Große Hürden auf den letzten Metern
Während der EU-Ratspräsidentschaft soll Kanzlerin Merkel Lösungen für historische Probleme finden
- „Ich kenne die Grenzen meiner Amtszeit“, sagt Angela Merkel an diesem Mittwochmorgen im Bundestag. Die Kanzlerin antwortet auf die Frage, wann sie denn endlich dafür sorgen will, dass der Frauenanteil in den Führungsetagen deutscher Unternehmen endlich steigt.
Doch die Grenzen der Ära Merkel deuten sich auch anderweitig an. Nämlich in der EU-Ratspräsidentschaft, die Deutschland an diesem Mittwoch für ein halbes Jahr lang übernimmt. In normalen Zeiten hat der Vorsitz wenig Bedeutung, weil der Zeitraum kurz und die Gestaltungsmöglichkeiten eines auf Zeit gewählten „Klassensprechers“der EU-Staaten gering sind. Doch normal ist gerade nichts: Weil Corona den Kontinent im Griff hat, historische Entscheidungen anstehen und Merkel als Krisenmanagerin weltweit anerkannt ist, ist schon von einem Meisterstück zum Ende ihrer politischen Karriere die Rede. Denn im Herbst 2021 soll Schluss sein, das betont sie an diesem Tag noch mal.
In die Ratspräsidentschaft fallen zwei große Themen: Das Erste ist das Ringen um einen bisher beispiellosen, schuldenfinanzierten europäischen Wiederaufbaufonds, der den von Corona besonders hart getroffenen Staaten unter die Arme greifen soll. „Ich muss Ihnen sagen, dass die Positionen der Mitgliedsstaaten noch weit auseinander liegen“, sagt Merkel an diesem Mittwoch. Es seien „noch viele Gespräche notwendig“, um eine Einigung der 27 Mitgliedsstaaten zu erreichen. Dabei ist Tempo angesagt, denn die wirtschaftliche Erholung solle nicht nur schnell kommen, um Massenarbeitslosigkeit und Armut zu vermeiden, sondern auch noch nachhaltig sein. Geht es nach Merkel, soll Europa dank der Hilfspakete nach der Krise stärker, moderner, digitaler, wettbewerbsfähiger und klimabewusster sein.
Und dann gibt es noch die zweite Baustelle: den Austritt Großbritanniens aus der EU. Der Brexit ist zwar schon geschehen, doch bis Jahresende gelten noch die alten Handelsregeln, danach ist Schluss. Nach jetzigem Stand der Dinge droht ein harter Ausstieg mit drastischen Folgen für die sowieso schon angeschlagene Wirtschaft auf beiden Seiten des Kanals. „Die Fortschritte in den Verhandlungen sind hier, um es zurückhaltend zu formulieren, noch sehr übersichtlich“, sagt Merkel. Zwar wolle man die Gespräche beschleunigen, verspricht die Kanzlerin. Doch: „Wir müssen und sollten in der EU und auch in Deutschland für den Fall vorsorgen, dass ein Abkommen doch nicht zustande kommt.“
Die Erwartungen an die deutsche Ratspräsidentschaft seien hoch, räumt Merkel ein. Das liegt auch daran, dass der „Klassensprecher“auch ohne Vorsitz eine gewichtige Rolle hat: Deutschland ist bislang einigermaßen glimpflich durch die CoronaKrise gekommen. Und dass sich der einstige Sparprimus nun schuldenfinanzierte EU-Hilfen vorstellen kann, lässt insbesondere die Südeuropäer hoffen. Und die ganze Bundesregierung sei entschlossen, „alles dafür zu tun, dass wir als Europäerinnen und Europäer gemeinsam vorankommen“, verspricht Merkel. So will Innenminister Horst Seehofer beim europäischen Asylrecht Fortschritte machen und Arbeitsminister Hubertus Heil europaweite Mindestlohnstandards festschreiben. Etwa 1500 Konferenzen soll es in dem halben Jahr unter deutschem Vorsitz geben.
Und dabei drängen gleichzeitig massive Probleme im eigenen Land, wie die Befragung der Kanzlerin am Mittwoch zeigt. Zwar interessieren sich viele auch für den EU-Vorsitz, doch die meisten Parlamentarier treiben andere Themen um: AfDScharfmacher Gottfried Curio sieht Merkel im Griff der „Linkspresse“, weil sie ihrem Innenminister eine Anzeige wegen einer polizeikritischen Kolumne gegen eine Journalistin ausgeredet hat. „Wir haben Pressefreiheit, das wissen Sie sicherlich“, gibt Merkel ungerührt zurück.
Auch bei anderen Fragen bleibt sie nüchtern und faktenfest, dabei ist die Fragestunde ein Parforceritt durch die aktuellen Themen: der Staatseinstieg bei Lufthansa, die Pipeline Nord Stream 2, die Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen, der auslaufende Kündigungsschutz für coronabedingt zahlungsunfähige Mieter, die Not vieler Studenten.
Und die Frage, wie lange die Kurzarbeit für aktuell 6,8 Millionen Menschen
als Brücke in die Zukunft hält und Massenarbeitslosigkeit verhindern kann. Auch hier mahnt Merkel: „Wir kommen in eine sehr ernste Zeit, das muss ich Ihnen ganz deutlich sagen“, erklärt die Kanzlerin und lobt ein bisschen die eigene Politik. „Ich bin froh, dass wir Leben retten konnten“, sagt sie. Anderswo sehe das ganz anders aus. Und sie sei nicht ruhig, was die Ausbreitung des Virus angehe.
Das kann man auf Deutschland beziehen, aber ebenso auf die EU. Und wenn Merkel sagt, sie setze sich dafür ein, „dass wir für gute Lösungen gute Mehrheiten bekommen, spricht sie nicht nur über die Frauenquote in Unternehmensspitzen.
Es geht auch um eine Bilanz: Nicht nur der Corona-Zeit und der Ratspräsidentschaft. Sondern auch einer Amtszeit, deren Ende näher rückt.
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