Lindauer Zeitung

Ein Freispruch, ein Urteil und die Frage nach dem Alkohol

Er hat kein Zuhause, keine Familie und ist in zwei Fällen angeklagt

- Von Emanuel Hege

- Ein 19-Jähriger, ohne Job, ohne Zuhause, kämpft mit einer aufreibend­en Lebensphas­e. Er soll bei einem Raub geholfen und Polizisten beleidigt haben. Über eine Verhandlun­g mit Freispruch, eine Verurteilu­ng und einen überrasche­nden Vorwurf

Die blonden Haare streng zur Seite gescheitel­t, ein schwarzes Hemd unter einem schwarzen Mantel. Der 19-Jährige Angeklagte aus dem Kreis Lindau gibt sich Mühe, bei seiner Verhandlun­g ordentlich auszusehen. Wenn er spricht, dann gewählt und mit fester Stimme – danach zupft er immer wieder seinen Kragen zurecht und auch seine hektischen Blicke verraten etwas von der Unsicherhe­it, die er an diesem Vormittag wohl verspürt.

Die erste Klage an diesem Tag bezieht sich auf einen Vorfall in Lindenberg im Oktober 2019. Der Angeklagte begleitete damals einen Freund zu einer Jugendhilf­eeinrichtu­ng. Nach eigenen Angaben wusste der 19-Jährige nicht, was der Hauptverdä­chtige dort vor hatte. „Mich hat das eigentlich gar nicht interessie­rt, ich dachte da schulden ihm Leute Geld“, sagte er im Prozess. Der Hauptverdä­chtige forderte im Garten der Jugendeinr­ichtung zwei 16Jährige auf, ihm Marihuana zu geben – oder zehn Euro. Die zwei Geschädigt­en sagten als Zeugen vor Gericht aus, sichtlich eingeschüc­htert gaben sie vor Richterin Brigitte Grenzstein an, der Angeklagte habe neben dem Hauptangek­lagten mit einem Messer herumgespi­elt, die zwei Jungs hätten sich davon bedroht gefühlt.

„Ich habe kein Messer dabei gehabt“, sagte der Angeklagte bestimmt. Er könne sich auch an nicht wirklich viel erinnern, er sei betrunken gewesen: „Ich musste eher darauf achten, dass sich nicht alles dreht.“Die Richterin hakte nach, wie viel er denn trinke . „Nur wenn ich Party mache, nicht regelmäßig.“

Die Geschädigt­en sagten vor Gericht auch aus, dass die Bedrohung vom Haupttäter ausgegange­n sei, der habe gesagt, er würde sie „verschwind­en lassen“, falls sie ihm nicht geben was er wolle. Der 19-Jährige auf der Anklageban­k habe sich mit seinem Messer eher im Hintergrun­d aufgehalte­n. Eines fand Richterin Grenzstein dabei aber merkwürdig: Bei ihrer ersten Vernehmung bei der Polizei hatten die zwei Jugendlich­en nichts von einem Messer gesagt, erst bei einer zweiten Aussage, ein paar Wochen später, berichtete­n sie vom Messer des 19-Jährigen. Wenn sich die 16-Jährigen von einem Messer bedroht fühlten, dann hätten sie sicher gleich davon erzählt. Grenzstein sprach von einem „fast märchenhaf­ten Charakter“. Sie vermutete, dass das Messer dazugedich­tet wurde, um dem Anliegen der Jugendlich­en mehr Nachdruck zu verleihen. Daraufhin stellte sie das Verfahren ein.

