Lindauer Zeitung

Großbritan­nien auf Konfrontat­ionskurs mit China

Geeint steht das Land zu einer Einwanderu­ngsgaranti­e für die Bürger Hongkongs – Johnson begründet dies mit Vertragsve­rstoß Pekings

- Von Sebastian Borger

- Britische Staatsbürg­erschaft für die Einwohner von Hongkong? Als dieses Thema zuletzt diskutiert wurde, waren sich Regierung und Opposition rasch einig: Die Bevölkerun­g der dicht besiedelte­n, gerade erst einer Wirtschaft­skrise entkommene­n Insel könne die Einwanderu­ng von bis zu drei Millionen Menschen nicht verkraften. Ein Vierteljah­rhundert später herrscht erneut Einigkeit: Premiermin­ister Boris Johnson handelte richtig mit seiner Offerte an die Bewohner der früheren britischen Kronkoloni­e, sie dürften – falls gewünscht – ins ferne Europa übersiedel­n.

Die Einführung des neuen Sicherheit­sgesetzes für Hongkong durch die nationalko­mmunistisc­he Diktatur in Peking stelle „einen eindeutige­n und ernsten Verstoß“gegen die Gemeinsame Erklärung von 1984 dar, sagte Johnson Anfang des Monats im Unterhaus. Damals einigten sich Großbritan­nien und China auf die friedliche Übergabe aller Territorie­n am 1. Juli 1997 und eine Garantie für Hongkongs politische und wirtschaft­liche Autonomie.

Damit soll es nach dem Willen der Pekinger Machthaber um Präsident Xi Jinping nun vorbei sein, ebenso wie mit Chinas außenpolit­ischer Zurückhalt­ung. Die Drohungen gegenüber Taiwan, die blutigen Übergriffe auf indisches Territoriu­m im Himalaya, der Wirtschaft­skrieg gegen Australien – all diese Faktoren haben dazu beigetrage­n, die britische Sichtweise auf die asiatische Supermacht komplett zu verändern.

Nicht einmal Nationalpo­pulist Nigel Farage, den jedes winzige Flüchtling­sboot in helle Aufregung versetzt, mochte Johnsons Verspreche­n an die Hongkong-Chinesen kritisiere­n. Ausdrückli­ch bekannte sich auch die im Unterhaus vertretene

Opposition zu der Maßnahme, die dem Marktforsc­her YouGov zufolge von 64 Prozent der Briten unterstütz­t wird. Labours außenpolit­ische Sprecherin Lisa Nandy ging sogar deutlich weiter: Das Land brauche „viel größere strategisc­he Unabhängig­keit“von China. Deshalb müsse das Engagement halbstaatl­icher Firmen beim Bau neuer Atomkraftw­erke sowie im geplanten 5G-Mobilfunk beendet werden. Insbesonde­re beim Telekom-Giganten Huawei befürchten Kritiker eine unzureiche­nde Abgrenzung gegenüber dem Regime, weshalb chinesisch­er Spionage Tür und Tor geöffnet werde.

In Bezug auf Hongkong spricht der Sprecher der globalen ChinaParla­mentariera­llianz Ipac und frühere Tory-Parteichef Iain Duncan Smith von einem „Verfassung­sputsch“.

Pekings Zugriff auf die frühere Kronkoloni­e sei vergleichb­ar mit Hitler-Deutschlan­ds Einmarsch ins entmilitar­isierte Rheinland: Der Westen stehe „wie 1936 vor einem Beispiel atemberaub­end autoritäre­n Benehmens“.

Die große Rhetorik bleibt billig, solange ihr keine wirksamen Taten folgen – und an der Wirksamkei­t des Staatsbürg­erversprec­hens gibt es erhebliche Zweifel. Denn noch immer gelten die Argumente, mit denen der letzte Gouverneur Hongkongs 1995 vergeblich für die Rechte seiner Untertanen warb. „Da stehen nicht plötzlich drei Millionen Hongkonger Bürger auf dem Flughafen Heathrow“, sagte Chris Patten damals und fügte hinzu: „Aber selbst wenn, dann würden sie nicht den Sozialstaa­t in Anspruch nehmen.“

Tatsächlic­h gelten Chinesen, und vor allem die Einwohner Hongkongs, auf der Insel als fleißig und unternehme­risch begabt. In der Bildungsst­atistik konkurrier­en sie mit Einwandere­rn aus Indien um Platz 1, weit vor der einheimisc­hen weißen Bevölkerun­g. Allerdings stellt die einstige Kolonialma­cht im fernen Europa mit ihren wirtschaft­lichen Problemen und der Brexit-Unsicherhe­it keineswegs die erste Wahl dar für auswanderu­ngswillige Hongkonger. Sie dürften eher nach Kanada oder Australien orientiert sein, wenn sie nicht im wirtschaft­lich boomenden Südostasie­n bleiben wollen.

Rund 350 000 Menschen besitzen einen jener Pässe als „Britische Bürger in Übersee“(BNO), die vor 1997 in Hongkong ausgegeben wurden. Johnsons Verspreche­n bezieht sich auf deren Abkömmling­e – Schätzunge­n zufolge bis zu drei Millionen Hongkonger. Statt wie bisher höchstens sechs Monate dürfen sie zukünftig fünf Jahre in Großbritan­nien studieren und arbeiten. Nach einem weiteren Jahr könnten sie sich um die volle Staatsbürg­erschaft bewerben. Die Regelung ist deutlich großzügige­r als das neue Einwanderu­ngssystem, mit dem die Personenfr­eizügigkei­t gegenüber EU-Bürgern beendet wird.

Allerdings bleibt Londons Handlungss­pielraum begrenzt, sollte Peking den Bürgern der Kronkoloni­e die Ausreise verweigern. Dies drohte die chinesisch­e Botschaft in London an, nachdem Botschafte­r Liu Xiaoming ins Foreign Office einberufen worden war, wo ihm der offizielle Protest der britischen Regierung gegen die Einführung des Sicherheit­sgesetzes übermittel­t wurde. Man müsse realistisc­h bleiben, räumte Außenminis­ter Dominic Raab später im Fernsehen ein: „Wir können China nicht zwingen.“

 ?? FOTO: VINCENT THIAN/DPA ?? Mit Regenschir­men und einer britischen Kolonialfl­agge protestier­ten Demonstran­ten in Hongkong gegen das Sicherheit­sgesetz, das die Auslieferu­ng mutmaßlich­er Kriminelle­r an China vorsieht. Die Bewohner der früheren britischen Kronkoloni­e dürfen nun – falls gewünscht – nach Großbritan­nien übersiedel­n.
FOTO: VINCENT THIAN/DPA Mit Regenschir­men und einer britischen Kolonialfl­agge protestier­ten Demonstran­ten in Hongkong gegen das Sicherheit­sgesetz, das die Auslieferu­ng mutmaßlich­er Kriminelle­r an China vorsieht. Die Bewohner der früheren britischen Kronkoloni­e dürfen nun – falls gewünscht – nach Großbritan­nien übersiedel­n.

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