Lästiger als ein Zahnarztbesuch
Putin sichert sich das Recht auf zwei weitere Amtszeiten – Wirklich begeistert ist das Wahlvolk aber nicht
- Die Frau vor dem Wahllokal 151 trägt eine dunkle Sonnenbrille und lächelt: „Klar, ich habe mit Ja gestimmt, für das zarische, für das sowjetische, das heutige Russland, dafür, dass wir alle zusammenbleiben.“Ihr Begleiter nimmt die Sonnenbrille ab, seine Locken sind grau, die Augen nachdenklich. „Wir stammen beide aus Abchasien, ich habe dort 1992 gekämpft, im Krieg gegen die Georgier, ich weiß, was Zusammenbruch bedeutet.“Natürlich, Putins System sei totalitär, Putin habe alles an sich gerissen. „Aber er bedeutet Stabilität.“Der Mann aus der von Russland unterstützten, international aber noch immer isolierten Rebellenrepublik, holt Zigaretten heraus. „Rauchen Sie auch eine?“
Auf dem Wahllokal 151 in Moskau lasten vier Stockwerke Backstein und Stahl, am Eingang schimmert neben dem weißrotblauen Plakat „Unser Land, unsere Verfassung, unsere Entscheidung“eine kleine Tafel: „Museum der Geschichte des Gulags“. Eine der wenigen russischen Gedächtnisstätten für den Archipel Gulag, das System der sowjetischen Straflager, wo Millionen Unschuldige umkamen. Auch im Museum wurde eine Woche über die Verfassungsreform abgestimmt, die schließlich Wladimir Putin, dem Mann aus den sowjetischen Sicherheitsorganen, den Weg zu zwei weiteren Amtszeiten als russischer Staatschef eröffnet.
Es sind träge Sommertage in Russland. Fast scheint es, als liege die Wählerschaft noch im Dornröschenschlaf, aus dem sie die Obrigkeit wachzurütteln sucht. Seit Wochen beteuern Promis, Kriegsveteranen oder Kinder in den Werbefilmen für die Abstimmung, die Würde, Gesundheit und Karrierechancen der Russen hingen von der neuen Verfassung ab.
Ein Video der Zentralen Wahlkommission zeigt eine junge Frau. Sie schlägt sich mit Hausputz und Kindern rum, ihr Mann faulenzt auf dem Sofa, bis sie ihn anfährt, er solle endlich auch etwas tun. Er verschwindet, kehrt zurück, als aufgeräumt ist und die Kinder schlafen. Wo er gewesen ist? „Abstimmen, für die Verfassung. Geh du auch, tu etwas Nützliches!“Kein Wunder, dass viele Russinnen am Nutzwert dieser Abstimmung zweifeln. „Für sowas habe ich keine Zeit“, erklärt Jana, eine Moskauer Juristin. „Ich muss mein Kind beim Zahnarzt anmelden.“
Verfassungsänderungen, die lästiger sind als ein Zahnarztbesuch, obwohl das Staatsfernsehen immer wieder ihre soziale und sittliche Unverzichtbarkeit beteuert. Und obwohl es dabei hartnäckig jene etwas umständlich formulierten Sätze in Artikel 81, Absatz 3, verschweigt, die es Wladimir Putin ermöglichen, bis 2036 Präsident zu bleiben.
Vor dem Votum gab es immer mehr Putin auf den Bildschirmen. Seit Monaten redet er in Sondersendungen live und ausführlich auf das Fernseh-Volk ein, am Ende mehrfach wöchentlich. Dass Putin in einem hermetischen Gummianzug durch eine Corona-Klinik tappte, feiert das Staatsfernsehen noch nach Monaten, als hätte er wie der junge Napoleon einen Pestkranken geküsst. Aber viele Russen scheinen sich an ihrem Staatschef satt gesehen zu haben, laut dem unabhängigen Levada-Zentrum lag Putins Vertrauensrate im Mai bei 25 Prozent, im Januar waren es noch 35 Prozent.
Vielleicht deshalb hat man die Abstimmung auf eine Woche gestreckt. Ein BBC-Reporter geriet zufällig in einen WhatsApp-Chat, in dem Mitarbeiter der Moskauer UBahn Gewerkschaftsfunktionären Rechenschaft ablegen mussten, dass sie votiert hatten – zum Teil per Screenshots. In vielen Regionen zogen mobile Gruppen durch Wohnblocks, um vor allem Rentner zur Abstimmung zu überreden. Provisorische Wahllokale wurden vor Supermärkten, sogar in Hausfluren aufgebaut, man lockte die Urnengänger mit Lotterielosen, bei denen in Moskau Kinokarten, im sibirischen Omsk sogar Wohnungen gewinnen konnte. Laut der Zeitung „Kommertscheskie Westi“waren viele Lose gezinkt. Und zufälligerweise gewann die Leiterin des Wahllokals Nummer 1352 eine Einraumwohnung.
Der Aufwand scheint sich aber auch für Putin gelohnt zu haben. Allerdings bezweifeln unabhängige Medien angesichts dokumentierter Fälle von Mehrzeitvotierern, Masseneinwurf von Wahlzetteln und Stimmenkauf die offiziellen Zahlen. Alternative Exit Polls der Oppositionsgruppe Njet meldeten am Mittwoch stark abweichende Zahlen. Und die Oppositionsaktivistin Natalja Subkowa aus der sibirischen Stadt Kiseljowsk erzählt, sie werde erst am Abend ins Wahllokal gehen. „Aber ich stimme nicht ab, ich schaue nur, welche meiner Nachbarn auf der Wahlliste stehen. Die will ich dann fragen, ob sie wirklich abgestimmt haben.“Das könne lustig werden.
Auch andere Russen halten eine Teilnahme für eher müßig. Ganz Unrecht haben sie nicht: In Moskauer Buchläden lag die neue Verfassung mit Putins gestrichenen Amtszeichen schon im Regal, als die Abstimmung noch im vollen Gange war.
Auf dem Kinderspielplatz gegenüber dem Gulag-Museum sitzt ein junges Pärchen auf der Bank. Sie reden und lachen. Aber auf die neue Verfassung angesprochen wird der Ingenieurstudent sofort ernst. Er werde dagegen stimmen. „Ich bin kein Oppositioneller. Aber warum sollen Ehen nur aus Frau und Mann bestehen, ich habe nichts gegen Schwule. Auch diese ,Gott mit Russland’-Rhetorik gefällt mir nicht.” Aber vor allem wolle er nicht ewig von Putin regiert werden.