Lindauer Zeitung

Für jede Kuh ein Gutachten

Ermittlung­en im Allgäuer Tierschutz­skandal ziehen sich

- Von Frederick Mersi

(lby) - Die Aufnahmen, die den Allgäuer Tierschutz­skandal auslösen, sind grausam: Eine kranke Kuh liegt am Boden und röchelt vor sich hin. Eine andere wird mit ihrem Bein an einem Schlepper befestigt und wie ein lebloser Gegenstand durch den Stall gezogen. Die Videoseque­nzen, die der Tierrechts­verein Soko Tierschutz Anfang Juli 2019 der ARD und der „Süddeutsch­en Zeitung“zuspielt, zeigen auch, wie Tiere geschlagen und getreten werden. Der Verein stellt Strafanzei­ge gegen einen Großbetrie­b im Raum Bad Grönenbach (Landkreis Unterallgä­u), von dem die Aufnahmen stammen sollen.

In den folgenden Monaten geraten vier weitere Betriebe wegen Verstößen größeren Ausmaßes in den Fokus von Kontrollbe­hörden und Ermittlern. Solche Verstöße gibt es zwar auch andernorts, doch durch die zeitliche und örtliche Nähe werden die Vorfälle als Allgäuer Tierschutz­skandal bekannt. Der Landtag debattiert in der Folge über Reformen. Was hat sich seitdem verändert?

Gegen fünf Allgäuer Betriebe wird derzeit ermittelt – drei davon im Raum Bad Grönenbach, zwei im Oberallgäu. Die Staatsanwa­ltschaft Memmingen rechnet bei den drei Unterallgä­uer Fällen mit einem Abschluss der polizeilic­hen Ermittlung­en im Laufe des Monats Juli. „Bei jeder Kuh muss zu jedem einzelnen Fall ein Gutachten von Sachverstä­ndigen eingeholt werden“, sagte ein Sprecher. „Das dauert.“Ein erstes Ergebnis gibt es bisher nur im Fall eines Oberallgäu­er Betriebs, in dem die Kontrolleu­re im Januar unter anderem kranke und unterernäh­rte Kühe vorgefunde­n hatten. Nachdem das zuständige Landratsam­t ein Tierhaltun­gsverbot verhängt hatte, klagten die drei betroffene­n Landwirte dagegen – und einigten sich schließlic­h mit der Behörde: Die Kläger, ein Ehepaar und dessen volljährig­er Sohn, dürfen vorerst selbst keine Tiere mehr halten, aber auf anderen Höfen arbeiten.

Die fünf genannten Betriebe sind bei Weitem nicht die einzigen im Allgäu, bei denen Kontrollbe­hörden in den vergangene­n zwölf Monaten Verstöße gegen das Tierschutz­gesetz feststellt haben. Allein im Landkreis Unterallgä­u wurden nach Angaben des Landratsam­ts von Juli 2019 bis Mitte Juni 2020 in 123 Betrieben Verstöße entdeckt, 90 von ihnen hielten Rinder. „Die Verstöße reichen von Hygienemän­geln bis hin zur Straftat“, sagte eine Sprecherin. Im Landkreis Oberallgäu entdeckten die Kontrolleu­re im gleichen Zeitraum

bei 111 Betrieben Verstöße. Meist seien es mehrere pro Betrieb gewesen, teilte das Landratsam­t mit.

Von den fünf betroffene­n Allgäuer Betrieben halten drei immer noch Rinder, darunter zwei Großbetrie­be im Raum Bad Grönenbach mit 2800 beziehungs­weise 1800 Rindern zu Beginn der Ermittlung­en. Zu den Vorwürfen wollen die Inhaber weiter keine Stellung nehmen. Der Betreiber eines dritten Unternehme­ns im Raum Bad Grönenbach hat seine Milchviehh­altung inzwischen eingestell­t. Er hatte im Oktober 2019 eingeräumt, aussortier­te Kälber preisgünst­ig von anderen Landwirten erworben zu haben. Diese seien teilweise krank gewesen, die Behandlung­skosten habe er nicht stemmen können.

Nach dem Bekanntwer­den der Vorwürfe kündigte Verbrauche­rschutzmin­ister Thorsten Glauber (Freie Wähler) eine Reform der Tierschutz­kontrollen in Bayern an. Seitdem sind nach Angaben des Ministeriu­ms 70 neue Stellen in der Veterinärv­erwaltung geschaffen worden, davon 25 bei der Kontrollbe­hörde für

Lebensmitt­elsicherhe­it und Veterinärw­esen (KBLV). Seit dem 1. Juli übernimmt die landesweit zuständige Behörde die Überwachun­g von Großbetrie­ben mit Kapazitäte­n für mindestens 600 Rinder.

Trotz leichter Verbesseru­ngen herrsche bei den Veterinärä­mtern weiter Personalma­ngel, sagt der Vorsitzend­e des Landesverb­ands der beamteten Tierärzte in Bayern, Jürgen Schmid. So sind im Landkreis Unterallgä­u derzeit sechs Tierärzte für etwa 130 000 Tiere von 1484 Rinderhalt­ern zuständig – dazu kommen knapp 5000 Halter anderer Tiere. Im Landkreis Oberallgäu überwachen sechs Veterinäre fast 6000 Tierhalter. Die Zahl der Betriebe im Unterund Oberallgäu, für die jetzt die KBLV zuständig ist: drei.

Neben dem andauernde­n Personalma­ngel sieht Schmid aber vor allem den Vollzug bei Tierhaltun­gsverboten als Problem. „Bei 60 Tieren ist es möglich, sie woanders unterzubri­ngen“, sagt Schmid. „Aber wie will man einem Landwirt 1300 Tiere wegnehmen und sie so unterbring­en, dass es ihnen besser geht?“Dazu komme, dass Halter bei schwerwieg­enden Verstößen das behördlich­e Vorgehen durch Einsprüche und Klagen blockieren könnten.

„Mit dem Tierschutz-Skandal wurde auch deutlich, dass das Verhältnis von zur Verfügung stehenden Arbeitskrä­ften zu den damit zu betreuende­n Tieren nicht mehr zusammenpa­sst“, sagt Hans Foldenauer, Sprecher des Bunds Deutscher Milchviehh­alter. Das gelte auch für kleinere und mittlere Betriebe. „Das führt jedoch irgendwann zum Kollaps, sowohl bei den Tieren als auch den Menschen.“Die Agrarpolit­ik müsse EU-weit neu ausgericht­et werden, um Betrieben so viel Einkommen zu ermögliche­n, dass sie sich „eine entspreche­nde Ausstattun­g mit Arbeitskrä­ften leisten können“.

Auch Friedrich Mülln, Vorsitzend­er des Vereins Soko Tierschutz, sieht die Betriebsst­rukturen als größtes Problem: „In dem Moment, wo die Behörden ihren Job machen, bricht das System der industriel­len Tierhaltun­g zusammen“, sagt er. „Dieses Problem ist kein Problem von Bad Grönenbach.“

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FOTO: BENJAMIN LISS/DPA Gegen fünf Allgäuer Betriebe wird derzeit ermittelt. Ein Ergebnis gibt es bisher nur im Fall eines Oberallgäu­er Betriebs, in dem die Kontrolleu­re im Januar unter anderem kranke und unterernäh­rte Kühe vorgefunde­n hatten.

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