Das Gewissen von Wuhan
Die chinesische Schriftstellerin Fang Fang und ihr Tagebuch aus einer abgeriegelten Stadt
Auf dem Höhepunkt der Verbreitung des Coronavirus in Wuhan haben Zigmillionen Fang Fangs Tagebuch aus der abgeschotteten Metropole im Internet gelesen. Chinas Zensur sperrte die Beiträge der Schriftstellerin zwar immer wieder, doch fanden ihre Zeilen trotzdem zu ihren Lesern. Heute liefert ihr Buch „Wuhan Diary“, das als Zusammenstellung auf Deutsch erschienen ist, ein einzigartiges Fenster in das Leiden, Sterben, aber auch die Mitmenschlichkeit in der Stadt, die zuerst und in China am schwersten von dem Ausbruch der Lungenkrankheit betroffen war.
Es ist eine ebenso persönliche wie explosive Dokumentation der Vertuschung, Verschleppung und Nachlässigkeit offizieller Stellen – aber auch der Hilfsbereitschaft der einfachen Menschen in der Katastrophe, die sich weltweit ausgebreitet hat. „Wir müssen die Verantwortlichen ausfindig machen und zur Rechenschaft ziehen“, schreibt Fang Fang, womit gleich klar wird, warum sie in chinesischen Staatsmedien heute so attackiert wird.
Ende Januar wurde die Elf-Millionen-Metropole, wo das Virus Anfang Dezember zuerst entdeckt wurde, für 76 Tage von der Außenwelt abgeschottet – ein weltweit zumindest bis dahin einmaliger Schritt im Kampf gegen das Virus. Es habe ihre Vorstellungskraft überstiegen, „wie man eine derart riesige Stadt abriegeln könnte“, schreibt Fang Fang. Genau in jenen Tagen beginnt ihr Tagebuch, das unversehens den Gefühlen und der Verzweiflung vieler Chinesen eine Stimme gab.
Die „waschechte“Wuhanerin, zuletzt Vorsitzende des Schriftstellerverbandes der Provinz Hubei und 2010 mit dem renommierten Lu XunLiteraturpreis ausgezeichnet, verfügt über ein weitverzweigtes persönliches Netzwerk in der Stadt. Ihre Quellen enthüllen die Lüge hinter den offiziellen Beteuerungen Anfang und noch Mitte Januar, es gebe „keine Übertragung von Mensch zu Mensch“und das Virus sei „kontrollierbar und eindämmbar“. „Wie viele Menschen haben diese Worte auf einen Weg ohne Wiederkehr geschickt“, stellt Fang Fang bitter fest.
„Als sich damals mehr und mehr Ärzte und Schwestern infizierten, war klar, dass eine Übertragung von Mensch zu Mensch stattfindet, aber niemand hat den Mund aufgemacht, weil es untersagt war“, berichtet ihr ein befreundeter Arzt .
Von den mehr als 3000 in China offiziell aufgeführten Toten waren mehr als 2500 in Wuhan zu beklagen. Die Dunkelziffer ist hoch. Warum das Virus in der Stadt so schwer zuschlagen konnte?: „1. die Zeitverschleppung zu Beginn, 2. ungeeignete Quarantänemaßnahmen, die sogar zu einer dramatischen Zunahme von Infektionen geführt haben, 3. die unzureichenden und rasch erschöpften Ressourcen der Krankenhäuser und die Erkrankungen des Krankenhauspersonals, die zu Verzögerungen bei der medizinischen Betreuung geführt haben“, fasst Fang Fang zusammen.
All das änderte sich in dem Moment, in dem die Zentralregierung Ende Januar einschritt und die Kräfte des Landes mobilisierte. „Nach dem Wechsel im Kommando hat die Regierung
mit eiserner Hand die Epidemie bekämpft, die Resultate sind durchaus beachtlich.“Obwohl Fang Fang hier Lob spendet, läuft eine Kampagne in den Staatsmedien, um ihre Glaubwürdigkeit zu zerstören. Nicht nur weil sie Schwächen des chinesischen Systems offenlegt, sondern weil die Frage nach der Verantwortung mit heute weltweit mehr als 400 000 Toten hochpolitisch geworden ist.
Allen voran diskreditiert die englischsprachige „Global Times“die Autorin. Das Blatt wird vom Parteiorgan „Volkszeitung“herausgegeben und zielt auf ausländische Leser. „Ihr weltweiter Aufstieg, angefacht durch ausländische Medien, lässt für viele in China Alarmglocken klingen, dass die Schriftstellerin nur ein weiteres nützliches Werkzeug des Westens ist“, heißt es. So sehen Nationalisten eine „Verräterin“chinesischer Interessen, ihren Lesern gilt sie als „Gewissen von Wuhan“. (dpa)
Fang Fang: Wuhan Diary. Tagebuch aus einer gesperrten Stadt, Hoffmann und Campe, 352 Seiten, 25 Euro.