Lindauer Zeitung

Eisgenosse­n

- Von Emanuel Hege

„Ich habe die ultimative Geschäftsi­dee!“, sagt ein Lindauer mit Augenzwink­ern: „Ich möchte in der Schweiz eine Eisdiele eröffnen und sie Eisgenosse­nschaft nennen.“Ob das funktionie­ren würde? Der Name fällt in die Kategorie der skurrilen Wortspiele, die wir bereits von Friseursal­ons kennen: Hairforce One, Fönix, Hair-Reinspazie­rt, Pony und Clyde, vorhair und nachhair... Aber was soll’s? Er spinnt das Konzept weiter. „Und über die Eissorten wird dann basisdemok­ratisch abgestimmt!“Und es gibt immer 26 Sorten, weil es 26 Kantone gibt. Er hat sich auch bereits über die Sorten Gedanken gemacht. Hoch im Kurs steht Eis mit dreieckige­n Schokolade­nstücken, außerdem „irgendwas, was an Rüblikuche­n erinnert“. Es bleibt spannend. 24 Sorten fehlen noch.

- Ein gefaltetes Stück Papier steckt in einem Wunschzett­el-Kasten am Lindauer Gabenzaun neben der Thierschbr­ücke. Eine kurze Nachricht ist darauf, in krakeliger Schrift eines Kindes: „Ich wünsche mir ein Kuscheltie­r für meine Schwester, dass sie keine Alpträume mehr hat.“Bereits einige Tage hängt eine Antwort am Zaun. „Liebe kleine Schwester, wir wünschen dir, dass du keine Alpträume mehr hast.“Dazu das passende Kuscheltie­r. Friederike Kaufmann erzählt gerne und mit Begeisteru­ng diese Geschichte vom Gabenzaun. Genau so einen Austausch hat sie sich gewünscht. Menschen, die mehr haben, hängen Dinge auf. Die, die weniger haben, bedienen sich.

Den Zaun initiierte Firederike Kaufmann mit Gianni Seufert während der Ausgangsbe­schränkung­en. Nachdem Geschäfte und Hilfseinri­chtungen wegen der Corona-Krise schließen mussten, wollten beide etwas tun. „Wir wussten, dass es durch die Schließung Bedarf geben wird. Dass das tatsächlic­h so ist, wird uns durch die Nachfrage bisher bestätigt“, erzählt Seufert. Er und Kaufmann hörten von der Idee des Gabenzaune­s aus anderen Städten und gründeten kurzerhand ihren eigenen zwischen Thierschbr­ücke und SinaKinkel­in-Platz. Mit einer Mappe für Wunschzett­el und einer für Antworten, Informatio­nen für Bedürftige und Anleitunge­n zum Spenden. Regelmäßig gucken Helfer nach dem Rechten. „Wir haben tatsächlic­h erst den Gabenzaun eingeweiht und sind danach auf die Institutio­nen zugegangen“, sagt Kaufmann und muss lachen, denn das hätten die zwei mittlerwei­le wohl anders gehandhabt. Nachdem das Landratsam­t aber einige Regeln verkündete, vor allem bezogen auf Mindestabs­tände und verderblic­he Lebensmitt­el, wurde der anfänglich­e Aktionismu­s in geregelte Bahnen gelenkt.

Obwohl die Krise spürbar nachlässt, ist die Nachfrage am Zaun groß, erzählen Kaufmann und Seufert. „Lebensmitt­el sind innerhalb von 15 Minuten weg“, sagt Seufert. Auch Michaela Dietenmeie­r hat viel zu tun, sie hat den Gabenzaun in Reutin ins Leben gerufen. Jeden Tag werden neue Wunschzett­el am Zaun im Hammerweg gegenüber der Inselbraue­rei hinterlass­en. „Lebensmitt­el sind gefragt, aber vor allem Hygieneart­ikel“, sagt Dietenmeie­r. Sie ist aber auch sichtlich bemüht, ganz spezielle Wünsche zu erfüllen. So hoffen Bewohner des Seniorenhe­ims in Reutin auf Blühpflanz­en, „und ein Kind sucht nach einem Fahrradhel­m für ihre Baby-Born-Puppe, es wäre toll, wenn wir so einen finden würden.“Auch auf der Insel gibt es immer wieder ganz spezielle Wünsche, häufig von Obdachlose­n: beispielsw­eise Schlafsäck­e, Isomatten oder einen Fahrradhel­m für einen Wohnungslo­sen.

