leben auszugleichen.“Pflegefamilien, die ein schwer traumatisiertes Kind wie Paul aufnehmen, brauchen im Vergleich zu anderen Betreuungsverhältnissen mehr Entlastung, damit das Familienleben überhaupt machbar ist. Doch durch Corona sind alle Maßnahmen weggefallen, die die Pflegefamilie entlasten können. Keine Schule, keine Ferienbetreuung und sämtliche integrativen Freizeitangebote fallen ebenso weg.
Neben Paul hat Familie Müller eine taubstumme ältere Dame in die Familie aufgenommen, die ebenso in ihrem Haus lebt. Diese gehört, bedingt durch ihr Alter von 73 Jahren und eine Diabeteserkrankung, zur Risikogruppe. Durch den Wegfall sämtlicher Unterstützung war Angela
Müller deshalb in den vergangenen Wochen oft verzweifelt: „Ich habe Angst, dass ich irgendwann sage, ich kann nicht mehr. Wenn man eine Aussicht auf Entlastung hat, dann hält man es besser durch.“
Und doch sei sie auch stolz darauf, wie sie und ihre Familie die Situation in den vergangenen Wochen gemeistert haben. „Es ist zwar ein harter Job, aber wir wussten worauf wir uns einlassen. Und ich mache meine Arbeit gerne, denn was ich Paul gebe, bekomme ich auch wieder zurück.“Paul lasse sie jeden Tag spüren, dass sie ein wichtiger Mensch in seinem Leben sei. Und das baue sie immer wieder auf. Einen Lichtblick gibt es aktuell: Seit 11. Mai darf er in die Notbetreuung seiner Schule, die auf Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich geistige Entwicklung spezialisiert ist. Und in den Pfingstferien werden beide Pflegegäste extern betreut in Gastfamilien – damit die Pflegefamilie wieder etwas entlastet wird.
Auch Pflegemutter Corinna Hauser, die neben ihren eigenen zwei Kindern noch zwei Pflegekinder hat, bräuchte diese Entlastung dringend. Doch ist es in ihrem Fall komplizierter. Vor 13 Jahren hat das Ehepaar, das ebenfalls im Allgäu lebt, Pflegesohn Martin in die Familie aufgenommen. Er kam vor 23 Jahren als gesundes Baby zur Welt, doch zwei Wochen nach seiner Geburt wurde er mit einem doppelten Schädelbruch in die Klinik eingeliefert. Hauser, selber ausgebildete Kinderkrankenschwester, erklärt: „Die Ärzte vermuten, dass er Opfer häuslicher Gewalt geworden ist. So etwas passiert nicht beim Sturz vom Wickeltisch.“Die Folgen dieser Verletzung sind gravierend und bestimmen bis heute Martins Leben. Durch die Hirnschädigungen entwickelte er eine Epilepsie. Seine linke Körperhälfte ist gelähmt, immer wieder neigt er zu Aggressionen. Da man seinen leiblichen Eltern kein Fehlverhalten nachweisen konnte, kam er zunächst wieder nach Hause. Überfordert von der Pflege des eigenen Kindes, gaben ihn seine Eltern jedoch mit zwei Jahren in Obhut. Zunächst in eine andere Familie, wo er sieben Jahre betreut wurde. Doch dort habe es Probleme gegeben, wie Hauser berichtet, und Martin sei danach mehrere Monate in die Kinder- und Jugendpsychiatrie gekommen. Mit zehn Jahren kam er schließlich zu Hausers. Seine Pflegemutter erinnert sich: „Er saß im Rollstuhl, konnte kaum laufen und schaffte maximal 50 Meter am Stück. Er hatte einen Spitzfuß und war stark übergewichtig.“Dazu kamen Verhaltensauffälligkeiten, er sei „immer wieder durchgeknallt“, habe herumgespuckt. Seine Pflegeeltern ließen schließlich seinen Spitzfuß operieren und brachten ihm das Gehen bei. Laut Hauser „eine große Aufgabe“, denn er sei oft aggressiv gewesen. Doch der unermüdliche Ehrgeiz seiner Pflegefamilie zahlte sich aus. Heute macht Martin Bergwanderungen, er ist ein fröhlicher junger Mann. Wäre da nicht die Tagesstruktur, die jetzt fehlt. Normalerweise arbeitet Martin im Förderbereich einer Werkstatt für Behinderte. Durch die Pandemie-Verordnung waren diese bisher geschlossen. Doch auch jetzt, während der schrittweisen Wiedereröffnung, gibt es ein
Problem.
