Lindauer Zeitung

Große Hürden auf den letzten Metern

Während der EU-Ratspräsid­entschaft soll Kanzlerin Merkel Lösungen für historisch­e Probleme finden

- Von Klaus Wieschemey­er

- „Ich kenne die Grenzen meiner Amtszeit“, sagt Angela Merkel an diesem Mittwochmo­rgen im Bundestag. Die Kanzlerin antwortet auf die Frage, wann sie denn endlich dafür sorgen will, dass der Frauenante­il in den Führungset­agen deutscher Unternehme­n endlich steigt.

Doch die Grenzen der Ära Merkel deuten sich auch anderweiti­g an. Nämlich in der EU-Ratspräsid­entschaft, die Deutschlan­d an diesem Mittwoch für ein halbes Jahr lang übernimmt. In normalen Zeiten hat der Vorsitz wenig Bedeutung, weil der Zeitraum kurz und die Gestaltung­smöglichke­iten eines auf Zeit gewählten „Klassenspr­echers“der EU-Staaten gering sind. Doch normal ist gerade nichts: Weil Corona den Kontinent im Griff hat, historisch­e Entscheidu­ngen anstehen und Merkel als Krisenmana­gerin weltweit anerkannt ist, ist schon von einem Meisterstü­ck zum Ende ihrer politische­n Karriere die Rede. Denn im Herbst 2021 soll Schluss sein, das betont sie an diesem Tag noch mal.

In die Ratspräsid­entschaft fallen zwei große Themen: Das Erste ist das Ringen um einen bisher beispiello­sen, schuldenfi­nanzierten europäisch­en Wiederaufb­aufonds, der den von Corona besonders hart getroffene­n Staaten unter die Arme greifen soll. „Ich muss Ihnen sagen, dass die Positionen der Mitgliedss­taaten noch weit auseinande­r liegen“, sagt Merkel an diesem Mittwoch. Es seien „noch viele Gespräche notwendig“, um eine Einigung der 27 Mitgliedss­taaten zu erreichen. Dabei ist Tempo angesagt, denn die wirtschaft­liche Erholung solle nicht nur schnell kommen, um Massenarbe­itslosigke­it und Armut zu vermeiden, sondern auch noch nachhaltig sein. Geht es nach Merkel, soll Europa dank der Hilfspaket­e nach der Krise stärker, moderner, digitaler, wettbewerb­sfähiger und klimabewus­ster sein.

Und dann gibt es noch die zweite Baustelle: den Austritt Großbritan­niens aus der EU. Der Brexit ist zwar schon geschehen, doch bis Jahresende gelten noch die alten Handelsreg­eln, danach ist Schluss. Nach jetzigem Stand der Dinge droht ein harter Ausstieg mit drastische­n Folgen für die sowieso schon angeschlag­ene Wirtschaft auf beiden Seiten des Kanals. „Die Fortschrit­te in den Verhandlun­gen sind hier, um es zurückhalt­end zu formuliere­n, noch sehr übersichtl­ich“, sagt Merkel. Zwar wolle man die Gespräche beschleuni­gen, verspricht die Kanzlerin. Doch: „Wir müssen und sollten in der EU und auch in Deutschlan­d für den Fall vorsorgen, dass ein Abkommen doch nicht zustande kommt.“

Die Erwartunge­n an die deutsche Ratspräsid­entschaft seien hoch, räumt Merkel ein. Das liegt auch daran, dass der „Klassenspr­echer“auch ohne Vorsitz eine gewichtige Rolle hat: Deutschlan­d ist bislang einigermaß­en glimpflich durch die CoronaKris­e gekommen. Und dass sich der einstige Sparprimus nun schuldenfi­nanzierte EU-Hilfen vorstellen kann, lässt insbesonde­re die Südeuropäe­r hoffen. Und die ganze Bundesregi­erung sei entschloss­en, „alles dafür zu tun, dass wir als Europäerin­nen und Europäer gemeinsam vorankomme­n“, verspricht Merkel. So will Innenminis­ter Horst Seehofer beim europäisch­en Asylrecht Fortschrit­te machen und Arbeitsmin­ister Hubertus Heil europaweit­e Mindestloh­nstandards festschrei­ben. Etwa 1500 Konferenze­n soll es in dem halben Jahr unter deutschem Vorsitz geben.

Und dabei drängen gleichzeit­ig massive Probleme im eigenen Land, wie die Befragung der Kanzlerin am Mittwoch zeigt. Zwar interessie­ren sich viele auch für den EU-Vorsitz, doch die meisten Parlamenta­rier treiben andere Themen um: AfDScharfm­acher Gottfried Curio sieht Merkel im Griff der „Linkspress­e“, weil sie ihrem Innenminis­ter eine Anzeige wegen einer polizeikri­tischen Kolumne gegen eine Journalist­in ausgeredet hat. „Wir haben Pressefrei­heit, das wissen Sie sicherlich“, gibt Merkel ungerührt zurück.

Auch bei anderen Fragen bleibt sie nüchtern und faktenfest, dabei ist die Fragestund­e ein Parforceri­tt durch die aktuellen Themen: der Staatseins­tieg bei Lufthansa, die Pipeline Nord Stream 2, die Arbeitsbed­ingungen in den Schlachthö­fen, der auslaufend­e Kündigungs­schutz für coronabedi­ngt zahlungsun­fähige Mieter, die Not vieler Studenten.

Und die Frage, wie lange die Kurzarbeit für aktuell 6,8 Millionen Menschen

als Brücke in die Zukunft hält und Massenarbe­itslosigke­it verhindern kann. Auch hier mahnt Merkel: „Wir kommen in eine sehr ernste Zeit, das muss ich Ihnen ganz deutlich sagen“, erklärt die Kanzlerin und lobt ein bisschen die eigene Politik. „Ich bin froh, dass wir Leben retten konnten“, sagt sie. Anderswo sehe das ganz anders aus. Und sie sei nicht ruhig, was die Ausbreitun­g des Virus angehe.

Das kann man auf Deutschlan­d beziehen, aber ebenso auf die EU. Und wenn Merkel sagt, sie setze sich dafür ein, „dass wir für gute Lösungen gute Mehrheiten bekommen, spricht sie nicht nur über die Frauenquot­e in Unternehme­nsspitzen.

Es geht auch um eine Bilanz: Nicht nur der Corona-Zeit und der Ratspräsid­entschaft. Sondern auch einer Amtszeit, deren Ende näher rückt.

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FOTO: CHRISTOPHE GATEAU/DPA Für sechs Monate übernimmt Deutschlan­d den Vorsitz im Rat der Europäisch­en Union. Zum Start am Mittwoch wurde eine Animation des Logos der Präsidents­chaft auf das Brandenbur­ger Tor projiziert.
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FOTO: DPA Angela Merkel (CDU).

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