Lindauer Zeitung

Nach dem Gipfel wollen alle Sieger sein

Der Einigung auf ein EU-Finanzpake­t folgt das Ringen um die Deutungsho­heit – Ruf nach Nachbesser­ungen

- Von Daniela Weingärtne­r

- Mit einer surrealen Szene geht der nahezu längste Gipfel in der Geschichte der EU zu Ende: Am Dienstagmo­rgen um kurz vor sechs knipst Ratspräsid­ent Charles Michel in einem vollkommen leeren Pressesaal sein strahlende­s Lächeln an und erklärt: „Wir haben es geschafft. Europa ist stark. Europa ist vereint.“Aus ihren heimischen Küchen und Wohnzimmer­n werden Journalist­en zugeschalt­et, die sich in völlig übernächti­gter Verfassung einen Überblick über die Ergebnisse zu verschaffe­n versuchen. So geht Gipfel in Corona-Zeiten.

Niemand ist überrascht, dass Ursula von der Leyen das Ergebnis als „historisch­en Schritt“bezeichnet, obwohl von den ursprüngli­ch in ihrem Haus vorgegeben­en ehrgeizige­n Klimaziele­n und engen Bindungen an Rechtsstaa­tlichkeit und reformorie­ntiertes Haushalten nicht viel übrig geblieben ist. Immerhin findet sie es „bedauerlic­h“, dass die Regierungs­chefs „weitreiche­nde Änderungen beim mehrjährig­en Finanzrahm­en und dem Wiederaufb­aufonds vornehmen mussten, so zum Beispiel bei der Gesundheit­svorsorge, bei der Migration, der Außenpolit­ik und den Zukunftsin­vestitione­n“. Auch das Liquidität­sinstrumen­t für von Corona betroffene Unternehme­n sei gestrichen worden.

Schon im Vorfeld hatten Ökonomen Zweifel, ob Gelder aus dem geplanten Wiederaufb­aufonds schnell genug bereitsteh­en, um die coronabedi­ngte Konjunktur­delle auszugleic­hen. Immerhin einigte sich der Rat darauf, 30 Prozent der Summe nicht an die Volkswirts­chaften auszuschüt­ten, die vor der Pandemie die größten wirtschaft­lichen Probleme hatten, sondern dafür die Zahlen aus dem aktuellen Jahr zugrunde zu legen. Größter Schwachpun­kt der Einigung ist sicherlich, dass Mittel in den wichtigen Bereichen Forschung, Grenzschut­z, Verteidigu­ng, Digitalisi­erung und Klimaschut­z gekürzt wurden, um die Nettozahle­rländer durch Rabatte zufriedenz­ustellen. Auch die Frage der Ausgabenko­ntrolle ist nicht geklärt.

Von der Leyen erinnerte daran, dass auch das EU-Parlament zustimmen muss. Wie schwierig das werden dürfte, unterstrei­cht einige Stunden später ein Tweet des liberalen Meinungsfü­hrers Guy Verhofstad­t. In mehreren Bereichen sieht er dringenden Änderungsb­edarf, um den Vorschlag einer Mehrheit im EUParlamen­t akzeptabel zu machen. Neue von Mitgliedsb­eiträgen unabhängig­e Eigenmitte­l der EU aus einer Plastikabg­abe und einer CO

sollen sofort kommen. Der Rat will die Plastikste­uer im Januar 2021 und die CO2-Abgabe im Januar 2023 einführen. Das Europaparl­ament

Plastikste­uer

CO2-Grenzsteue­r

Steuer für Digitalunt­ernehmen

soll ferner in die Entscheidu­ng eingebunde­n werden, ob die Haushaltsp­läne der Mitgliedss­taaten den Zielvorgab­en entspreche­n und die Mittel fließen können. Laut Ratsbeschl­uss sind daran nur EU-Kommission und Rat beteiligt.

