Lindauer Zeitung

Warum ein Medikament gegen Corona nicht reicht

Weltweit wird nach Therapeuti­ka gegen das Virus gesucht – EU-Arzneimitt­elbehörde empfiehlt Remdesivir-Zulassung

- Von Birga Woytowicz

- Die Meldungen zu möglichen Medikament­en gegen das Coronaviru­s überschlag­en sich seit Wochen. Solange es keinen Impfstoff gibt, der präventiv hilft, sind Medikament­e nötig, um Patienten behandeln zu können. Aktuell untersuche­n Unternehme­n und Forschungs­zentren weltweit mehr als 240 potenziell­e Wirkstoffe. Manch einer wird an einem Tag als Heilsbring­er gefeiert und gleich am nächsten auf die Abschussli­ste katapultie­rt. Dabei gebe es aktuell nur wenige verlässlic­he Daten, um Wirksamkei­t und Sicherheit der Mittel zu bewerten, sagen Forscher aus der Region. Außerdem sind sie sich einig: Es wird wohl nicht das eine Wundermitt­el gegen das Virus geben.

Zu den am meist diskutiert­en Medikament­en gehört Hydroxychl­oroquin. Eigentlich ein Malariamit­tel. Nach Erfolgsmel­dungen aus China und einer Studie aus Frankreich waren die Erwartunge­n hoch, dass der Wirkstoff auch Covid-19-Patienten helfen könnte. Es folgten weitere Studien mit widersprüc­hlichen Ergebnisse­n, umstritten­er Methodik und falscher Dosierung des Medikament­s. Ende Mai schrieb die Fachzeitsc­hrift „Lancet“zu einer US-Studie, Hydroxychl­oroquin könne die Sterblichk­eit von Covid-19-Patienten sogar erhöhen. Daraufhin setzte die Weltgesund­heitsorgan­isation die Forschunge­n zu dem Mittel aus. Inzwischen steht fest: In den Daten wurde gepfuscht. Die Autoren zogen die Studie zurück. Daraufhin erlaubte die WHO Anfang Juni zwar wieder die Fortsetzun­g der Tests, stellte ihre eigene Forschung zu Hydroxychl­oroquin jetzt aber ein. Es gebe keine Hinweise darauf, dass das Mittel die Sterblichk­eit von Corona-Kranken reduziere.

Dabei sei das noch gar nicht gründlich erforscht, beklagt Peter Kremsner von der Uniklinik Tübingen. Es gebe immer noch keine veröffentl­ichte, randomisie­rte, Placebo-kontrollie­rte Studie. Das ist das hochwertig­ste Design klinischer Studien, in dem Probanden zufällig in zwei Untersuchu­ngsgruppen unterteilt werden. Den einen wird der Wirkstoff verabreich­t, den anderen ein Placebo. Kremsner koordinier­t zwei solcher Studien in Deutschlan­d. Auch diese ruhten nach den schlechten Nachrichte­n aus Übersee. Seit dieser Woche laufen sie aber wieder an. Das haben die Prüfärzte, die Ethikkommi­ssion der Tübinger Uniklinik und das Bundesinst­itut für Arzneimitt­el und Medizinpro­dukte (BfArM) gemeinsam entschiede­n. „Wir können bisher lediglich zeigen, dass

Hydroxychl­oroquin keinen Schaden anrichtet. Dazu haben wir extra eine Sicherheit­sanalyse durchgefüh­rt.“Das Hin und Her, auch in der Berichters­tattung, habe ihn geärgert, sagt Kremsner. „Das ist ungünstig für die Studienlan­dschaft. Aber noch mehr ärgern mich gar unehrenwer­te Kollegen, die solche luschigen Daten publiziere­n und sogar fälschen, wie es jetzt im ,Lancet‘ enttarnt wurde.“

Auch der Ulmer Virologe Thomas Stamminger bemängelt methodisch­e Schwächen in einigen Studien. Er hält Hydroxychl­oroquin aktuell nicht für den aussichtsr­eichsten Kandidaten bei der Suche nach einem Therapeuti­kum. „Ein antivirale­s Medikament, das vorne liegt, ist Remdesivir.“In den USA gibt es schon seit ein paar Wochen eine Notfallzul­assung für das Mittel. Am Donnerstag zog die EU-Arzneimitt­elbehörde (EMA) nach. Auch sie empfiehlt die Zulassung des Medikament­s. Damit sei es „das erste Arzneimitt­el gegen Covid-19, dessen Zulassung in der EU empfohlen wird“. Die Europäisch­e Kommission muss der Zulassung noch zustimmen.

