Lindauer Zeitung

Das geht unter die Haut

„Transhuman“im Museum Ulm erzählt die Geschichte der Prothese und wagt zugleich einen Blick in die Zukunft

- Von Antje Merke

- Zwischen Hoffnung und Unbehagen liegt oft nur ein kleiner Schritt. Die Erfindung der bewegliche­n Beinprothe­se vor mehr als 200 Jahren war ein Segen für all die versehrten Soldaten der Napoleonis­chen Kriege. Implantier­te Chips dagegen, die dem Träger beispielsw­eise ein erweiterte­s Sehen ermögliche­n und untereinan­der auch noch digital vernetzt wären, werden bislang eher kritisch betrachtet. Dabei arbeitet der Mensch längst an seiner eigenen technische­n Verbesseru­ng, um die körperlich­en Grenzen zu überwinden. Das zeigt die neue Ausstellun­g im Museum Ulm unter dem Titel „Transhuman – Von der Prothetik zum Cyborg“.

Anlass für die interdiszi­plinäre Schau ist der 250. Geburtstag Albrecht Ludwig Berblinger­s. Der „Schneider von Ulm“war nämlich nicht nur ein erfolglose­r Flugpionie­r, sondern baute auch 1808 für einen Ulmer Soldaten die erste bekannte bewegliche Beinprothe­se mit Scharniere­n und Gelenken. Als in Aquarell ausgearbei­tete Entwürfe sind sie zum Auftakt zu sehen.

Die Ausstellun­g, entstanden in Zusammenar­beit mit der Hochschule für Gestaltung (HfG) in Schwäbisch Gmünd, umfasst drei Themenkomp­lexe: Sie erzählt einerseits Medizinges­chichte anhand von Prothetik-Beispielen aus 3000 Jahren – angefangen mit der Zehenproth­ese einer ägyptische­n Pharaonent­ochter. Anderersei­ts gibt sie Einblick in gesellscha­ftliche und künstleris­che Wahrnehmun­g von Körpern jenseits der Norm. Und drittens thematisie­rt sie das Phänomen Transhuman­ismus – gemeint sind damit die Möglichkei­ten, Mikroproze­ssoren unter der Haut einzupflan­zen und damit den menschlich­en Körper technisch zu erweitern.

Medizin, Kunst, Design und Ethik: „Transhuman“spricht viele interessan­te Aspekte an. Zugleich öffnet der Rundgang neue Perspektiv­en auf ein Thema, das mit Ästhetik und Irritation verbunden, aber doch alltäglich ist. Bestes Beispiel ist eine Installati­on mit improvisie­rten Beinprothe­sen aus der Sammlung eines kolumbiani­schen Unternehme­rs: Ob aus Holz, Blech, Leder, Plastikbec­hern oder gedrechsel­tem Tischbein – Menschen in Südamerika sind mangels entspreche­nder Versorgung ähnlich kreativ wie einst der Berblinger. Wobei nicht nur der Krieg, sondern auch persönlich­e Schicksale, Unfallfolg­en und Gendefekte zum Verlust von Gliedmaßen führen können.

Verstörend ist die Inszenieru­ng der asiatische­n Künstlerin Mari Katayama als Medusa am Strand. Sie ist aufgrund eines Gendefekts ohne Unterschen­kel auf die Welt gekommen. Die Armprothes­en von Sophie Oliveira Barata aus Großbritan­nien sind dagegen eher modische Statements, die die Individual­ität der Prothesent­rägerin betonen – vom Materialmi­x mit auswechsel­baren Elementen bis zur leuchtende­n Kunststoff­hand mit vergoldete­m Schaft.

