Die Corona-Präsidentschaft
Deutschland übernimmt die EU-Ratspräsidentschaft – und steht vor großen Aufgaben
- Die Erwartungen sind gewaltig, wenn das größte und wirtschaftskräftigste Land der Union an der Reihe ist – noch dazu, wenn die Chefin über mehr EU-Erfahrung verfügt als alle ihre Kollegen. 13 Jahre ist es her, dass Deutschland zuletzt den Hut aufhatte in der EU. Die Aufgaben waren nicht ganz so kompliziert wie heute, aber eine Krise galt es auch damals zu bewältigen. Kurz zuvor hatten die Niederlande und Frankreich den Verfassungsvertrag abgelehnt. Mit den Vorarbeiten zum „Vertrag von Lissabon“versuchte Angela Merkel möglichst viel von dessen Substanz zu retten.
Chefin für ein halbes Jahr
Zwar stellt die Corona-Krise eine weitaus größere Herausforderung dar. Doch dank der damaligen Vertragsreform hat die halbjährlich wechselnde Ratspräsidentschaft längst nicht mehr so großen Einfluss auf die Geschicke der EU. Um mehr Kontinuität herzustellen, wurde der Posten eines ständigen Ratspräsidenten geschaffen, der die Gipfeltreffen vorbereitet und als Gastgeber fungiert. Der Hohe Vertreter für Außenpolitik erhielt mehr Einfluss und leitet nun die Sitzungen der Außenminister. Bereits seit 2004 hat die Eurogruppe einen auf zwei Jahre gewählten ständigen Vorsitzenden. Damit verlor auch der Finanzminister der rotierenden Ratspräsidentschaft einen großen Teil seiner Aufgaben und seines Einflusses.
Viele Pläne sind längst überholt
Monatelang haben Beamte in den deutschen Ministerien das Programm der deutschen Ratspräsidentschaft ausgearbeitet. Aber die meisten Pläne sind schon überholt, bevor Deutschland den Vorsitz in den Ministerräten übernimmt. Das betrifft nicht nur die Inhalte, sondern auch die Organisation. Seit Mitte März haben im Ministerrat keine Arbeitssitzungen mehr stattgefunden und nur zehn Prozent der geplanten Treffen wurden durch Videokonferenzen ersetzt. Die deutschen Diplomaten in Brüssel gehen davon aus, dass die Ausschüsse und Gremien des Ministerrates frühestens nach der Sommerpause wieder real zusammentreffen können, unter Wahrung der Abstands- und Hygienevorschriften.
Hinzu kommen die Einschränkungen in der Logistik: Es stehen weniger Flüge, Übernachtungs- und Gastronomiekapazitäten zur Verfügung. Da anreisende Experten aus den Mitgliedstaaten auf diese Infrastruktur angewiesen sind, werde man im besten Fall voraussichtlich ein Drittel der sonst üblichen Sitzungen abhalten können, heißt es in der Ständigen Vertretung Deutschlands bei der EU. Im Europäischen Parlament sieht es nicht besser aus. Sogenannte Trilogverhandlungen, in denen Vertreter der Abgeordneten und des Ministerrates über Kompromisse reden, können auf absehbare Zeit überhaupt nicht geführt werden. Politische Geschäfte, darüber sind sich alle einig, können nur bei PräsenzVerhandlungen zum Abschluss gebracht werden, wo man sich in die Augen schauen und auch einmal zu zweit vor die Türe gehen kann.
Alles hängt am Geld
Deutschland und Frankreich waren Mitte Mai mit dem Vorstoß vorgeprescht, einen 500 Milliarden Euro schweren Wiederaufbaufonds für die von Corona gebeutelte Wirtschaft aufzulegen. Die EU-Kommission hat Ende Mai sogar ein Paket vorgeschlagen, das mit insgesamt 750 Milliarden Euro den Umfang von mehr als fünf EU-Jahreshaushalten hat. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte soll die EU dafür Schulden machen dürfen, die Rückzahlung soll bis 2058 gestreckt werden.