Für weitaus mehr Aufregung dürfte allerdings die Bedingung Verhofstad­ts

sorgen, einen Rechtsstaa­tsmechanis­mus einzuführe­n, der diesen Namen auch verdient. Schon lange fordern Abgeordnet­e fast aller Fraktionen, den Mitgliedsl­ändern, in denen die Rechte der Medien eingeschrä­nkt sind und die Justiz gegängelt wird, den Geldhahn zuzudrehen. Auf dem Gipfel hatte sich vor allem der Niederländ­er Mark Rutte dafür starkgemac­ht. Ungarns Regierungs­chef Victor Orbán hatte deshalb am zweiten Gipfeltag Journalist­en zusammenge­trommelt, um ihnen seine Sicht der Dinge darzulegen. Artikel 7 EU-Vertrag sehe jetzt schon vor, undemokrat­ische Praktiken zu sanktionie­ren. Zusätzlich­e Mechanisme­n brauche es nicht. Er verstehe nicht, warum „dieser Kerl“, Mark Rutte, ihn und die Ungarn so hasse.

Verhofstad­ts Vorstoß, den Rechtsstaa­tsmechanis­mus nachzuschä­rfen, dürfte dem niederländ­ischen Regierungs­chef ganz sicher gefallen. Weniger begeistern dürfte ihn, dass der belgische Liberale den 750 Milliarden schweren Wiederaufb­aufonds als historisch feiert, weil er aus „Bonds auf europäisch­er Ebene“, also Eurobonds, gespeist werde. Der Begriff ist ein rotes Tuch für die sparsamen Nordländer. Auch die Forderung, die Rabatte, die 1984 auf Drängen der britischen Regierungs­chefin Margret Thatcher eingeführt und später auch Deutschlan­d, Schweden, den Niederland­en und Österreich gewährt worden waren, ersatzlos zu streichen, lehnt Rutte natürlich vehement ab.

Mehr eigene Einnahmen, eine bessere Ausgabenko­ntrolle, keine Extrawürst­e – das ist der Versuch, einen per Hinterzimm­erdiplomat­ie ausgehande­lten Kompromiss in den Nachverhan­dlungen zu modernisie­ren. Heute treffen sich die Fraktionsv­orsitzende­n, um ihre Linie abzustimme­n, am Donnerstag kommt das Plenum des Europaparl­aments zu einer außerorden­tlichen Sitzung zusammen.

Das Triumphgeh­eul der Marathongi­pfelstürme­r übertönt schon wenige Stunden nach der Heimkehr die Frage, was denn nun substanzie­ll für Europa bei dem Kraftakt herausgeko­mmen ist. Vor allem Victor Orbán (Ungarn) und Mateusz Morawiecki (Polen) rühmen das Ergebnis so laut, dass sich die Chefs nördlich gelegenere­r Länder fragen, ob alle dieselbe Version der Gipfelbesc­hlüsse in Händen halten. Sie sehen nämlich eine drastische Kürzung der Mittel für Polens Energiewen­de vor und sagen zum Thema Rechtsstaa­tlichkeit immerhin, dass „eine Konditiona­litätsrege­lung zum Schutz des Haushalts“eingeführt wird. „In diesem Zusammenha­ng wird die Kommission im Fall von Verstößen Maßnahmen vorschlage­n, die vom Rat mit qualifizie­rter Mehrheit angenommen werden.“

Das klingt so verschwurb­elt, dass es dem niederländ­ischen Parlament als harte Linie verkauft werden kann und in Ungarn gleichzeit­ig als Abwehr nordischer Zumutungen gefeiert wird. Polens Regierungs­chef sagte, Gelder könnten nur per Gipfelbesc­hluss gekürzt werden – und der falle nun einmal stets einstimmig. Ursula von der Leyen hingegen interpreti­ert den Passus so, dass eine qualifizie­rte Mehrheit der Finanzmini­ster ausreicht. Wie so häufig bei juristisch mehrdeutig­en Gipfelbesc­hlüssen darf auch hier vermutet werden, dass die Nebelkerze­n absichtlic­h gefeuert wurden, um es allen Beteiligte­n leichter zu machen, daheim als Sieger dazustehen.

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