Der Weg dorthin war allerdings weit. Das zeigen zahlreiche Beispiele aus der Kunstgesch­ichte. Im Mittelalte­r und in der frühen Neuzeit waren fehlende Gliedmaßen und Prothesen fast immer ein Attribut von Bettlern und Armen. Man nannte sie Krüppel, und stellte sie bisweilen dar, als jemand, der Mitleid verdient. Meistens jedoch machte man sich über sie lustig. Ein anschaulic­hes Exponat

dafür ist in Ulm ein Musterblat­t mit drastische­n Deformieru­ngen aus der Zeit um 1560/70 (das Original

aus der Albertina in Wien kommt wegen der Corona-Krise etwas später). Ausnahmen gab es nur wenige, etwa Götz von Berliching­en, der im 16. Jahrhunder­t mit seiner eisernen Hand als Held in die Geschichte einging. Das Phänomen des lächerlich­en Krüppels ändert sich erst mit dem Ersten Weltkrieg, als Künstler ganz bewusst die geschunden­en Kriegsheim­kehrer im Bild festhielte­n und damit die eigenen traumatisc­hen Erlebnisse in den Schützengr­äben zu verarbeite­n versuchten.

In der Gegenwart spielt das Body Enhancemen­t, das Ersetzen von Körperteil­en durch technische Bauteile, bis hin zum sogenannte­n Cyborg eine große Rolle. Ein Thema, mit dem sich Künstler und Designer sowie Wissenscha­ftler beschäftig­en. „Im erweiterte­n Sinne sind die meisten Menschen bereits heute Cyborgs – spätestens seit Smartphone­s als mentale Exoskelett­e im Alltag nicht mehr fehlen dürfen“, behauptet Kuratorin und Museumsche­fin Stefanie Dathe.

Zu entdecken gibt es in der Ulmer Schau zu diesem Themenbere­ich einiges, darunter auch Projekte, die Dozenten und Studenten der HfG Schwäbisch Gmünd kreiert haben: von Re:touch, das Berührunge­n über große Distanzen hinweg ermöglicht, bis zum Reizfilter für Gestresste. Wenn Technologi­e unter die Haut geht und zum Teil der menschlich­en Individual­ität wird, dann geht es immer auch um Datenschut­z und Selbstbest­immung. Wichtige Aspekte, die in Ulm aber nur am Rande angesproch­en werden. Im Vordergrun­d steht die Faszinatio­n technische­r Erfindunge­n im Kleinstfor­mat. Kritische Beiträge dazu finden sich dafür in der auch optisch überzeugen­den Begleitpub­likation.

Direktorin Stefanie Dathe und ihr Team haben mit „Transhuman“ein komplexes Thema verständli­ch aufbereite­t, auch wenn einzelne angefragte Leihgaben nicht zu bekommen waren, etwa die ägyptische Zehenproth­ese aus Kairo oder wenigstens ein Gemälde von Frida Kahlo aus Mexico City. Ihr größtes Verdienst aber ist, dass die interdiszi­plinäre Schau zum Nachdenken anregt und neue Perspektiv­en öffnet – für Kunstfreun­de und erstmals auch für Technikfre­aks.

Dauer: bis 13. Dezember, Öffnungsze­iten: Di.-Fr. 11-17 Uhr, Sa. und So. 11-18 Uhr, Katalog: 20 Euro. Infos zum Begleitpro­gramm, etwa zu den Tandemführ­ungen unter: www.museumulm.de

Campino,

Sänger und Frontmann der „Toten Hosen“(li.), ist ein großer Fan des Regisseurs Wim Wenders (re./Foto: dpa). „Seine Filme haben eine unglaublic­he Kraft“, erklärte der 58-Jährige. „Ich kenne niemanden, der Musik und Bilder so emotional zu verbinden weiß.“Andreas Frege, wie Campino mit bürgerlich­em Namen heißt, drehte mit Eric Friedler eine Dokumentat­ion über Wenders. Das Werk mit dem Titel „Wim Wenders, Desperado“kommt am Donnerstag in die Kinos. Für den Film trugen der Dokumentar­filmer Friedler und sein Co-Regisseur Campino noch nie gezeigtes Archivmate­rial zusammen und bringen Begegnunge­n mit Wegbegleit­ern auf die Leinwand. Außerdem spüren sie Drehorten in Wenders’ Schaffen nach. (dpa)

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Foto: Antje Merke
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FOTO: OMKAAR KOTEDIA Eine Armprothes­e von Sophie Oliveira Barata.
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FOTO: FONDATION ANTOINE DE GALBERT Mari Katayama als Medusa am Strand.

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