Doch trotz des deutsch-französischen Schulterschlusses ist eine rasche Einigung nicht garantiert. Strittig ist, nach welchen Kriterien das Geld vergeben wird und welche Länder am meisten profitieren. Am 17. und 18. Juli, also noch vor der großen Sommerpause, ist der erste reale Post-Corona-Gipfel in Brüssel anberaumt. Einziges Thema auf der Tagesordnung: der mehrjährige Haushalt und der Aufbaufonds. Eingeweihten ist klar, dass eine Einigung nur im Paket erreicht werden kann. Da die Südeuropäer wohl den Großteil der Corona-Hilfen erhalten, müssten die Osteuropäer mit einem Aufschlag bei den Strukturfonds abgefunden werden. Der Gipfel soll am Freitagmorgen starten und notfalls bis in den Sonntag hinein dauern, um eine Einigung zu erzwingen.
Standort schaffen stärken, Champions
Erst wenn das Thema Finanzen abgeräumt ist, wird sich die deutsche Ratspräsidentschaft der langen Liste weiterer offener Fragen zuwenden. Eine Änderung des Wettbewerbsrechts steht dabei ganz oben auf dem deutsch-französischen Wunschzettel. Merkel und Macron sind überzeugt, dass Europa der gestiegenen wirtschaftlichen Bedeutung Chinas und dem zunehmenden Druck aus Washington etwas entgegensetzen muss. Sie haben deshalb die EUKommission aufgefordert, das Wettbewerbsrecht neu zu justieren. Bei der Frage, ob ein Unternehmen durch Fusion eine marktbeherrschende Stellung erreichen könnte, soll nicht mehr der europäische Markt, sondern der Weltmarkt die Bezugsgröße sein. Unter derart geänderten Regeln hätten zum Beispiel Alstom und Siemens eine neue Chance. Deren Zusammenschluss war im Februar 2019 von der EUKommission auf Grundlage des geltenden Wettbewerbsrechts worden.
Bye Bye Britain
abgelehnt
Corona hat auch den Brexit in den Hintergrund gerückt, doch er wird kommen – am Ende der deutschen Ratspräsidentschaft. Seit Monaten treten die Verhandlungen für einen Handelsvertrag auf der Stelle. In Brüssel ist man inzwischen überzeugt, dass Boris Johnson derzeit kein Handelsabkommen mit der EU schließen will und einen harten Brexit ansteuert. Die daraus resultierenden Nachteile für die britische Wirtschaft könnte er seinen Landsleuten als Folgen des Lockdown zu verkaufen versuchen. Vermutlich sind Fortschritte erst nach einem Stabwechsel in der Downing Street möglich.
Was bleibt von der Klimapräsidentschaft?
Welche Klimaziele sich die EU bis 2030 und darüber hinaus setzt, wird die deutsche Ratspräsidentschaft voraussichtlich nur am Rande beschäftigen. Eine Verabschiedung des Klimagesetzes noch 2020, wie ursprünglich geplant, gilt in Brüssel inzwischen als nahezu ausgeschlossen. Die nächste Klimakonferenz, die Ende des Jahres in Glasgow stattfinden sollte, wurde um ein ganzes Jahr verschoben.
Europa als Wertegemeinschaft
Ein weiteres heißes Eisen, das im kommenden Semester wohl keiner anfassen will, ist die Frage der Rechtsstaatlichkeit. Die im Herbst beginnende Konferenz zur Zukunft Europas wird sich wohl nur abstrakt mit der Frage befassen, wie die Demontage der Demokratie in Osteuropa gebremst werden kann. Die EUKommission hat ganz praktisch vorgeschlagen, Ländern wie Polen und Ungarn, die entsprechende Urteile des Europäischen Gerichtshofs zur Pressefreiheit oder Unabhängigkeit der Justiz nicht umsetzen, die Finanzmittel zu kürzen. Da aber der Haushalt am Ende einstimmig beschlossen werden muss, hat diese Idee wohl keine Chance.
Auch die Asylreform, die neben dem Haushalt zum Hauptthema der deutschen Ratspräsidentschaft hätte werden sollen, wird wohl ins kommende Jahr verschoben werden müssen. Angela Merkel wurde in den letzten Jahren nicht müde, auf den Zusammenhang zwischen einem funktionierenden Migrationsmanagement und der Bewegungsfreiheit im Schengenraum hinzuweisen. Solange sich aber die Osteuropäer strikt weigern, sich an einem neuen Verteilsystem für Migranten zu beteiligen, liegt auch dieses Dossier auf Eis.