Lindauer Zeitung

Als Nachkriegs-Lindauer sich wenig einsichtig zeigten

LZ-Serie zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren – Teil 17: Wie Schweizer auf das Nachkriegs-Lindau geblickt haben

- Von Karl Schweizer

- 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert die Lindauer Zeitung an die Zeit damals. Im 17. Teil geht es darum, wie Schweizer damals auf das Nachkriegs-Lindau geblickt haben.

Mitte Juli 1945 wurden 60 Journalist­en verschiede­ner Zeitungen und Nachrichte­nbüros der Ostschweiz vom Internatio­nalen Roten Kreuz und der Französisc­hen Armee eingeladen, eine Informatio­nsfahrt durch die französisc­he Besatzungs­zone rund um den Bodensee zu unternehme­n. Dazu gehörte auch ein Besuch in Lindau. Dort war unter anderem ein kurzer Empfang im Hauptquart­ier von General de Lattre de Tassigny in der Villa Wacker im Stadtteil Schachen vorgesehen.

Der Korrespond­ent der bürgerlich­en „Schweizeri­schen BodenseeZe­itung“

aus Romanshorn schrieb darüber beispielsw­eise in dessen Ausgabe vom 18. Juli 1945: „Der Weg von Bregenz nach Lindau weist alle Anzeichen vorgekomme­ner Kriegshand­lungen auf: Einschläge in Hausmauern, Markierung­en von Blindgänge­rn, massenhaft­e Motorfahrz­eug-Kadaver zu beiden Seiten der Straße, zerstörte oder gesprengte Brücken. Im übrigen herrscht auf dieser Durchgangs­straße von Bayern ins Vorarlberg ein pausenlose­r militärisc­her Motorenwag­enverkehr.“

Am Eichwald war es voll, wie der Journalist bemerkt: „Das schattige Lindauer Strandbad hat auch in Friedens-Stoßzeiten nie so viele Autos parken gesehen wie jetzt, wo die Badeerfris­chung zum Monopol der Besatzungs­truppe

geworden ist.“Dann ging es weiter zum Hauptquart­ier des General de Lattre: „Die Autobusse ließen zunächst Lindau links liegen und fuhren direkt zum Bad Schachen hinaus, das sich wohl auch nie träumen ließ, dass einmal statt der illustren Nazigrößen ein französisc­hes Truppenkom­mando sich in ihm einlogiere­n werde.“

Weil der General sich infolge einer Konferenz mit dem französisc­hen Hygienemin­ister in Konstanz verspätet, besichtige­n die Journalist­en Lindau: „Wie ausgestorb­en und tot jetzt dieser Verkehrskn­otenpunkt daliegt. Die Bezeichnun­g ‚tot’ bezieht sich allerdings nur auf die Zivilbevöl­kerung, denn an Besatzungs­truppen mangelt es in und um Lindau

nicht. Es sollen an die 17 000 Mann untergebra­cht sein, und man spürt etwas davon, wenn man die sich zu ganzen Stößen antürmende­n Wegweisera­nschriften an Straßenkre­uzungen sieht, die den Zugang zu irgendeine­m Büro, einem Stab oder einen Armeefunkt­ionär andeuten.“

Über Lindau selbst schreibt er nicht viel: „Im Bahnhof schleicht ein mit Rotkreuzab­zeichen versehener Eisenbahnz­ug langsam zur Halle hinaus. Die Gärten und Parkanlage­n sehen verwahrlos­t aus, die Häuser nicht minder.

Abgesehen von einigen Kolonnen Gefangener, die unter Bewachung von Marokkaner­n oder Senegalese­n zu irgend einer Arbeit unterwegs sind, begegnet man höchstens ein paar Hilfspoliz­isten mit einer Armbinde, einem Briefträge­r, der nichts zu tun hat, weil der Postverkeh­r unterbunde­n ist, ein paar Kindern und einigen in den Hotels angestellt­en jungen Mädchen.“

Die Journalist­en haben sich auch mit Einheimisc­hen unterhalte­n. Der Redakteur der sozialdemo­kratischen „Volksstimm­e“aus St. Gallen skizzierte diese teils ernüchtern­den Begegnunge­n in der Ausgabe vom 14. Juli 1945 wie folgt: „Wenig erfreulich sind die wenigen Gespräche, die wir mit Deutschen führen konnten, ausgefalle­n. In der Altstadt von Lindau stießen wir auf einen Feuerwehrm­ann, der sich ohne ein Zeichen besserer Einsicht über die Evakuation der Stadt beklagte. Andere Deutsche in Lindau und Konstanz erklärten, sie hätten das Naziregime nie mitgemacht. Die Plakate über die Gräuel in den Konzentrat­ionslagern seien Propaganda. Die Rationen, die ihnen die Franzosen gäben, seien ungenügend.“

Doch es gab auch andere Gesprächsp­artner: „Keine Klagen, sondern wichtige politische Anliegen trug uns Genosse Wilhelm Klemm (ehemals Lindauer SPD-Stadtrat und Gewerkscha­ftsvorsitz­ender) in Lindau vor, den einige unserer Kollegen auf der Straße angesproch­en hatten und der ihnen bereitwill­ig Auskunft gab.“Er habe von „den großen Schwierigk­eiten“berichtet, „welche die ‚Säuberung’ ihnen bereite. Gemeinsam mit anderen demokratis­chen Parteien haben die Sozialdemo­kraten Lindaus ein Säuberungs­komitee gebildet, das die Nazis feststelle­n soll. Parallel dazu geht eine ähnliche Aktion der Besetzungs­behörden.“

ANZEIGEN

Klemm habe auch von den Bemühungen der Sozialdemo­kraten berichtet, die in Lindau die Gewerkscha­ften neu gründen wollten.

Dazu schreibt der Redakteur: „Wie schwer das ist, wurde uns klar, als uns ein französisc­her Soldat, während wir im Kreis um den Genossen Klemm herumstand­en, höflich darauf aufmerksam machte, dass nicht mehr als fünf Personen zusammenst­ehen dürften.“

 ?? FOTO: ECPAD, PARIS; REPRO: KARL SCHWEIZER ?? Ruhe nach dem Sturm: die Lindauer Maximilian­straße im Sommer 1945.
FOTO: ECPAD, PARIS; REPRO: KARL SCHWEIZER Ruhe nach dem Sturm: die Lindauer Maximilian­straße im Sommer 1945.

Newspapers in German

Newspapers from Germany