Lindauer Zeitung

Exodus auch ohne Skandal

- Von Ludger Möllers

- Die Zahl allein ist gewaltig: Mehr als 540 000 Menschen sind im vergangene­n Jahr aus den beiden großen Kirchen ausgetrete­n. Etwa gleich viele Einwohner zählen Großstädte wie Hannover, Nürnberg oder Dresden. Doch während Unmut über den eigenen Pfarrer, Ärger über den Missbrauch­sskandal in der katholisch­en Kirche oder ungelöste Machtfrage­n als klassische Gründe für den Kirchenaus­tritt seit Jahren und immer wieder genannt werden, ist bei Gesprächen mit Austrittsa­spiranten ein anderer, tiefer gehender Trend zu erfahren: „Die Substanz des Glaubens geht verloren.“„Die Kirchen haben keine Relevanz mehr zu verkünden.“„Eine Epoche geht zu Ende.“

Vor-Ort-Termin am Ulmer Rathaus. Im dortigen Standesamt ist der Kirchenaus­tritt nach Terminabsp­rache möglich und schnell erledigt. 32 Euro für Gebühren fallen an: „Nach der Beurkundun­g wird der Kirchenaus­tritt sofort wirksam. Ihre Kirchenste­uerpflicht endet jedoch erst mit Ablauf des Monats, in dem Sie den Kirchenaus­tritt erklären.“Doch im Gespräch wird deutlich: Den wenigsten Menschen, die ihrer Kirche den Rücken kehren, geht es ums Geld. „Die Kirche hat uns nichts mehr zu sagen“, begründet eine 27-Jährige aus einem Ulmer Stadtteil, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. Die junge Frau möchte daheim nicht auf ihren Schritt angesproch­en werden: Gerade in kleinen Dörfern ist die soziale Bindung in und durch die Kirchen noch hoch.

Doch in der anonymen Großstadt fallen die Hemmungen schneller, der Austritt ist häufig nur noch Formsache. Die Religion, die jahrhunder­telang im Sinne von „Rückbindun­g an Gott“zu verstehen war und so gelebt wurde, bindet eben nicht mehr. Lange Phasen der Entfremdun­g, fehlende emotionale Bindung, das Frauenbild, der Zölibat in der katholisch­en Kirche sowie die Diskrepanz zu ethischen Positionen, Unglaubwür­digkeit der Geistliche­n, persönlich­e Enttäuschu­ngen und kirchliche Skandale sind Austrittsg­ründe, die in Studien am häufigsten genannt werden.

Der katholisch­e Kirchenrec­htler Thomas Schüller weist darauf hin,

Der Exodus aus den beiden großen Kirchen hat vergangene­s Jahr zusätzlich Fahrt aufgenomme­n. Es traten noch mal deutlich mehr Menschen aus als vorher – auch ganz ohne aktuellen Skandal.

Bei den Katholiken kehrten 272 771 Menschen der Kirche den Rücken, 26 Prozent mehr als 2018. Dies ist die bisher höchste Zahl überhaupt. Bei den Protestant­en traten etwa 270 000 Menschen aus der Kirche aus, rund 22 Prozent mehr als im Vorjahr. Auch hier: Höchstzahl­en. Es gibt jetzt in Deutschlan­d noch 22,6 Millionen Katholiken und 20,7 Millionen Protestant­en.

In den letzten 20 Jahren hat die katholisch­e Kirche rund 15 Prozent ihrer Mitglieder verloren und die evangelisc­hen Kirchen im selben Zeitraum mehr als 20 Prozent.

Mehr als 44 000 Katholiken traten im Südwesten aus ihrer Kirche aus: fast 21 900 im Bistum Rottenburg-Stuttgart (2018: 17 500) und fast 22 300 im Erzbistum Freiburg (2018: rund 18 000). Ende 2019 gehörten noch etwa 3,58 Millionen Menschen im dass die Austrittsw­elle unabhängig von aktuellen Ereignisse­n erfolgt: „Ohne erkennbare Skandale verliert die katholisch­e Kirche jegliche Bindungskr­aft, und es wirkt so, als müsse ein Katholik eher begründen, warum er in seiner Kirche bleibt.“Insbesonde­re Frauen, die bisher in Pfarreien engagiert mitgearbei­tet hätten, zögen zunehmend die Konsequenz­en aus einer fehlenden Bereitscha­ft zur Veränderun­g.

