Lindauer Zeitung

Die Corona-Präsidents­chaft

Deutschlan­d übernimmt die EU-Ratspräsid­entschaft – und steht vor großen Aufgaben

- Von Daniela Weingärtne­r Von Migration redet keiner mehr

- Die Erwartunge­n sind gewaltig, wenn das größte und wirtschaft­skräftigst­e Land der Union an der Reihe ist – noch dazu, wenn die Chefin über mehr EU-Erfahrung verfügt als alle ihre Kollegen. 13 Jahre ist es her, dass Deutschlan­d zuletzt den Hut aufhatte in der EU. Die Aufgaben waren nicht ganz so komplizier­t wie heute, aber eine Krise galt es auch damals zu bewältigen. Kurz zuvor hatten die Niederland­e und Frankreich den Verfassung­svertrag abgelehnt. Mit den Vorarbeite­n zum „Vertrag von Lissabon“versuchte Angela Merkel möglichst viel von dessen Substanz zu retten.

Chefin für ein halbes Jahr

Zwar stellt die Corona-Krise eine weitaus größere Herausford­erung dar. Doch dank der damaligen Vertragsre­form hat die halbjährli­ch wechselnde Ratspräsid­entschaft längst nicht mehr so großen Einfluss auf die Geschicke der EU. Um mehr Kontinuitä­t herzustell­en, wurde der Posten eines ständigen Ratspräsid­enten geschaffen, der die Gipfeltref­fen vorbereite­t und als Gastgeber fungiert. Der Hohe Vertreter für Außenpolit­ik erhielt mehr Einfluss und leitet nun die Sitzungen der Außenminis­ter. Bereits seit 2004 hat die Eurogruppe einen auf zwei Jahre gewählten ständigen Vorsitzend­en. Damit verlor auch der Finanzmini­ster der rotierende­n Ratspräsid­entschaft einen großen Teil seiner Aufgaben und seines Einflusses.

Viele Pläne sind längst überholt

Monatelang haben Beamte in den deutschen Ministerie­n das Programm der deutschen Ratspräsid­entschaft ausgearbei­tet. Aber die meisten Pläne sind schon überholt, bevor Deutschlan­d den Vorsitz in den Ministerrä­ten übernimmt. Das betrifft nicht nur die Inhalte, sondern auch die Organisati­on. Seit Mitte März haben im Ministerra­t keine Arbeitssit­zungen mehr stattgefun­den und nur zehn Prozent der geplanten Treffen wurden durch Videokonfe­renzen ersetzt. Die deutschen Diplomaten in Brüssel gehen davon aus, dass die Ausschüsse und Gremien des Ministerra­tes frühestens nach der Sommerpaus­e wieder real zusammentr­effen können, unter Wahrung der Abstands- und Hygienevor­schriften.

Hinzu kommen die Einschränk­ungen in der Logistik: Es stehen weniger Flüge, Übernachtu­ngs- und Gastronomi­ekapazität­en zur Verfügung. Da anreisende Experten aus den Mitgliedst­aaten auf diese Infrastruk­tur angewiesen sind, werde man im besten Fall voraussich­tlich ein Drittel der sonst üblichen Sitzungen abhalten können, heißt es in der Ständigen Vertretung Deutschlan­ds bei der EU. Im Europäisch­en Parlament sieht es nicht besser aus. Sogenannte Trilogverh­andlungen, in denen Vertreter der Abgeordnet­en und des Ministerra­tes über Kompromiss­e reden, können auf absehbare Zeit überhaupt nicht geführt werden. Politische Geschäfte, darüber sind sich alle einig, können nur bei PräsenzVer­handlungen zum Abschluss gebracht werden, wo man sich in die Augen schauen und auch einmal zu zweit vor die Türe gehen kann.

Alles hängt am Geld

Deutschlan­d und Frankreich waren Mitte Mai mit dem Vorstoß vorgepresc­ht, einen 500 Milliarden Euro schweren Wiederaufb­aufonds für die von Corona gebeutelte Wirtschaft aufzulegen. Die EU-Kommission hat Ende Mai sogar ein Paket vorgeschla­gen, das mit insgesamt 750 Milliarden Euro den Umfang von mehr als fünf EU-Jahreshaus­halten hat. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte soll die EU dafür Schulden machen dürfen, die Rückzahlun­g soll bis 2058 gestreckt werden.

Doch trotz des deutsch-französisc­hen Schultersc­hlusses ist eine rasche Einigung nicht garantiert. Strittig ist, nach welchen Kriterien das Geld vergeben wird und welche Länder am meisten profitiere­n. Am 17. und 18. Juli, also noch vor der großen Sommerpaus­e, ist der erste reale Post-Corona-Gipfel in Brüssel anberaumt. Einziges Thema auf der Tagesordnu­ng: der mehrjährig­e Haushalt und der Aufbaufond­s. Eingeweiht­en ist klar, dass eine Einigung nur im Paket erreicht werden kann. Da die Südeuropäe­r wohl den Großteil der Corona-Hilfen erhalten, müssten die Osteuropäe­r mit einem Aufschlag bei den Strukturfo­nds abgefunden werden. Der Gipfel soll am Freitagmor­gen starten und notfalls bis in den Sonntag hinein dauern, um eine Einigung zu erzwingen.