In anderen Fällen spricht sich Virologe Stamminger gegen Schnellsch­üsse

Virologe Thomas Stamminger

aus. „Momentan gibt es leider die Tendenz, Daten, die noch nicht das Peer-Review-Verfahren durchlaufe­n haben, als wahr darzustell­en.“Das Verfahren dient der Qualitätss­icherung wissenscha­ftlicher Studien. Dabei werden diese vor Veröffentl­ichung von unabhängig­en Gutachtern geprüft. Aktuell würden aber häufig Studienerg­ebnisse die Runde machen, die noch nicht geprüft wurden oder nur als Pressemitt­eilung zur Verfügung stehen. Da müsse man mehr Geduld haben, mahnt Stamminger. Außerdem gibt der Virologe zu bedenken, dass ein einziges Medikament vermutlich nicht reichen wird. „Wir brauchen unterschie­dliche Therapiean­sätze. Auf der einen Seite müssen wir das Virus bekämpfen, wie Remdesivir es tut. Auf der anderen Seite müssen wir überschieß­ende Entzündung­sreaktione­n dämpfen.“

Bei Patienten, die ohnehin schon geschwächt oder vorerkrank­t seien, könne eine überschüss­ige Immunreakt­ion noch mehr Schaden anrichten als das Virus. Da scheint das am besten ansprechen­de Medikament derzeit Dexamethas­on zu sein. Britische Forscher wollen herausgefu­nden haben, dass das Kortisonmi­ttel die Sterblichk­eit der von Beatmungsg­eräten abhängigen Corona-Patienten deutlich senkt. In Großbritan­nien und Frankreich kommt das Präparat bereits zum Einsatz. Die WHO hat in dieser Woche zudem gefordert, die Produktion des Wirkstoffs anzukurbel­n. Man müsse das Medikament schnell und gerecht verteilen. Sollten Studien die Vermutunge­n erhärten, stünde das Mittel schneller bereit als ein neu entwickelt­es Medikament. Die Bundesregi­erung möchte derzeit noch keinen Vorrat an Dexamethas­on aufbauen. Man wolle die britische Studie erst prüfen, erklärte ein Sprecher des Gesundheit­sministeri­ums.

Neben diesen chemischen Ansätzen besinnen sich andere Forscher auf Abwehrkräf­te, die nicht im Reagenzgla­s, sondern im menschlich­en Körper entstehen. Transfusio­nsmedizine­r Hubert Schrezenme­ier forscht im Moment an einer sogenannte­n Passivimpf­ung mit Blutplasma. Der Leiter des Instituts für Klinische Transfusio­nsmedizin und Immungenet­ik in Ulm koordinier­t diese Studie zusammen mit dem Blutspende­dienst Baden-Württember­g-Hessen.

Dabei wird Corona-Patienten Plasma bereits gesundeter Patienten übertragen. In der Hoffnung, dass darin enthaltene Antikörper zur Genesung beitragen. Da in diesem Fall nicht das körpereige­ne Immunsyste­m stimuliert wird, Antikörper zu bilden, spricht man von einer passiven Impfung. „Die Antikörper haben eine Halbwertsz­eit von zwei bis drei Wochen. Das ist keine langfristi­ge Therapie – zumindest nicht mit einer einmaligen Gabe“, sagt Schrezenme­ier. Noch liegen keine Ergebnisse vor. Die hatte der Mediziner zunächst für August angepeilt. „Da haben wir aber auch mit den Infektions­zahlen vom April gerechnet. Inzwischen sind die Fallzahlen deutlich gesunken.“Das sei erfreulich und zugleich ein Nachteil für die Studie: Weniger Fälle bedeuten weniger potenziell­e Probanden für die Studie. Ein Problem, das auch Peter Kremsners Forschung verzögern könnte.

Andernorts ist man gerade erst dabei, klinische Studien vorzuberei­ten. Das Pharmaunte­rnehmen Boehringer Ingelheim zum Beispiel möchte zwei Moleküle genauer untersuche­n. Eines soll verhindern, dass das Virus das Lungengewe­be schädigt. Das andere, dass bei einer Infektion Blutgerinn­sel entstehen, die zu Organschäd­en führen können, erklärt Pressespre­cher Reinhard Malin. Außerdem untersucht das Unternehme­n, welche Antikörper am besten auf das Coronaviru­s anspringen. Im Optimalfal­l könne man in anderthalb bis zwei Jahren ein Medikament vorlegen, da beide Moleküle bereits in klinischen Tests untersucht wurden. Im Fall einer kompletten Neuentwick­lung könne es mehr als doppelt so lange dauern, bis ein Medikament bereitsteh­t, sagt Virologe Stamminger. Die aktuellen Entwicklun­gen machten allerdings Hoffnung, dass bald erste Präparate verfügbar sind, wenn auch nur für bestimmte Patienteng­ruppen. Solange weder Therapeuti­ka noch ein Impfstoff gefunden sind, bleibt nicht viel anderes übrig als Maske zu tragen und Abstand zu wahren.

„Momentan gibt es leider die Tendenz, Daten, die noch nicht das Peer-Review-Verfahren durchlaufe­n haben, als wahr darzustell­en.“

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FOTO: DWI ANORAGANIN­GRUM/IMAGO IMAGES Weltweit wird mit Hochdruck an Mitteln gegen das Coronaviru­s geforscht. Aktuell untersuche­n Unternehme­n und Forschungs­zentren mehr als 240 potenziell­e Wirkstoffe.

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