Auswege aus dem Schweinesystem
Fall Tönnies heizt Debatte um Lebensmittelproduktion an – Neuer Lösungsvorschlag im Streit um Sauenhaltung
- Führt der Fall Tönnies nach Jahren endlich zu besseren Bedingungen für Tier und Mensch in der Schweinebranche? In der Politik, in der enge Ställe und menschenunwürdige Lebensbedingungen von Schlachthof-Werkvertragsarbeitern altbekannt sind, scheint ein Umdenken einzusetzen. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will Werkverträge verbieten, Agrarministerin Julia Klöckner (CDU) höhere Fleischpreise.
Und die Grünen wollen gleich die Riesenschlachthöfe dichtmachen, wie Fraktionschefin Katrin GöringEckardt am Sonntagabend bei „Bild Live“forderte. Die Fleischfabriken stehen seit Tönnies nicht nur für Corona und weite Wege des Schlachtviehs, sondern auch für die Entfremdung von Mensch und Tier durch industrialisierte Tötung: „Immer mehr Verbraucher wollen nicht nur wissen, wie die Tiere gehalten wurden, deren Fleisch sie essen, sondern es ist ihnen auch wichtig, dass die Tiere möglichst schonend und ohne Transporte geschlachtet werden“, sagt Baden-Württembergs Agrarminister Peter Hauk (CDU). Das Land unterstützt daher mobile Schlachteinheiten.
Die Rückkehr zu kleineren Schlachthöfen wäre ein Paradigmenwechsel. Denn lange galt: je größer, desto besser. Kommunen machten ihre Betriebe dicht, kleinere Schlachthöfe fielen immer wieder bei Hygieneskandalen auf, während die Fleischriesen dank Werkvertragsarbeitern aus Südosteuropa die Preise drückten. Doch noch ist die Debatte vage.
Eine andere ist sehr konkret: So bahnt sich im jahrelangen Streit um eine tiergerechtere Sauenhaltung eine Lösung an. Nachdem noch Anfang Juni ein Kompromissvorschlag im Bundesrat durchgefallen war, gibt es kommenden Freitag einen neuen Anlauf mit Aussicht auf eine Mehrheit. Dabei geht es um die Frage, wie lange Säue in Kastenstand genannten Metallgehäusen eingepfercht gehalten werden dürfen. Bislang sind je 35
Tage im Deckzentrum sowie im Abferkelbereich erlaubt. Allerdings hatte ein Magdeburger Gericht bereits 2015 entschieden, dass sich die Schweine in den Kastenständen mindestens ausstrecken können müssen, was derzeit oft nicht der Fall ist.
Der neue Vorschlag sieht nun zwei Fristen für den Ausstieg vor: Im Deckzentrum soll die Kastenstandhaltung demnach noch acht Jahre lang erlaubt bleiben. Danach sollen die Säue nur noch kurz und unmittelbar zur Besamung eingesperrt werden dürfen. Sonst ist die Gruppenhaltung erklärtes Ziel. „Das Leitbild ist die Wildschweinrotte“, sagt ein führender Verhandler der GrünenSeite.
Mit Regierungsbeteiligungen in zehn von 16 Ländern hat die Partei im Bundesrat Gewicht. Der erste Vorschlag – vom grünen Landwirtschaftsminister Schleswig-Holsteins mitausgehandelt –, war kurzfristig von der eigenen Partei versenkt worden. Damals sollten die Schweine nach der Übergangszeit noch bis zu acht Tage in den Kastenstand.
Nun lasse man endlich die Sau raus, sagen Befürworter. Dabei ist das nicht ganz korrekt, denn beim Abferkeln bleibt es laut Entwurf bei 15 Jahren Übergangsfrist. Danach sollen die Sauen künftig maximal fünf Tage fixiert werden. Schweinehalter begründen dies damit, dass die Mutterschweine ansonsten ihre Ferkel aus Versehen beim Hinlegen zerquetschen könnten.
Für viele Tierschützer sind diese Fristen viel zu lang, doch führende Grüne rechnen für Freitag trotzdem mit einer Mehrheit. Denn nicht nur das schwarz-gelb regierte Nordrhein-Westfalen steht hinter dem Vorschlag. Mit Baden-Württemberg hat sich auch das einzige Land mit einem grünen Ministerpräsidenten in die Verhandlungen eingeschaltet.
Doch sicher ist das immer noch nicht. „Wir hoffen sehr, dass es zu einer Einigung kommt“, sagt die Sprecherin des baden-württembergischen Agrarministers Peter Hauk (CDU). Am heutigen Dienstag soll das Kabinett in Stuttgart entscheiden, wie der Südwesten abstimmt. Das Wichtigste sei Planungssicherheit für die Landwirte, betont Hauk. Denn viele Schweinehalter glauben nicht mehr an die Zukunft: Die Zahl der noch etwa 21 000 Betriebe in Deutschland schrumpft seit Jahren, allein zwischen 2018 und 2019 haben 1200 aufgegeben. Viele Fragen von der Ferkelkastration über die Ringelschwanzkupierung bis hin zum Tierwohllabel sind offen, zudem fühlen sich die Landwirte von weiten Teilen der Gesellschaft unverstanden. Und durch den Tönnies-Skandal kommen neue Probleme auf die Branche zu.
Die Landwirte, die an eine Zukunft der Schweinezucht in Deutschland
glauben, sollen mit Fördergeld gelockt werden. Das Agrarministerium von Julia Klöckner (CDU) will 300 Millionen Euro bereitstellen und mit einer Sonderregel Tempo machen: Je schneller sich ein Bauer für den Stallumbau entscheidet, desto höher soll die Förderung ausfallen. Laut Bundesratsvorschlag sollen die Landwirte binnen drei Jahren Umbaukonzepte für ihre Deckzentren vorlegen. Gibt es keines, soll der Betrieb zwei Jahre später auslaufen. Experten glauben, dass viele aufgeben – in Baden-Württemberg beträgt das Durchschnittsalter der 2100 verbliebenen Schweinehalter 52 Jahre.
Und Planungssicherheit kann selbst ein Ja des Bundesrats den Verbliebenen nicht bieten: Im kommenden Jahr dürfte das Bundesverfassungsgericht darüber entscheiden, ob das Magdeburger Urteil von 2015 nicht doch noch früher umgesetzt werden muss.