Für jede Kuh ein Gutachten
Ermittlungen im Allgäuer Tierschutzskandal ziehen sich
(lby) - Die Aufnahmen, die den Allgäuer Tierschutzskandal auslösen, sind grausam: Eine kranke Kuh liegt am Boden und röchelt vor sich hin. Eine andere wird mit ihrem Bein an einem Schlepper befestigt und wie ein lebloser Gegenstand durch den Stall gezogen. Die Videosequenzen, die der Tierrechtsverein Soko Tierschutz Anfang Juli 2019 der ARD und der „Süddeutschen Zeitung“zuspielt, zeigen auch, wie Tiere geschlagen und getreten werden. Der Verein stellt Strafanzeige gegen einen Großbetrieb im Raum Bad Grönenbach (Landkreis Unterallgäu), von dem die Aufnahmen stammen sollen.
In den folgenden Monaten geraten vier weitere Betriebe wegen Verstößen größeren Ausmaßes in den Fokus von Kontrollbehörden und Ermittlern. Solche Verstöße gibt es zwar auch andernorts, doch durch die zeitliche und örtliche Nähe werden die Vorfälle als Allgäuer Tierschutzskandal bekannt. Der Landtag debattiert in der Folge über Reformen. Was hat sich seitdem verändert?
Gegen fünf Allgäuer Betriebe wird derzeit ermittelt – drei davon im Raum Bad Grönenbach, zwei im Oberallgäu. Die Staatsanwaltschaft Memmingen rechnet bei den drei Unterallgäuer Fällen mit einem Abschluss der polizeilichen Ermittlungen im Laufe des Monats Juli. „Bei jeder Kuh muss zu jedem einzelnen Fall ein Gutachten von Sachverständigen eingeholt werden“, sagte ein Sprecher. „Das dauert.“Ein erstes Ergebnis gibt es bisher nur im Fall eines Oberallgäuer Betriebs, in dem die Kontrolleure im Januar unter anderem kranke und unterernährte Kühe vorgefunden hatten. Nachdem das zuständige Landratsamt ein Tierhaltungsverbot verhängt hatte, klagten die drei betroffenen Landwirte dagegen – und einigten sich schließlich mit der Behörde: Die Kläger, ein Ehepaar und dessen volljähriger Sohn, dürfen vorerst selbst keine Tiere mehr halten, aber auf anderen Höfen arbeiten.
Die fünf genannten Betriebe sind bei Weitem nicht die einzigen im Allgäu, bei denen Kontrollbehörden in den vergangenen zwölf Monaten Verstöße gegen das Tierschutzgesetz feststellt haben. Allein im Landkreis Unterallgäu wurden nach Angaben des Landratsamts von Juli 2019 bis Mitte Juni 2020 in 123 Betrieben Verstöße entdeckt, 90 von ihnen hielten Rinder. „Die Verstöße reichen von Hygienemängeln bis hin zur Straftat“, sagte eine Sprecherin. Im Landkreis Oberallgäu entdeckten die Kontrolleure im gleichen Zeitraum
bei 111 Betrieben Verstöße. Meist seien es mehrere pro Betrieb gewesen, teilte das Landratsamt mit.
Von den fünf betroffenen Allgäuer Betrieben halten drei immer noch Rinder, darunter zwei Großbetriebe im Raum Bad Grönenbach mit 2800 beziehungsweise 1800 Rindern zu Beginn der Ermittlungen. Zu den Vorwürfen wollen die Inhaber weiter keine Stellung nehmen. Der Betreiber eines dritten Unternehmens im Raum Bad Grönenbach hat seine Milchviehhaltung inzwischen eingestellt. Er hatte im Oktober 2019 eingeräumt, aussortierte Kälber preisgünstig von anderen Landwirten erworben zu haben. Diese seien teilweise krank gewesen, die Behandlungskosten habe er nicht stemmen können.
Nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe kündigte Verbraucherschutzminister Thorsten Glauber (Freie Wähler) eine Reform der Tierschutzkontrollen in Bayern an. Seitdem sind nach Angaben des Ministeriums 70 neue Stellen in der Veterinärverwaltung geschaffen worden, davon 25 bei der Kontrollbehörde für
Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (KBLV). Seit dem 1. Juli übernimmt die landesweit zuständige Behörde die Überwachung von Großbetrieben mit Kapazitäten für mindestens 600 Rinder.
Trotz leichter Verbesserungen herrsche bei den Veterinärämtern weiter Personalmangel, sagt der Vorsitzende des Landesverbands der beamteten Tierärzte in Bayern, Jürgen Schmid. So sind im Landkreis Unterallgäu derzeit sechs Tierärzte für etwa 130 000 Tiere von 1484 Rinderhaltern zuständig – dazu kommen knapp 5000 Halter anderer Tiere. Im Landkreis Oberallgäu überwachen sechs Veterinäre fast 6000 Tierhalter. Die Zahl der Betriebe im Unterund Oberallgäu, für die jetzt die KBLV zuständig ist: drei.
Neben dem andauernden Personalmangel sieht Schmid aber vor allem den Vollzug bei Tierhaltungsverboten als Problem. „Bei 60 Tieren ist es möglich, sie woanders unterzubringen“, sagt Schmid. „Aber wie will man einem Landwirt 1300 Tiere wegnehmen und sie so unterbringen, dass es ihnen besser geht?“Dazu komme, dass Halter bei schwerwiegenden Verstößen das behördliche Vorgehen durch Einsprüche und Klagen blockieren könnten.
„Mit dem Tierschutz-Skandal wurde auch deutlich, dass das Verhältnis von zur Verfügung stehenden Arbeitskräften zu den damit zu betreuenden Tieren nicht mehr zusammenpasst“, sagt Hans Foldenauer, Sprecher des Bunds Deutscher Milchviehhalter. Das gelte auch für kleinere und mittlere Betriebe. „Das führt jedoch irgendwann zum Kollaps, sowohl bei den Tieren als auch den Menschen.“Die Agrarpolitik müsse EU-weit neu ausgerichtet werden, um Betrieben so viel Einkommen zu ermöglichen, dass sie sich „eine entsprechende Ausstattung mit Arbeitskräften leisten können“.
Auch Friedrich Mülln, Vorsitzender des Vereins Soko Tierschutz, sieht die Betriebsstrukturen als größtes Problem: „In dem Moment, wo die Behörden ihren Job machen, bricht das System der industriellen Tierhaltung zusammen“, sagt er. „Dieses Problem ist kein Problem von Bad Grönenbach.“