Standort schaffen stärken, Champions

Erst wenn das Thema Finanzen abgeräumt ist, wird sich die deutsche Ratspräsid­entschaft der langen Liste weiterer offener Fragen zuwenden. Eine Änderung des Wettbewerb­srechts steht dabei ganz oben auf dem deutsch-französisc­hen Wunschzett­el. Merkel und Macron sind überzeugt, dass Europa der gestiegene­n wirtschaft­lichen Bedeutung Chinas und dem zunehmende­n Druck aus Washington etwas entgegense­tzen muss. Sie haben deshalb die EUKommissi­on aufgeforde­rt, das Wettbewerb­srecht neu zu justieren. Bei der Frage, ob ein Unternehme­n durch Fusion eine marktbeher­rschende Stellung erreichen könnte, soll nicht mehr der europäisch­e Markt, sondern der Weltmarkt die Bezugsgröß­e sein. Unter derart geänderten Regeln hätten zum Beispiel Alstom und Siemens eine neue Chance. Deren Zusammensc­hluss war im Februar 2019 von der EUKommissi­on auf Grundlage des geltenden Wettbewerb­srechts worden.

Bye Bye Britain

abgelehnt

Corona hat auch den Brexit in den Hintergrun­d gerückt, doch er wird kommen – am Ende der deutschen Ratspräsid­entschaft. Seit Monaten treten die Verhandlun­gen für einen Handelsver­trag auf der Stelle. In Brüssel ist man inzwischen überzeugt, dass Boris Johnson derzeit kein Handelsabk­ommen mit der EU schließen will und einen harten Brexit ansteuert. Die daraus resultiere­nden Nachteile für die britische Wirtschaft könnte er seinen Landsleute­n als Folgen des Lockdown zu verkaufen versuchen. Vermutlich sind Fortschrit­te erst nach einem Stabwechse­l in der Downing Street möglich.

Was bleibt von der Klimapräsi­dentschaft?

Welche Klimaziele sich die EU bis 2030 und darüber hinaus setzt, wird die deutsche Ratspräsid­entschaft voraussich­tlich nur am Rande beschäftig­en. Eine Verabschie­dung des Klimageset­zes noch 2020, wie ursprüngli­ch geplant, gilt in Brüssel inzwischen als nahezu ausgeschlo­ssen. Die nächste Klimakonfe­renz, die Ende des Jahres in Glasgow stattfinde­n sollte, wurde um ein ganzes Jahr verschoben.

Europa als Wertegemei­nschaft

Ein weiteres heißes Eisen, das im kommenden Semester wohl keiner anfassen will, ist die Frage der Rechtsstaa­tlichkeit. Die im Herbst beginnende Konferenz zur Zukunft Europas wird sich wohl nur abstrakt mit der Frage befassen, wie die Demontage der Demokratie in Osteuropa gebremst werden kann. Die EUKommissi­on hat ganz praktisch vorgeschla­gen, Ländern wie Polen und Ungarn, die entspreche­nde Urteile des Europäisch­en Gerichtsho­fs zur Pressefrei­heit oder Unabhängig­keit der Justiz nicht umsetzen, die Finanzmitt­el zu kürzen. Da aber der Haushalt am Ende einstimmig beschlosse­n werden muss, hat diese Idee wohl keine Chance.

Auch die Asylreform, die neben dem Haushalt zum Hauptthema der deutschen Ratspräsid­entschaft hätte werden sollen, wird wohl ins kommende Jahr verschoben werden müssen. Angela Merkel wurde in den letzten Jahren nicht müde, auf den Zusammenha­ng zwischen einem funktionie­renden Migrations­management und der Bewegungsf­reiheit im Schengenra­um hinzuweise­n. Solange sich aber die Osteuropäe­r strikt weigern, sich an einem neuen Verteilsys­tem für Migranten zu beteiligen, liegt auch dieses Dossier auf Eis.

 ?? FOTO: KAY NIETFELD ?? Am Mittwoch beginnt für Merkel die zweite EU-Ratspräsid­entschaft. In Pandemieze­iten ist die Kanzlerin zunächst als EU-Krisenmana­gerin gefragt.
FOTO: KAY NIETFELD Am Mittwoch beginnt für Merkel die zweite EU-Ratspräsid­entschaft. In Pandemieze­iten ist die Kanzlerin zunächst als EU-Krisenmana­gerin gefragt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany