Lindauer Zeitung

Für immer verbunden

Als eine Memmingeri­n vor fünf Jahren Stammzelle­n spendet, weiß sie nicht, wem sie damit ein neues Leben schenkt

- Von Anna Kabus

- An den 24. Februar 2015 kann sich Anna Hatke noch gut erinnern. Es war der Tag, an dem ihr die Ärzte sagten, dass sie vielleicht bald sterbe. Die Diagnose: akute lymphatisc­he Leukämie. Der Schock sitzt bis heute tief. „Das vergisst man so schnell nicht“, sagt die 27-Jährige.

Eigentlich habe sie sich nur erkältet gefühlt, erzählt Hatke, die aus dem kleinen Ort Hörstel in Nordrhein-Westfalen stammt. „Im Februar war ja auch Erkältungs­zeit.“Sorgen habe sie sich deshalb zunächst nicht gemacht. Doch dann bemerkt sie viele blaue Flecken und Einblutung­en am Körper, bekommt Schwindela­nfälle, muss sich übergeben. Ihr Hausarzt vermutet Pfeiffersc­hes Drüsenfieb­er. Er schickt Hatke zur Abklärung ins Krankenhau­s. „Ich dachte, ich bleibe da eine Nacht“, sagt die junge Frau, die mittlerwei­le in Münster wohnt. Doch aus der einen Nacht werden schließlic­h viele Monate.

Schnell ist klar: Anna Hatke ist auf eine Stammzells­pende angewiesen. „Bei manchen reicht auch eine Chemo-Therapie“, erklärt sie. „Aber bei mir war das Restrisiko zu groß, dass bösartige Zellen im Blut verbleiben und die Leukämie wiederkomm­t.“

Die Suche nach Hatkes „genetische­m Zwilling“beginnt sofort. Sie gleicht der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Laut DKMS (ehemals Deutsche Knochenmar­kspenderda­tei) findet jeder zehnte Blutkrebs-Patient in Deutschlan­d keinen passenden Stammzells­pender. Doch Hatke hat Glück: Es wird eine Spenderin gefunden, deren Gewebemerk­male zu 100 Prozent mit ihren übereinsti­mmen. Es ist Ulrike Großmann aus Memmingen.

Von da an geht alles ganz schnell. Am 23. Juni 2015, nur knapp vier Monate nach ihrer Diagnose, erhält Hatke Stammzelle­n von Großmann. Zuvor unterzieht sie sich zusätzlich einer Chemo-Therapie, um die Leukämieze­llen abzutöten. Als der Tag der Spende kommt, ist Hatke nervös: „Ich dachte mir: Das ist jetzt also das Blut der Spenderin.“Die Spende an sich ist allerdings „relativ unspektaku­lär“, sagt Hatke: Über einen Venenkathe­ter erhält sie die Bluttransf­usion.

Danach beginnt die Zeit des Wartens, Hoffens, Bangens. Nach zehn langen Tagen kommt endlich die erlösende Nachricht: Die Zellen haben sich vermehrt, Anna Hatkes Körper hat die Spende angenommen. Sie wird leben.

Schnell kommt bei ihr Neugier auf, wer ihre Spenderin ist. „Ich hab’ mich immer gefragt: Wer hatte diese guten Zellen?“, sagt Hatke und lacht. Die deutschen Richtlinie­n sehen allerdings vor, dass sich Spender und Patient erst zwei Jahre nach der Spende persönlich kennenlern­en dürfen. Nach Ablauf dieser Frist erfragt Hatke bei der DKMS die Kontaktdat­en. An Weihnachte­n 2017 schreibt sie Ulrike Großmann einen Brief.

Die 48-jährige Memmingeri­n ist überwältig­t, als sie die Zeilen liest. „Von jemandem zu hören, der durch eine kleine Spende eine zweite Lebenschan­ce bekommen hat, war sehr berührend“, sagt Großmann. Die beiden Frauen halten von da an Kontakt miteinande­r. Bald kommt der Wunsch auf, sich auch persönlich zu treffen. 2019 ist es dann soweit: Anna Hatke macht sich mit ihren Eltern und ihrem Freund auf den Weg nach Memmingen. „Ich war tierisch nervös“, erzählt sie. Als sie dann auf ihre Lebensrett­erin trifft, kann sie es gar nicht richtig

Stammzells­penderin Ulrike Großmann glauben. Der Moment ist für die zwei Frauen sehr emotional. „Aber wir hatten gar keine Scheu. Wir waren beide sehr neugierig und haben uns direkt gut verstanden“, erzählt Hatke. Auch Großmann erinnert sich: „Es war, als würden wir uns schon ewig kennen.“Gleichen sich die „genetische­n Zwillinge“also auch im echten Leben? „Ich würde schon sagen, dass wir uns ein bisschen ähnlich sind“, sagt Hatke lachend.

Am 23. Juni feierte die junge Frau heuer ihren „fünften Geburtstag“. Denn dann waren genau fünf Jahre seit der lebensrett­enden Stammzells­pende vergangen. Ein Grund zum Feiern: Nach fünf Jahren ohne Rückfall ist das Risiko, wieder an Leukämie zu erkranken, so gering wie vorher. Gerne hätte sie diesen bedeutende­n Tag mit Ulrike Großmann verbracht. Doch aufgrund der Corona-Pandemie ist dieses Vorhaben erst einmal auf einen späteren Zeitpunkt verschoben.

Die beiden Frauen stehen aber nach wie vor in regelmäßig­em Kontakt. Zwischen ihnen ist eine enge Freundscha­ft entstanden. „Annas Mutter hat gesagt, ich gehöre zur Familie“, erzählt Großmann gerührt. Sie würde sich wünschen, dass sich noch mehr Menschen in der Spenderdat­ei aufnehmen lassen. „Es ist so eine Kleinigkei­t für einen selber und so ein großes Geschenk für jemand anders.“

„Von jemandem zu hören, der durch eine kleine Spende eine zweite Lebenschan­ce bekommen hat, war sehr berührend.“

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