Nach dem Gipfel wollen alle Sieger sein
Der Einigung auf ein EU-Finanzpaket folgt das Ringen um die Deutungshoheit – Ruf nach Nachbesserungen
- Mit einer surrealen Szene geht der nahezu längste Gipfel in der Geschichte der EU zu Ende: Am Dienstagmorgen um kurz vor sechs knipst Ratspräsident Charles Michel in einem vollkommen leeren Pressesaal sein strahlendes Lächeln an und erklärt: „Wir haben es geschafft. Europa ist stark. Europa ist vereint.“Aus ihren heimischen Küchen und Wohnzimmern werden Journalisten zugeschaltet, die sich in völlig übernächtigter Verfassung einen Überblick über die Ergebnisse zu verschaffen versuchen. So geht Gipfel in Corona-Zeiten.
Niemand ist überrascht, dass Ursula von der Leyen das Ergebnis als „historischen Schritt“bezeichnet, obwohl von den ursprünglich in ihrem Haus vorgegebenen ehrgeizigen Klimazielen und engen Bindungen an Rechtsstaatlichkeit und reformorientiertes Haushalten nicht viel übrig geblieben ist. Immerhin findet sie es „bedauerlich“, dass die Regierungschefs „weitreichende Änderungen beim mehrjährigen Finanzrahmen und dem Wiederaufbaufonds vornehmen mussten, so zum Beispiel bei der Gesundheitsvorsorge, bei der Migration, der Außenpolitik und den Zukunftsinvestitionen“. Auch das Liquiditätsinstrument für von Corona betroffene Unternehmen sei gestrichen worden.
Schon im Vorfeld hatten Ökonomen Zweifel, ob Gelder aus dem geplanten Wiederaufbaufonds schnell genug bereitstehen, um die coronabedingte Konjunkturdelle auszugleichen. Immerhin einigte sich der Rat darauf, 30 Prozent der Summe nicht an die Volkswirtschaften auszuschütten, die vor der Pandemie die größten wirtschaftlichen Probleme hatten, sondern dafür die Zahlen aus dem aktuellen Jahr zugrunde zu legen. Größter Schwachpunkt der Einigung ist sicherlich, dass Mittel in den wichtigen Bereichen Forschung, Grenzschutz, Verteidigung, Digitalisierung und Klimaschutz gekürzt wurden, um die Nettozahlerländer durch Rabatte zufriedenzustellen. Auch die Frage der Ausgabenkontrolle ist nicht geklärt.
Von der Leyen erinnerte daran, dass auch das EU-Parlament zustimmen muss. Wie schwierig das werden dürfte, unterstreicht einige Stunden später ein Tweet des liberalen Meinungsführers Guy Verhofstadt. In mehreren Bereichen sieht er dringenden Änderungsbedarf, um den Vorschlag einer Mehrheit im EUParlament akzeptabel zu machen. Neue von Mitgliedsbeiträgen unabhängige Eigenmittel der EU aus einer Plastikabgabe und einer CO
sollen sofort kommen. Der Rat will die Plastiksteuer im Januar 2021 und die CO2-Abgabe im Januar 2023 einführen. Das Europaparlament
Plastiksteuer
CO2-Grenzsteuer
Steuer für Digitalunternehmen
soll ferner in die Entscheidung eingebunden werden, ob die Haushaltspläne der Mitgliedsstaaten den Zielvorgaben entsprechen und die Mittel fließen können. Laut Ratsbeschluss sind daran nur EU-Kommission und Rat beteiligt.
Für weitaus mehr Aufregung dürfte allerdings die Bedingung Verhofstadts
sorgen, einen Rechtsstaatsmechanismus einzuführen, der diesen Namen auch verdient. Schon lange fordern Abgeordnete fast aller Fraktionen, den Mitgliedsländern, in denen die Rechte der Medien eingeschränkt sind und die Justiz gegängelt wird, den Geldhahn zuzudrehen. Auf dem Gipfel hatte sich vor allem der Niederländer Mark Rutte dafür starkgemacht. Ungarns Regierungschef Victor Orbán hatte deshalb am zweiten Gipfeltag Journalisten zusammengetrommelt, um ihnen seine Sicht der Dinge darzulegen. Artikel 7 EU-Vertrag sehe jetzt schon vor, undemokratische Praktiken zu sanktionieren. Zusätzliche Mechanismen brauche es nicht. Er verstehe nicht, warum „dieser Kerl“, Mark Rutte, ihn und die Ungarn so hasse.
Verhofstadts Vorstoß, den Rechtsstaatsmechanismus nachzuschärfen, dürfte dem niederländischen Regierungschef ganz sicher gefallen. Weniger begeistern dürfte ihn, dass der belgische Liberale den 750 Milliarden schweren Wiederaufbaufonds als historisch feiert, weil er aus „Bonds auf europäischer Ebene“, also Eurobonds, gespeist werde. Der Begriff ist ein rotes Tuch für die sparsamen Nordländer. Auch die Forderung, die Rabatte, die 1984 auf Drängen der britischen Regierungschefin Margret Thatcher eingeführt und später auch Deutschland, Schweden, den Niederlanden und Österreich gewährt worden waren, ersatzlos zu streichen, lehnt Rutte natürlich vehement ab.
Mehr eigene Einnahmen, eine bessere Ausgabenkontrolle, keine Extrawürste – das ist der Versuch, einen per Hinterzimmerdiplomatie ausgehandelten Kompromiss in den Nachverhandlungen zu modernisieren. Heute treffen sich die Fraktionsvorsitzenden, um ihre Linie abzustimmen, am Donnerstag kommt das Plenum des Europaparlaments zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen.
Das Triumphgeheul der Marathongipfelstürmer übertönt schon wenige Stunden nach der Heimkehr die Frage, was denn nun substanziell für Europa bei dem Kraftakt herausgekommen ist. Vor allem Victor Orbán (Ungarn) und Mateusz Morawiecki (Polen) rühmen das Ergebnis so laut, dass sich die Chefs nördlich gelegenerer Länder fragen, ob alle dieselbe Version der Gipfelbeschlüsse in Händen halten. Sie sehen nämlich eine drastische Kürzung der Mittel für Polens Energiewende vor und sagen zum Thema Rechtsstaatlichkeit immerhin, dass „eine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts“eingeführt wird. „In diesem Zusammenhang wird die Kommission im Fall von Verstößen Maßnahmen vorschlagen, die vom Rat mit qualifizierter Mehrheit angenommen werden.“
Das klingt so verschwurbelt, dass es dem niederländischen Parlament als harte Linie verkauft werden kann und in Ungarn gleichzeitig als Abwehr nordischer Zumutungen gefeiert wird. Polens Regierungschef sagte, Gelder könnten nur per Gipfelbeschluss gekürzt werden – und der falle nun einmal stets einstimmig. Ursula von der Leyen hingegen interpretiert den Passus so, dass eine qualifizierte Mehrheit der Finanzminister ausreicht. Wie so häufig bei juristisch mehrdeutigen Gipfelbeschlüssen darf auch hier vermutet werden, dass die Nebelkerzen absichtlich gefeuert wurden, um es allen Beteiligten leichter zu machen, daheim als Sieger dazustehen.