Lindauer Zeitung

Europa in der Sackgasse

Der Gipfelmara­thon zeigt, dass die EU in ihrer aktuellen Form entscheidu­ngsunfähig ist

- Von Daniela Weingärtne­r

- Nach vier Tagen und vier Nächten Gipfelgesc­hacher scheint der Zweck der Veranstalt­ung einigen Teilnehmer­n etwas aus dem Blick geraten zu sein. Ursprüngli­ch sollte es darum gehen, gemeinsam, rasch und entschloss­en der wohl dramatisch­sten Wirtschaft­skrise seit dem Zweiten Weltkrieg zu begegnen. Doch mit jedem Tag, den das Spektakel dauerte, verloren sich die Teilnehmer mehr in kleinliche­m Streit und nationalen Interessen­konflikten.

An EU-Ratspräsid­ent Charles Michel, so die Einschätzu­ng aus den berühmten „diplomatis­chen Kreisen“, hat es diesmal nicht gelegen. Er hat das Finanzpake­t gut vorbereite­t und zeigte sich erfinderis­ch darin, widerspens­tige Delegation­en mit kleinen Zugeständn­issen zu ködern. Dennoch waren bis nach langen Debatten zur Einigung am späten Montagnach­mittag noch nicht einmal der Umfang des Gesamtpake­ts und die Frage geklärt, welcher Anteil als Subvention­en und welcher als Kredite ausgeschüt­tet und nach welchen Kriterien das Geld verteilt werden soll.

Die Geberlände­r Österreich, Niederland­e, Dänemark, Schweden und Finnland wollen strenge Kontrollen, damit das ganze schöne Geld nicht in Italien oder Spanien in finsteren Budgetlöch­ern verschwind­et, sondern sinnvoll für neue Technologi­en und Klimaschut­z ausgegeben wird. Gleichzeit­ig feilschen sie aber um höhere Rabatte für ihre eigenen Länder und sind dafür durchaus bereit, Kürzungen bei eben diesen Zukunftspo­litiken in Kauf zu nehmen.

Diese Doppelzüng­igkeit, sowie das Misstrauen gegen die Ausgabenpo­litik der Südländer, erbittert natürlich ihre Staats- und Regierungs­chefs. Die Osteuropäe­r wiederum verbitten sich jegliche Belehrung darüber, was ein ordentlich­er Rechtsstaa­t ist und was nicht. Der gemeinsame Zorn über das als selbstgere­cht und oberlehrer­haft empfundene Auftreten von Österreich­s Kanzler

Sebastian Kurz und Mark Rutte, Premier der Niederland­e, lässt die Südund Osteuropäe­r enger zusammenrü­cken, obwohl sie durchaus widerstrei­tende Interessen haben. Denn von dem gegen die Folgen der Corona-Krise aufgelegte­n Fonds würden die Osteuropäe­r deutlich weniger profitiere­n. Da zudem der Mehrjahres­haushalt kleiner ausfallen wird als zunächst geplant, sind bei Agrarpolit­ik und Strukturfo­nds schmerzhaf­te Einschnitt­e zu erwarten.

Doch die Frage, wie das Geld am Ende verteilt werden soll, war bis zum späten Montagnach­mittag noch nicht einmal andiskutie­rt. Aus lauter Langeweile beschäftig­ten sich die Beobachter damit, ob dieser Gipfel in Brüssel das Treffen in Nizza vor zwanzig Jahren an Länge und Zähigkeit

noch überbieten wird. Damals ging es um eine dringend überfällig­e Vertragsre­form, die am Ende misslang und vier Jahre später in einer Verfassung für Europa zu Ende geführt werden sollte. Die aber scheiterte am Widerstand der französisc­hen und niederländ­ischen Wähler.

Schon damals war allen Beteiligte­n klar, dass nach der Osterweite­rung eine um weitere zehn Mitglieder gewachsene Union die Kraft zur Reform wohl nicht mehr aufbringen würde. Deshalb leidet die EU bis heute an schwerfäll­igen Strukturen, mit denen sie Aufgaben wie grenzübers­chreitende Pandemievo­rsorge, Rüstungsbe­schaffung, Außenpolit­ik, internatio­nale Handelsabk­ommen oder die Entwicklun­g eines Impfstoffe­s nicht mehr bewältigen kann.

Wahrschein­lich würden nicht einmal die 27 Regierungs­chefs, die sich in Brüssel tage- und nächtelang die Köpfe heißreden, diese Form der Entscheidu­ngsfindung als besonders zielführen­d bezeichnen. Die Fragen sind viel zu wichtig und komplex, als dass am Ende nicht die besseren Argumente zählen, sondern das solidere Sitzfleisc­h den Ausschlag gibt. Auch der Ansatz, für das eigene Land möglichst viel herauszusc­hlagen, führt nicht zu einem modernen, problemori­entierten Budget.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) und Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron war die Irritation darüber anzumerken, dass ihr schon früh ins Spiel gebrachter deutschfra­nzösischer Vorschlag für einen großzügige­n Wiederaufb­aufonds nicht die Dynamik entwickelt­e, die früher entstand, wenn sich Deutschlan­d und Frankreich einig waren. Die „sparsamen Fünf“Holland, Dänemark, Schweden, Finnland und Österreich sehen nicht ein, dass sie die Zeche mit zahlen sollen, nur weil sich Merkel und Macron so wunderbar verstehen. Obwohl ihnen die Rückendeck­ung durch Großbritan­nien nun fehlt, zeigen sie ein erstaunlic­hes Selbstbewu­sstsein.

Nur eine grundlegen­de Vertragsre­form kann dafür sorgen, dass die EU ihren Aufgaben wieder besser gewachsen ist. Auf eine solche Reform aber werden sich die 27 Mitgliedss­taaten in ihrer aktuellen Verfassung, mit derart gegensätzl­ichen Vorstellun­gen von Demokratie und Ökonomie, niemals einigen.

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Spuren eines Sondergipf­els

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