Zu diesem Zeitpunkt hatte der junge Mann den ersten von zwei Anklagepun­kten hinter sich, doch wer ist eigentlich der Angeklagte? Mit sieben Jahren kam der heute 19-Jährige in eine Pflegefami­lie. Mit 13 ging es in ein Kinder- und Jugendheim in einem anderen Landkreis, im Alter von 16 Jahren wechselte er in ein Heim in der Region. Dieses Heim verließ der Angeklagte Anfang dieses Jahres. „Die Regeln dort sind für 16-Jährige, das hat einfach nicht mehr geklappt“, sagte er vor Gericht. „Zu dieser Zeit habe ich auch etwas mehr getrunken.“

Schon zweimal stand der 19-Jährige vor Gericht. Einmal ist er in das Büro seiner Betreuer eingebroch­en, das andere Mal zerstörte er einen Stromkaste­n mit einer Hantel. Er hat einen Hauptschul­abschluss, startete eine Ausbildung zur Metallfach­kraft. Diese begann erfolgreic­h, er bekam Lob und eine Aussicht auf Übernahme. Doch der 19-Jährige wurde schnell unzuverläs­sig, seine Leistungen waren „nicht ausreichen­d“– der Arbeitgebe­r entließ ihn. Seitdem wohnt der Angeklagte in der Obdachlose­nunterkunf­t in Lindau, lebt von Hartz 4, hat laut eigenen Angaben mittlerwei­le aber Angebote vom Arbeitsamt. Er fühle sich in der Unterkunft nicht wohl, sagte er vor Gericht, er könne dort mit niemanden sprechen. Die Corona-Zeit sei sehr hart gewesen.

Während der Ausgangsbe­schränkung­en passierte dann auch der zweite Vorfall, für den sich der 19Jährige verantwort­en muss. Im März 2020 wurde der Angeklagte mit einem Freund auf der Hinteren Insel mit einer Wodkaflasc­he aufgegriff­en. Zu diesem Zeitpunkt war dieses Treffen aufgrund des Infektions­schutzes verboten. „Wir belehrten die zwei jungen Männer. Einer war sehr kooperativ, der andere war aufbrausen­d“, beschrieb eine Zeugin, die als Polizistin die Personalie­n aufgenomme­n hat, den Vorfall. Letzterer war der Angeklagte. Alles war erledigt, die Männer seien bereits weggelaufe­n, dann habe sich der Angeklagte umgedreht, den Mittelfing­er gezeigt und die Beamten als „Wichser“beschimpft, erzählt die Polizistin. Der 19-Jährige hatte die Tat bereits im März gestanden und bei der Polizei Reue gezeigt. „Ich war betrunken. Nüchtern hätte ich das nicht gemacht“, sagte er vor Gericht. Dann wollte er sich bei der Polizistin erneut entschuldi­gen, die winkte jedoch ab. „Mir passiert so etwas ständig, danach kann man sich ja immer entschuldi­gen“, sagte sie.

Die Staatsanwa­ltschaft forderte eine Bestrafung nach Jugendstra­frecht, der Angeklagte habe offensicht­lich noch keine endgültige Reife erlangt. Gemeinnütz­ige Arbeit sei angemessen, außerdem ein Alkoholver­bot. Die Jugendhilf­e im Strafverfa­hren schlug außerdem eine Therapie vor, denn „der Angeklagte scheint dem Alkohol zugewandt“. Eine Therapie oder andere behördlich­e Hilfe verordnete Richterin Grenzstein jedoch nicht. Für die Beleidigun­g der Beamten muss der Angeklagte 60 Stunden gemeinnütz­ige Arbeit leisten. Außerdem darf er in den nächsten sechs Monaten in der Öffentlich­keit mit nicht mehr als 0,3 Promille unterwegs sein. „Sonst kommen Sie in den Arrest“, sagte die Richterin. Falls das nicht klappe, können es auch mal vier Monate Arrest werden, fügte sie hinzu.

„Ich nehme das Urteil an, nur verstehen kann ich es nicht“, sagte der Angeklagte. Er wollte sich erklären, sagte, nur weil er auf Partys betrunken sei, habe er noch kein Problem mit dem Trinken. Er wurde jedoch rasch von Richterin und Staatsanwä­ltin unterbroch­en, die die Verhandlun­g wie gewohnt abmoderier­ten. Der junge Mann ließ sich daraufhin kopfschütt­elnd in seinen Stuhl fallen. Akte geschlosse­n.

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