Ein Freispruch, ein Urteil und die Frage nach dem Alkohol
Er hat kein Zuhause, keine Familie und ist in zwei Fällen angeklagt
- Ein 19-Jähriger, ohne Job, ohne Zuhause, kämpft mit einer aufreibenden Lebensphase. Er soll bei einem Raub geholfen und Polizisten beleidigt haben. Über eine Verhandlung mit Freispruch, eine Verurteilung und einen überraschenden Vorwurf
Die blonden Haare streng zur Seite gescheitelt, ein schwarzes Hemd unter einem schwarzen Mantel. Der 19-Jährige Angeklagte aus dem Kreis Lindau gibt sich Mühe, bei seiner Verhandlung ordentlich auszusehen. Wenn er spricht, dann gewählt und mit fester Stimme – danach zupft er immer wieder seinen Kragen zurecht und auch seine hektischen Blicke verraten etwas von der Unsicherheit, die er an diesem Vormittag wohl verspürt.
Die erste Klage an diesem Tag bezieht sich auf einen Vorfall in Lindenberg im Oktober 2019. Der Angeklagte begleitete damals einen Freund zu einer Jugendhilfeeinrichtung. Nach eigenen Angaben wusste der 19-Jährige nicht, was der Hauptverdächtige dort vor hatte. „Mich hat das eigentlich gar nicht interessiert, ich dachte da schulden ihm Leute Geld“, sagte er im Prozess. Der Hauptverdächtige forderte im Garten der Jugendeinrichtung zwei 16Jährige auf, ihm Marihuana zu geben – oder zehn Euro. Die zwei Geschädigten sagten als Zeugen vor Gericht aus, sichtlich eingeschüchtert gaben sie vor Richterin Brigitte Grenzstein an, der Angeklagte habe neben dem Hauptangeklagten mit einem Messer herumgespielt, die zwei Jungs hätten sich davon bedroht gefühlt.
„Ich habe kein Messer dabei gehabt“, sagte der Angeklagte bestimmt. Er könne sich auch an nicht wirklich viel erinnern, er sei betrunken gewesen: „Ich musste eher darauf achten, dass sich nicht alles dreht.“Die Richterin hakte nach, wie viel er denn trinke . „Nur wenn ich Party mache, nicht regelmäßig.“
Die Geschädigten sagten vor Gericht auch aus, dass die Bedrohung vom Haupttäter ausgegangen sei, der habe gesagt, er würde sie „verschwinden lassen“, falls sie ihm nicht geben was er wolle. Der 19-Jährige auf der Anklagebank habe sich mit seinem Messer eher im Hintergrund aufgehalten. Eines fand Richterin Grenzstein dabei aber merkwürdig: Bei ihrer ersten Vernehmung bei der Polizei hatten die zwei Jugendlichen nichts von einem Messer gesagt, erst bei einer zweiten Aussage, ein paar Wochen später, berichteten sie vom Messer des 19-Jährigen. Wenn sich die 16-Jährigen von einem Messer bedroht fühlten, dann hätten sie sicher gleich davon erzählt. Grenzstein sprach von einem „fast märchenhaften Charakter“. Sie vermutete, dass das Messer dazugedichtet wurde, um dem Anliegen der Jugendlichen mehr Nachdruck zu verleihen. Daraufhin stellte sie das Verfahren ein.
Zu diesem Zeitpunkt hatte der junge Mann den ersten von zwei Anklagepunkten hinter sich, doch wer ist eigentlich der Angeklagte? Mit sieben Jahren kam der heute 19-Jährige in eine Pflegefamilie. Mit 13 ging es in ein Kinder- und Jugendheim in einem anderen Landkreis, im Alter von 16 Jahren wechselte er in ein Heim in der Region. Dieses Heim verließ der Angeklagte Anfang dieses Jahres. „Die Regeln dort sind für 16-Jährige, das hat einfach nicht mehr geklappt“, sagte er vor Gericht. „Zu dieser Zeit habe ich auch etwas mehr getrunken.“
Schon zweimal stand der 19-Jährige vor Gericht. Einmal ist er in das Büro seiner Betreuer eingebrochen, das andere Mal zerstörte er einen Stromkasten mit einer Hantel. Er hat einen Hauptschulabschluss, startete eine Ausbildung zur Metallfachkraft. Diese begann erfolgreich, er bekam Lob und eine Aussicht auf Übernahme. Doch der 19-Jährige wurde schnell unzuverlässig, seine Leistungen waren „nicht ausreichend“– der Arbeitgeber entließ ihn. Seitdem wohnt der Angeklagte in der Obdachlosenunterkunft in Lindau, lebt von Hartz 4, hat laut eigenen Angaben mittlerweile aber Angebote vom Arbeitsamt. Er fühle sich in der Unterkunft nicht wohl, sagte er vor Gericht, er könne dort mit niemanden sprechen. Die Corona-Zeit sei sehr hart gewesen.
Während der Ausgangsbeschränkungen passierte dann auch der zweite Vorfall, für den sich der 19Jährige verantworten muss. Im März 2020 wurde der Angeklagte mit einem Freund auf der Hinteren Insel mit einer Wodkaflasche aufgegriffen. Zu diesem Zeitpunkt war dieses Treffen aufgrund des Infektionsschutzes verboten. „Wir belehrten die zwei jungen Männer. Einer war sehr kooperativ, der andere war aufbrausend“, beschrieb eine Zeugin, die als Polizistin die Personalien aufgenommen hat, den Vorfall. Letzterer war der Angeklagte. Alles war erledigt, die Männer seien bereits weggelaufen, dann habe sich der Angeklagte umgedreht, den Mittelfinger gezeigt und die Beamten als „Wichser“beschimpft, erzählt die Polizistin. Der 19-Jährige hatte die Tat bereits im März gestanden und bei der Polizei Reue gezeigt. „Ich war betrunken. Nüchtern hätte ich das nicht gemacht“, sagte er vor Gericht. Dann wollte er sich bei der Polizistin erneut entschuldigen, die winkte jedoch ab. „Mir passiert so etwas ständig, danach kann man sich ja immer entschuldigen“, sagte sie.
Die Staatsanwaltschaft forderte eine Bestrafung nach Jugendstrafrecht, der Angeklagte habe offensichtlich noch keine endgültige Reife erlangt. Gemeinnützige Arbeit sei angemessen, außerdem ein Alkoholverbot. Die Jugendhilfe im Strafverfahren schlug außerdem eine Therapie vor, denn „der Angeklagte scheint dem Alkohol zugewandt“. Eine Therapie oder andere behördliche Hilfe verordnete Richterin Grenzstein jedoch nicht. Für die Beleidigung der Beamten muss der Angeklagte 60 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten. Außerdem darf er in den nächsten sechs Monaten in der Öffentlichkeit mit nicht mehr als 0,3 Promille unterwegs sein. „Sonst kommen Sie in den Arrest“, sagte die Richterin. Falls das nicht klappe, können es auch mal vier Monate Arrest werden, fügte sie hinzu.
„Ich nehme das Urteil an, nur verstehen kann ich es nicht“, sagte der Angeklagte. Er wollte sich erklären, sagte, nur weil er auf Partys betrunken sei, habe er noch kein Problem mit dem Trinken. Er wurde jedoch rasch von Richterin und Staatsanwältin unterbrochen, die die Verhandlung wie gewohnt abmoderierten. Der junge Mann ließ sich daraufhin kopfschüttelnd in seinen Stuhl fallen. Akte geschlossen.