Und manchmal reicht ein kleiner Anlass aus, um den lange feststehen­den Entschluss zum Austritt umzusetzen und den Termin beim Standesamt zu fixieren: „Unser Pastor hat keinen Wunschterm­in

Land der katholisch­en Kirche an (2018: 3,64 Millionen).

Den beiden evangelisc­hen Landeskirc­hen kehrten mehr als 37 800 Mitglieder den Rücken, davon 24 100 in Württember­g und 13 700 in Baden. „Dies ist die höchste Zahl an Austritten bisher“, teilte die württember­gische Landeskirc­he für ihren Bereich mit. Innerhalb von nur vier Jahren hat sich die Zahl mehr als verdoppelt. Die Landeskirc­he hatte Ende vergangene­n Jahres rund 1,96 Millionen Mitglieder (2018: 1,99 Millionen). In Baden gibt es noch rund 1,12 Millionen Protestant­en (2018: 1,14 Millionen).

Sorgen machen sich die Verantwort­lichen vor allem um die Gruppe der 25- bis 35-Jährigen, in der die Zahl der Austritte landesweit besonders hoch ist.

Laut württember­gischer Landeskirc­he ist auch die Wahrschein­lichkeit eines Austritts bei Mitglieder­n über 60 Jahren um rund 50 Prozent im Vergleich zum Jahr zuvor gestiegen. Die Kirche will daher im Herbst eine Untersuchu­ng starten. (dpa) für die Taufe unseres Babys akzeptiert.“„Der Pfarrer hat schlecht gepredigt.“

Die Antworten der Kirchenlei­tung bestätigen die kleine Umfrage in Ulm: Das Erscheinun­gsbild der Kirche und eine nicht mehr zeitgemäße Haltung seien entscheide­nd für einen Austritt, sagt Matthäus Karrer, der aus Wangen im Allgäu stammende Weihbischo­f der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Ausgetrete­ne berichtete­n davon, sie hätten keine Geduld mehr und sprächen der Kirche jede Reformkraf­t ab. „Zentrale Punkte sind dabei: Macht- und Hierarchie­wahrnehmun­g, gleichbere­chtigter Zugang von Frauen zu allen Weiheämter­n und die Sexualmora­l.“Diese Punkte sollen im Reformproz­ess des Synodalen Wegs angegangen werden: Innerkirch­lich ist aber umstritten, ob diese Bemühungen ausreichen.

Die katholisch­e Theologiep­rofessorin Julia Knop sieht im Anstieg der Kirchenaus­tritte auf den höchsten jemals erreichten Wert den „Skandal einer Erosion von innen“. Nachdem das Jahr 2018 mit Vorlage der sogenannte­n MGH-Studie zum Ausmaß des Missbrauch­sskandals in der katholisch­en Kirche gezeigt habe, dass Krisen Mitglieder kosten, habe die beginnende Reformdeba­tte 2019 keine Trendwende gebracht, stellt die Erfurter Dogmatik-Professori­n fest. „Kein Wunder, Reformfähi­gkeit ist erst zu beweisen. Die Marginalis­ierung der Institutio­n wird dadurch nicht aufgehalte­n.“Inzwischen treibe es sogar „die aus der Kirche, denen sie etwas bedeutet“, so Knop weiter. Diese Menschen bräuchten „eine Kirche, für die Zeitgenoss­enschaft kein Unwort, sondern ein Anliegen ist“.

Der Vorsitzend­e der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d, Heinrich Bedford-Strohm, bedauert: „Die aktuellen Zahlen bedrücken uns.“Er verspricht: „Die Kirche will sich verändern und tut dies jetzt schon.“Doch: Dass dieser Prozess keine Trendwende herbeiführ­en wird, gilt unter Wissenscha­ftlern als ausgemacht. Es geht nicht mehr um Fragen nach binnenkirc­hlichen Strukturen.

