Auf dem Rücken der Kulis
Wie Kolonialrassismus im 19. Jahrhundert einige Lindauer auf Sumatra reich werden ließ
- Vor gut 150 Jahren fuhren der 1838 in der damals selbständigen Gemeinde Äschach geborene Kaufmann Hermann Näher (1838 - 1908) und sein Schweizer Kompagnon, Karl Fürchtegott Grob-Zundel aus Zürich, über den soeben eröffneten Suez-Kanal mit einem niederländischen Postschiff nach Sumatra. Beide hatten sich in Messina auf Sizilien kennen gelernt und von der Möglichkeit gehört, als Europäer auf der indonesischen Insel Sumatra in wenigen Jahren ungewöhnlich reich werden zu können.
Seit 1610 beherrschten niederländische Kaufleute der Holländischen Ost-Indien-Gesellschaft immer größere Teile der indonesischen Inseln. 1863 hatten niederländische Kaufleute erfolgreich damit begonnen, in Nachahmung des landwirtschaftlichen Anbaus der einheimischen Bauern auf Nordostsumatra im Sultanat Deli in großem Stile Tabak anbauen zu lassen. Die Qualität dortiger Tabake war außergewöhnlich gut und erzielte auf den europäischen Börsen hohe Gewinnmargen.
Hermann Näher und Karl Grob arbeiteten zunächst in der Verwaltung auf den Muskat-Plantagen des Schweizers Breker mit, bevor sie zwei Jahre später für ihre eigene Firma „Naeher & Grob“eine erste eigene Lizenz zur Anlage einer Tabakplantage erwerben konnten.
1871 waren von den 38 kolonialistischen Europäern in der Region Deli rund um das damalige Dorf Medan 17 Niederländer, sechs Deutsche, vier Briten und neun Schweizer. Die damals größte Tabakplantagenfirma war die holländische „Senembah Maatschappij“mit Sitz in Deli und Amsterdam.
Willkürliches, rassistisch eingefärbtes Verhalten etlicher europäischer Plantagenbesitzer (Pflanzer), ihrer Administratoren (Verwalter) sowie ihrer Aufseher gehörte zum traurigen Alltag der Tabakarbeiter, von denen ein Großteil als chinesische „Kulis“, angeheuert worden waren. Ingenieur Otto Speidel aus Stuttgart-Cannstatt berichtete 1890 nach seiner Rückkehr darüber: „Ist der Kuli jedoch am Ende des ersten Jahres außer Schuld, so ist er frei und kann auf einer anderen Plantage Arbeit suchen. Die Pflanzer sorgen jedoch schon dafür, dass dieses ‚Außer-Schuld-kommen’ dem Kuli nicht so leicht gemacht wird. Denn es steht dem Pflanzer laut Kontrakt das Recht zu, über den Kuli eine Geldstrafe von nicht höher als zwei Dollar wegen schlechter Arbeit etc. zu verhängen, und so kommt es nun häufig gegen Ende des Jahres vor, dass die Pflanzer besonders von kleineren Privatunternehmungen hiervon Gebrauch machen, alle Arbeit tadeln, den Kulis Strafe an Geld zu diktieren und so die Leute in Schuld halten. Allerdings ist der Kuli am Ende des dritten Jahres frei, ob er Schuld hat oder nicht (…). Läuft der Chinese weg, was sehr häufig vorkommt, besonders bei neuen Leuten, welche die harte Arbeit in Sumpf und Morast nicht gewöhnt sind, so kann er wieder eingefangen werden, und auf seinen Kopf wird ein Preis von fünf bis 15 Dollar gesetzt.“
Die zeitgenössischen Gesellschaftswissenschaften bezeichneten dies als „versteckte Sklaverei“. Für die europäischen Plantagenbesitzer und ihre Verwalter rentierten sich solcherlei Methoden jedoch.
Als Hermann Näher und Karl Grob 1879 nach Mitteleuropa zurückkehrten, waren sie nach nur zehn Jahren reiche Männer geworden. Doch auch Näher blieb bis 1890 noch Mitbesitzer der gemeinsamen Firma und profitierte von deren hohen jährlichen Dividenden, auch später als Aktionär, nachdem die eigene Firma längst an die „Senembah Maatschappij“verkauft worden war.
Weitere Lindauer, die Näher nach Sumatra nachgefolgt waren, konnten ihren Wohlstand durch die Arbeit der Kulis ebenso rasch mehren, so beispielsweise Richard von Seutter. Dazu berichtet die Familienchronik: „1878 ging Richard von Seutter nach Tandjong-Morawa auf Sumatra, wo er als Direktor bis 1890 eine Tabakplantage der Firma Grob & Näher leitete. Bis weit in die 1920er-Jahre hinein wurden Gewinnbeteiligungen in holländischen Gulden ausbezahlt, was der Familie vor allem während der Inflation in Deutschland zugute kam. Nach seiner Heirat in Wien mit Helene Kolbe (1869 - 1933) kehrte Richard von Seutter 1890 nach Europa zurück (…). Er verdiente in kurzer Zeit in Südostasien ein Vermögen, um sich dann mit 37 Jahren als Privatier in Lindau niederzulassen.“
Von 1891 bis 1893 ließ er sich unter Leitung des Münchner Architekten Eugen Drollinger am Schachener Ufer die Villa Elena erbauen. Hermann Näher hatte sich 1887 bis 1889 die Villa Holdereggen (heute die städtische Musikschule) erbauen und 1894 das Aeschacher Gasthaus „Rosenhof“zur Villa Rosenhof erweitern und umbauen lassen.
Ein Teil der „Völkerkundesammlung“des Lindauer Bodensee-Gymnasiums besteht aus Geschenken von ehedem auf Sumatra rasch reich gewordenen Lindauer Kaufleuten. Die katastrophalen kolonialrassistischen Arbeitsverhältnisse hinter diesen Artefakten werden meist nicht thematisiert.