„Schuldenstände erinnern an die zum Ende des Zweiten Weltkriegs“
Die Londoner Wirtschaftswissenschaftlerin Waltraud Schelkle begrüßt die Gipfelergebnisse und setzt auf einen Schuldenschnitt
- Waltraud Schelkle lehrt politische Ökonomie am Europäischen Institut an der London School of Economics and Political Science (LSE). Die Wahl-Londonerin, die seit mehr als zwanzig Jahren in Großbritannien lebt, stammt aus Ostrach im Landkreis Sigmaringen. Mit Schelkle hat Klaus Wieschemeyer gesprochen.
Frau Professor Schelkle, nach der Einigung in Brüssel hat die AfD einen „Schuldensozialismus“beklagt. Kommt Europa mit den 390 Milliarden Euro an Corona-Hilfen vom Weg der Eigenverantwortung ab?
Die Bonds ändern im Prinzip nichts am Status Quo. Auch bisher haben die Mitgliedsstaaten gemeinsam für das EU-Budget gehaftet. Hätten wir morgen einen Wirecard-Ganoven in der EU-Kommission, müssten die Staaten gemeinsam für dessen Schaden einstehen.
Also halten Sie den Vorstoß von Merkel und Macron für richtig?
Ja, denn die neuen Bonds werden sichere Papiere, auch weil die Europäische Zentralbank (EZB) dahintersteht. Das ist ein sicheres Aktivum, welches die Finanzmärkte auch suchen, weil diese wohl künftig noch stärker schwanken werden. Als Makroökonomin habe ich Merkels frühere mikroökonomische Position der „Schwäbischen Hausfrau“für nicht haltbar gehalten. Nun sieht sie offenbar selber, dass Länder an den Grenzen ihrer Verschuldungskapazität andere Hilfen brauchen. Neue
Kreditzusagen helfen Italien und Spanien nicht.
Insbesondere die „Sparsamen Vier“unter den Staaten haben immer wieder darauf hingewiesen, dass die Staatsverschuldung in Südeuropa zwar hoch ist, die Privatverschuldung aber auch niedrig. Läuft da großer Wohlstand unter unserem Radar durch?
Allein die Vorstellung, dass es ein finanzpolitisches Südeuropa gibt, stimmt so nicht. Spanien steckt beispielsweise in einer ganz anderen Krise als Portugal. In Spanien wurden private Schulden in der Krise zu staatlichen Schulden, Portugal hat wegen der EU-Osterweiterung viel Industrie verloren. Und auch bei der europäischen Vermögensverteilung ist nicht alles so vergleichbar, wie es in einem Vermögensreport der EZB aussieht: So können Hauseigentümer in Spanien den Wert ihrer Immobilie überschätzen, Rentenansprüche, die in Deutschland hoch sind, konnten nicht miteinbezogen werden. Und in Deutschland steckt zudem viel mehr Vermögen in den
Betrieben als in vergleichbaren Ländern.
Also halten Sie Bonds für richtig?
Grundsätzlich ja, damit Finanzmärkte die Europäische Union nicht wieder spalten können. Aber wir haben ein Problem. Das EU-Parlament hat nicht die Legitimität, welche man von einem demokratisch gewählten Parlament für gemeinsame Schulden des Euroraums verlangen muss. Die jetzige Lösung sieht keine EuroBonds vor, aber durch die Besicherung mit dem EU-Budget gibt es eine gemeinsame Haftung.
Damit steigen auch die nationalen Schulden. Wie sollen die je abgebaut werden, etwa durch Sparen?
Längerfristig wird man über ordentliche Schuldenschnitte nachdenken müssen. Wir haben es in der EU mit reichen Ländern zu tun, aber die Schuldenstände erinnern schon an die zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Damals gab es Schuldenschnitte, zum Beispiel für Deutschland im Londoner Abkommen von 1953. Nun sind die Schuldenstände durch Corona so hoch, dass sie mit den Folgen eines Dritten Weltkrieges zu vergleichen sind.
Ende des Jahres scheidet Großbritannien aus dem EU-Binnenmarkt aus, die Gespräche laufen zäh. Stärkt dieser Gipfel die EU27 gegenüber London?
Hätte es keine Gipfel-Einigung gegeben, wäre zumindest die Autorität der deutschen Ratspräsidentschaft untergraben gewesen. Nun zeigt sich: Es gibt zwar unterschiedliche Positionen, aber keine unüberbrückbaren Gräben, und am Ende rauft man sich zusammen. Bisher tritt die EU gegenüber Großbritannien sehr geschlossen auf. Das dürfte sich nun eher verstärken.
Das deutet auf einen harten Brexit hin.
Aus der Regierung höre ich nichts anderes, als dass es hart auf hart kommt. Ich lebe seit mehr als 20 Jahren in diesem Land, und ich habe vorher nicht erlebt, dass Expertise und Pragmatismus so zur Seite geschoben werden wie beim EU-Ausstieg.