Lindauer Zeitung

Spital-Friedhof gibt seltenen Blick frei

Forscherte­am in Ulm entdeckt bislang 88 Skelette aus dem Mittelalte­r

- Von Thilo Bergmann

- Es ist ein gigantisch­es Fenster in die Vergangenh­eit, das Archäologe­n in Ulm geöffnet haben. 2200 Quadratmet­er groß und sechs Meter tief. Von hier aus ist es nur einen Katzenspru­ng an das Ufer der Donau.

Spezialist­en haben im Bereich Neue Straße direkt an der Innenstadt in mühevoller Handarbeit Mauern, Kanäle, Fliesen, Hörner von Tieren, Scherben und jede Menge Skelette aus dem Mittelalte­r ausgegrabe­n, fotografie­rt und eingetütet – oder sind noch dabei. Eine monatelang­e Aufgabe mit durchaus überrasche­nden Erkenntnis­sen. Diese „stellen ein Zeugnis der reichsstäd­tischen Sozialfürs­orge im Mittelalte­r und der Neuzeit dar“, so das Landesamt für Denkmalpfl­ege.

Auftraggeb­er ist die Evangelisc­he Heimstiftu­ng mit Sitz in Stuttgart. Für 26 Millionen Euro errichtet sie an dieser Stelle den Neubau ihres Seniorenhe­ims Dreifaltig­keitshof – hochmodern und generation­enübergrei­fend. Doch bevor die Bagger rollen können, müssen die Denkmale im Untergrund gesichert werden. So will es das Gesetz, erklärt Jonathan Scheschkew­itz vom Landesamt für Denkmalpfl­ege.

Vom 13. Jahrhunder­t bis zur Zerstörung während des Zweiten Weltkriegs stand an dieser Stelle das Heiliggeis­tspital mit dazugehöri­gem Friedhof, sagt der Wissenscha­ftler beim Vor-Ort-Besuch auf der Baustelle. Dass man bei Grabungen auf die Skelette von Beigesetzt­en stoßen würde, war zu erwarten. Doch das Ausmaß überrascht­e Denkmalpfl­eger Scheschkew­itz. Der Grund: Nach Kriegsende wurde das zerstörte Spital abgerissen und durch einen Neubau ersetzt. Dabei wurde bereits archäologi­sch gearbeitet. Nur eben lange nicht so detaillier­t, wie erwartet.

Deshalb wurden die Grabungen nun auch verlängert. Statt Juni soll erst im September Schluss mit den Nachforsch­ungen sein. Im Boden konnten von den Experten inzwischen Mauern aus verschiede­nen Jahrhunder­ten, die Verlängeru­ng der Stadtmauer aus Kalk und Klinkerste­inen, ein Abwasserka­nal in Richtung Donau und sogar Fachwerkhä­user nachgewies­en werden. Mit historisch­en Stadt- und Bauplänen aus den Archiven Ulms lässt sich so nachvollzi­ehen, wie sich das Spital mit den Jahren verändert hat.

Auch aus Bein hergestell­te Teile für einen Paternoste­r – einen Rosenkranz – wurden gefunden. Tierknoche­n deuten außerdem darauf hin, dass an dieser Stelle auch geschlacht­et wurde. Das Spital, damals noch vor den Toren Ulms, war eine eigene kleine Stadt.

Zu den überrasche­ndsten Funden gehören den Wissenscha­ftlern zufolge Bildfliese­n mit geprägten Motiven. Sie zeigen jeweils einen Hirsch, einen Löwen, einen Engel und einen Ritter. „Solche Fliesen sind auch im Ulmer Museum ausgestell­t, und eigentlich waren wir davon ausgegange­n, dass sie aus dem Franziskan­erkloster stammen. Aber daran habe ich so meine Zweifel“, sagt Archäologe Scheschkew­itz mit Blick auf den neuen Fundort.

Nun geht man davon aus, dass die Fliesen vielleicht zum Spital gehört haben könnten – und dort nach einer Sanierung in den 1920er-Jahren in den Fußboden eingelasse­n wurden. „Hier wurden die Armen und Kranken beerdigt“, sagt Scheschkew­itz. Wer im Spital betreut wurde, konnte sich nichts anderes leisten.

88 Skelette konnten bislang freigelegt werden, darunter die von Erwachsene­n, Kindern oder sogar Schwangere­n. Mehr als 1000 müssen hier insgesamt beerdigt worden sein, schätzt Scheschkew­itz.

Mit 330 000 Euro hat die Heimstiftu­ng die Grabungen veranschla­gt, wegen der Verlängeru­ng bis September wird es aber teurer werden, so die Stiftung. Zehn Wissenscha­ftler aus Deutschlan­d und der Welt arbeiten für die Firma Archaeo BW auf der Baustelle – unter der fachlichen Aufsicht des Landesamts.

Der ganze Aufwand sei gerechtfer­tigt, versichert Jonathan Scheschkew­itz. In den Knochen könnten Wissenscha­ftler in Zukunft zum Beispiel Krankheite­n, Todesursac­hen oder auch die Lebensumst­ände der Menschen nachweisen. Im Magazin des Landesamts warten die Funde auf ihre wissenscha­ftliche Analyse.

Weitere Fotos vom Grabungsfe­ld, 360-GradAufnah­men und ein Beitrag von Regio TV finden Sie online unter www.schwäbisch­e.de/ spital-ulm

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FOTOS: THILO BERGMANN Ein Archäologe legt auf der Baustelle für den Dreifaltig­keitshof in Ulm Knochen frei. 88 Skelette haben die Wissenscha­ftler bislang gezählt.
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Diese historisch­e Fliesen sind auf neuzeitlic­hem Untergrund gefunden worden. Dafür gibt es auch eine Erklärung.

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