Neben Martin lebt nämlich noch Pflegekind Lara in der Familie der Hausers. Das Mädchen, das vor acht Jahren in eine sozial schwache Familie geboren wurde, gehört zur Hochrisikogruppe. Ihre leiblichen Eltern sind beide lernbehindert und zwei der insgesamt vier Geschwister kamen behindert zur Welt. In einer „Nacht- und Nebelaktion“habe man Lara kurz vor ihrem zweiten Geburtstag aus ihrer leiblichen Familie herausgenommen, wie Corinna Hauser berichtet: „Sie war massiv vernachlässigt, verdreckt und unterernährt.“Es musste eine schnelle Lösung gefunden werden und Hausers wurden kontaktiert. Die Pflegemutter erinnert sich. „Als dieser knapp zweijährige blonde Engel um die Ecke kam, war die Sache eigentlich schon geschwätzt. Wir hätten sie am liebsten gleich mitgenommen.“
So kam das Mädchen 2015 ins Allgäu, wo sie bei Hausers eine neue Heimat gefunden hat. Doch das Leben mit dem Mädchen ist oft kompliziert. Sie leidet an einem ausgeprägten Herzfehler und zeigt verschiedene Krankheitssymptome, bei denen noch nicht ganz klar ist, welches Syndrom dahintersteckt. Mehrere Herzoperationen waren notwendig, die das Mädchen zu einem schweren Pflegefall werden ließen. Eine bewegende Zeit, wie ihre Pflegemutter berichtet: „Schon fünf Mal stand Lara kurz vorm Tod.“Durch die vielen Operationen und die lange Zeit im Krankenhaus wurde sie schließlich zum schweren Pflegefall. Umso wichtiger sei es für das Mädchen, dass sie keinerlei Gesundheitsrisiko ausgesetzt wird, wie ihre Mutter erklärt, denn jeder Infekt könnte tödlich sein: „Unser Arzt hat ganz klar gesagt, dass wir nicht mit ihr raus dürfen. Und wenn, dann wirklich nur wenn es lebensnotwendig ist.“So müssen Termine beim Zahnarzt, Kieferorthopäden oder der Therapie verschoben werden „bis Mitte Juni.“
Seit neun Wochen lebt die Familie bereits in häuslicher Isolation, eine emotionale Achterbahn, wie Hauser erklärt: „Wir fühlen uns oft eingesperrt. Am einen Tag denkt man, jetzt reicht es aber. Und am anderen ist man wieder zuversichtlicher und denkt, dass man das schon schafft.“So verbringen die Hausers diese Zeit ausschließlich im Haus und im Garten. Und nicht zuletzt seien da ja noch ihre mittlerweile erwachsenen leiblichen Kinder, „die oft lernen mussten, dass ich nicht sofort zur Stelle sein kann,“wie sie sagt.
Halt gebe ihr derzeit vor Allem die
Unterstützung durch die soziale Einrichtung, die Pflegefamilien engmaschig betreut. Deshalb ist die Pflegemutter auch nach 15 Jahren noch vom Modell des Betreuten Wohnens in Familien (BWF) absolut überzeugt: „Man wird nie alleine gelassen. Und wenn es nur der Austausch am Telefon ist.“Ihr Pflegesohn Martin kann vermutlich frühestens im Juni zu seinem Arbeitsplatz in den Oberschwäbischen Werkstätten zurückkehren. Und für Lara gibt es die Hoffnung, dass sie ab September stundenweise wieder in das Körperbehindertenzentrum Oberschwaben (KBZO) nach Weingarten darf. Auch wenn es manchmal anstrengend sei, ist Corinna Hauser zuversichtlich: „Wir haben es bis jetzt geschafft und werden es auch weiterhin hinbekommen.“