Du weißt, dass du aus Gütersloh bist ...
... wenn im Deutschlandurlaub dein Auto zerkratzt wird – Ein Kreis lebt mit dem Corona-Stigma
(dpa) - Es ist Sommerferienzeit, viele Deutsche packen ihre Autos voll und fahren in den Urlaub. Das gilt – trotz allem – auch für die Bewohner des Kreises Gütersloh, die Nordsee etwa ist ja nicht weit. Nach den Erfahrungen der vergangenen Wochen dürfte bei nicht wenigen von ihnen aber ein Gedanke mit auf Reisen gehen, der nicht so recht in ein Ferienidyll passt: Bin ich willkommen?
Der Grund sind Geschichten über schiefe Blicke, unangenehme Fragen und zerkratzte Autos mit dem Kennzeichen „GT“, die die Runde machen. Sie tauchten auf, nachdem der Coronavirus-Ausbruch in der TönniesFleischfabrik dem Landkreis zu ungewollter Prominenz verholfen hatte. Der Eindruck, den viele seiner Bewohner dabei entwickelten: RestDeutschland zeigt mit dem Finger auf uns. Und geht dabei mitunter so weit, uns die Autos zu demolieren.
Im Einzelnen sind die Berichte über diese Fälle schwer nachzuzeichnen. Wurde ein Auto zerkratzt, weil es eigenwillig geparkt war? Oder tatsächlich, weil es aus Gütersloh kam und da vermeintlicherweise das Coronavirus haust? Forscher sind von der zweiten Erklärung übrigens keineswegs überrascht. „Grundsätzlich gibt es drei Reaktionsmuster auf Gefahren. Die gibt es schon seit der Frühzeit der Menschheit, als unsere Urahnen ihren Lebensraum vom Dschungel in die Savanne verlegten“, sagt der Potsdamer Risikoforscher Ortwin Renn („Das Risikoparadox:
Warum wir uns vor dem Falschen fürchten“). Diese Reaktionsmuster seien: Flucht, Kampf und Totstellen.
Absurde Reaktionen auf die Corona-Pandemie – etwa das Zerkratzen eines Autos, das kein einziges Virus aufhalten wird – ordnet Renn vor allem dem Kampf-Muster zu. „Menschen, die diesem Muster folgen, sind versessen darauf, bei einer Bedrohung irgendetwas zu tun, um der Bedrohung aktiv entgegenzutreten. Das Virus selbst kann man aber nicht bekämpfen, dem kann man nicht im Boxring begegnen. Deshalb werden Stellvertreter gesucht.“Oft seien es Menschen aus dem Ausland, bei Corona anfangs etwa Chinesen. Darauf seien die angeblich zu laxen oder auch die als übertrieben vorsichtig eingeschätzten Menschen gefolgt. „Und schließlich sind es die Bewohner aus Kreisen, die besonders belastet sind“, sagt Ortwin Renn. „Die haben jetzt das Nachsehen.“
Eigentlich könnte der Drang, unbedingt etwas tun zu wollen, sogar positiv sein: Man geht für den Nachbarn einkaufen, man engagiert sich. „Er kann aber auch ins Irrationale umschlagen“, so Renn. „Vor allem dann, wenn sich Aggressionen über einen längeren Zeitraum angestaut haben.“Wie in den Corona-Monaten. Mit Statistiken, die zeigen, dass natürlich keineswegs der halbe Kreis Gütersloh mit Corona infiziert ist, ist dann kaum mehr jemandem nicht beizukommen.
Der Münchner Psychologe Simon Hahnzog sagt, der „dahinterliegende Mechanismus“sei aus sozialpsychologischer Perspektive schlichtweg als Diskriminierung zu bezeichnen. „Menschen aus Gütersloh wird zugeschrieben, dass sie gefährlich sind, weil sie womöglich ein Virus in sich tragen und lax mit der ganzen Sache umgehen. Das ist eine unbewusste Gedankenspirale, die losgetreten wird, keine bewusste.“
Das Besondere in diesem Fall sei natürlich, dass jemand aus Ostwestfalen per se nicht anders aussieht als jemand aus München. „Deswegen wird plötzlich das Autokennzeichen so relevant. Die fallen auf und dienen als Projektionsfläche“, sagt Hahnzog, der unter anderem am Podcast „Coronaphobie – Wie wir jetzt mit unseren Ängsten umgehen können“beteiligt ist. Wenn ein Auto zerkratzt werde, sei das Aggressionsübertragung, gehe es gar nicht um ein Virus. „Wenn man sich daran abreagiert hat, wirkt das in der ersten Sekunde auch ein bisschen beruhigend. Derjenige fühlt sich dann selbst wieder eigenverantwortlich handelnd. Er sagt sich: ,Ich habe wenigstens etwas getan.‘“
Ein schwacher Trost für die so geplagten Gütersloher: Es kann bald schon andere treffen, in deren Gegend die Pandemie plötzlich wieder aufflammt. „Das ist zu erwarten. Zumindest, wenn es so abgrenzbar ist“, sagt Simon Hahnzog. „Das ist komplett austauschbar, solange nicht eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung mal so eine Erfahrung gemacht hat.“