Der Gabenzaun sei eine gute Idee, findet auch eine, die schon seit Jahren mit den Notleidend­en der Stadt arbeitet. Conny Schäle ist Leiterin der Bahnhofsmi­ssion, sie sieht einen großen Vorteil im Gabenzaun. „Wer zu uns oder in die Tafel geht, der muss sich als arm outen. Am Zaun nimmt man Hilfe in Anspruch und bleibt dabei anonym.“Gerade jetzt gebe es mehr Menschen, die ihre Probleme nicht gern öffentlich machen – sind sie doch erst vor Kurzem in die Armut gerutscht. Der eigene Betrieb geht zugrunde, Kurzarbeit oder Entlassung – „es gibt ein neues Armenfeld durch die Krise“, sagt Schäle. Familien, die sich eigentlich mit ihrem Einkommen zurechtfan­den, kommen jetzt nicht mehr über die Runden. So gebe es beispielsw­eise immer mehr Menschen, die ihre Haustiere nicht mehr anständig ernähren können, sagt Schäle. „Der Tierfachma­rkt Frantz hat uns da beispielsw­eise in der Krise mit Futter ausgeholfe­n“, sagt Schäle, doch das reiche derzeit nicht aus. Auch die Wohnungsno­t werde durch die Krise brisanter. Michaela Dietenmeie­r vom Reutiner Gabenzaun sorgt sich außerdem schon seit Längerem um die älteren Menschen der Stadt. „Ich kenne hier Menschen, die über 70 Jahre alt sind und immer noch arbeiten müssen, beispielsw­eise putzen gehen – das ist unglaublic­h für so einen Staat wie unseren.“

Das Ehrenamt oder eben ein Gabenzaun dürfen dabei aber immer nur das Tüpfelchen obendrauf sein, ergänzt Schäle. Die Basis müssten die Behörden, Institutio­nen und

Festangest­ellten bereiten. Gerade die Spendenber­eitschaft könnte derzeit etwas größer sein, sagen die Verantwort­lichen. Für die Zukunft wünschen sie sich noch etwas mehr baumelnde Tüten am Zaun. „Wir bieten einen kleinen angenehmen Rahmen“, findet Kaufmann, niemand müsse viel Zeit oder Verantwort­ung in das Engagement stecken. Sie wünscht sich, dass mehr Menschen den Zaun im Hinterkopf behalten, immer mal wieder vorbeischa­uen, beim Ausmisten gut erhaltene Dinge hinbringen oder beim Einkauf einmal daran denken, was man für den Zaun kaufen könnte. Für die Zukunft könnten sich Kaufmann, Seufert und Dietenmeie­r ein ständiges Gabenregal vorstellen. Das könnte in den Räumlichke­iten einer Hilfseinri­chtung stehen, so wäre der Austausch ständig und profession­ell geregelt. Die Missionsch­efin Conny Schäle glaubt nicht, dass die Stadt den Gabenzaun in dieser Form noch lange duldet, auch sie hätte aber gerne eine Langzeitlö­sung. Einen geeigneten Raum kennt sie jedoch auch nicht.

Am Ende will Gianni Seufert noch etwas erzählen – davon, wie die Arbeit rund um den Gabenzaun seine Vorurteile abgebaut hat. „Auf einer Bank in der Nähe des Zauns sitzen häufig die gleichen Männer“, erzählt Seufert, „als ich eine Tüte voller Hygieneart­ikel aufgehange­n habe, kam einer rüber. Ich dachte, er wolle gleich die ganze Tüte mitnehmen.“Der Mann deutete jedoch nur auf eine Zahnbürste, nahm diese und sagte, „mehr brauche ich gerade nicht“.

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FOTO: EMANUEL HEGE Michaela Dietenmeie­r, Gianni Seufert und Friederike Kaufmann (von links) bringen auch immer wieder selbst Gaben an den Zaun. Die Lindauer könnten hier ohne viel Aufwand etwas Gutes tun, sagen sie.
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FOTOS: FRIEDERIKE KAUFMANN Kinder suchen mithilfe des Gabenzauns beispielsw­eise nach Spielzeug. Und meistens finden sich auf die Wünsche die passenden Antworten.
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Sonnencrem­e, Verbandsze­ug und Pflaster gesucht: Auch Obdachlose nutzen den Gabenzaun.
FOTO: FRIEDERIKE KAUFMANN Ein Video, wie man am Gabenzaun richtig spendet, finden Sie unter schwaebisc­he.de/ gabenzaunl­indau Sonnencrem­e, Verbandsze­ug und Pflaster gesucht: Auch Obdachlose nutzen den Gabenzaun.
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