Der Münsterane­r Religionss­oziologe Detlef Pollack sieht die Ursache der hohen Austrittsz­ahlen der katholisch­en und evangelisc­hen Kirche tiefer als im aktuellen Erscheinun­gsbild: Er analysiert einen Traditions­abbruch und eine mangelnde gesellscha­ftliche Relevanz der Kirchen. Die Weitergabe des Glaubens von der Elterngene­ration auf die Kinder funktionie­re nicht mehr, sagt Pollack. In repräsenta­tiven Umfragen für Deutschlan­d

ANZEIGE gäben mehr als 70 Prozent der über 65-Jährigen an, religiös erzogen worden zu sein. Bei den unter 25Jährigen seien es hingegen nicht einmal 30 Prozent. „Das ist ein ganz entscheide­nder Punkt: Selbst wenn die Menschen nicht aus der Kirche austreten, geben sie den Glauben innerhalb der Familie nicht weiter“, sagte Pollack. Es seien vor allem die Jüngeren, die dann austreten.

Dieser Faktor verschränk­e sich mit einem zweiten: „Die Kirchen haben an sozialer und politische­r Relevanz verloren, sagt Pollack. Die Kirchen seien nicht mehr wie noch vor 50 Jahren in der Lage, die politische Diskussion zu beeinfluss­en.

Sie seien zu sekundären Institutio­nen geworden, die sich zwar noch in der öffentlich­en Debatte zu Wort meldeten, etwa zu sozialer Gerechtigk­eit oder Migrations­politik. Sie würden immer mehr zu einer Stimme unter vielen.

Doch vielleicht gehören Beiträge zur politische­n Debatte gar nicht zu den Kernaufgab­en der Kirchen? Im Ruhrgebiet, wo die Austrittsz­ahlen deutlich höher als im Rest der Republik liegen, urteilte Klaus Pfeffer, Generalvik­ar im Bistum Essen schon 2016: „In unserer Kirche gibt es zu wenig Raum für das offene und ehrliche Ringen der Menschen um die Fragen des Lebens – und vielleicht auch um die Frage nach Gott.“Seine Erfahrung: „Es muss nachdenkli­ch machen, dass mit dem Kirchenaus­tritt für den einzelnen Menschen häufig keineswegs ein Glaubensve­rlust verbunden ist. Vielmehr zeigt sich eine erhebliche Entfremdun­g zwischen dem einzelnen Menschen und der Kirche.“Pfeffers Fazit: Der Glaube ist noch immer da, aber mit der Kirche in ihrer heutigen Gestalt können viele Menschen nichts mehr anfangen.

Ist der Glaube an Gott wirklich noch da, nur nicht mehr kirchlich gebunden? Zweifel sind angebracht. In Tuttlingen schreiben die beiden katholisch­en Priester Matthias Koschar und Richard Grotz jedem Ex-Katholiken einen persönlich­en Brief und bieten ein Gespräch an – und wissen auch nicht mehr. Dekan Matthias Koschar, der seit über 20 Jahren in Tuttlingen wirkt, sagt: „Bei uns treten pro Jahr etwa 100 Menschen aus der Kirche aus. Auf unsere Briefe antwortet vielleicht einer von ihnen, aber nur ganz wenige wollen mit uns über die Gründe oder gar den Glauben sprechen.“Die Mitgliedsc­haft in der Kirche werde „ähnlich wie ein Vertrag mit einem Fitnessstu­dio wahrgenomm­en: Wenn ich dort nicht mehr hingehe, kündige ich auch. Aus der Kirche, in die ich nicht mehr gehe, trete ich aus.“Fünf oder sechs Wiedereint­ritte zählt der 55-Jährige.

Doch Koschar bleibt zuversicht­lich: „Unsere Aufgabe ist es, das Evangelium zu verkünden, mit Gottvertra­uen wird es weitergehe­n.“

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