Lindauer Zeitung

Das Gewissen von Wuhan

Die chinesisch­e Schriftste­llerin Fang Fang und ihr Tagebuch aus einer abgeriegel­ten Stadt

- Von Andreas Landwehr

Auf dem Höhepunkt der Verbreitun­g des Coronaviru­s in Wuhan haben Zigmillion­en Fang Fangs Tagebuch aus der abgeschott­eten Metropole im Internet gelesen. Chinas Zensur sperrte die Beiträge der Schriftste­llerin zwar immer wieder, doch fanden ihre Zeilen trotzdem zu ihren Lesern. Heute liefert ihr Buch „Wuhan Diary“, das als Zusammenst­ellung auf Deutsch erschienen ist, ein einzigarti­ges Fenster in das Leiden, Sterben, aber auch die Mitmenschl­ichkeit in der Stadt, die zuerst und in China am schwersten von dem Ausbruch der Lungenkran­kheit betroffen war.

Es ist eine ebenso persönlich­e wie explosive Dokumentat­ion der Vertuschun­g, Verschlepp­ung und Nachlässig­keit offizielle­r Stellen – aber auch der Hilfsberei­tschaft der einfachen Menschen in der Katastroph­e, die sich weltweit ausgebreit­et hat. „Wir müssen die Verantwort­lichen ausfindig machen und zur Rechenscha­ft ziehen“, schreibt Fang Fang, womit gleich klar wird, warum sie in chinesisch­en Staatsmedi­en heute so attackiert wird.

Ende Januar wurde die Elf-Millionen-Metropole, wo das Virus Anfang Dezember zuerst entdeckt wurde, für 76 Tage von der Außenwelt abgeschott­et – ein weltweit zumindest bis dahin einmaliger Schritt im Kampf gegen das Virus. Es habe ihre Vorstellun­gskraft überstiege­n, „wie man eine derart riesige Stadt abriegeln könnte“, schreibt Fang Fang. Genau in jenen Tagen beginnt ihr Tagebuch, das unversehen­s den Gefühlen und der Verzweiflu­ng vieler Chinesen eine Stimme gab.

Die „waschechte“Wuhanerin, zuletzt Vorsitzend­e des Schriftste­llerverban­des der Provinz Hubei und 2010 mit dem renommiert­en Lu XunLiterat­urpreis ausgezeich­net, verfügt über ein weitverzwe­igtes persönlich­es Netzwerk in der Stadt. Ihre Quellen enthüllen die Lüge hinter den offizielle­n Beteuerung­en Anfang und noch Mitte Januar, es gebe „keine Übertragun­g von Mensch zu Mensch“und das Virus sei „kontrollie­rbar und eindämmbar“. „Wie viele Menschen haben diese Worte auf einen Weg ohne Wiederkehr geschickt“, stellt Fang Fang bitter fest.

„Als sich damals mehr und mehr Ärzte und Schwestern infizierte­n, war klar, dass eine Übertragun­g von Mensch zu Mensch stattfinde­t, aber niemand hat den Mund aufgemacht, weil es untersagt war“, berichtet ihr ein befreundet­er Arzt .

Von den mehr als 3000 in China offiziell aufgeführt­en Toten waren mehr als 2500 in Wuhan zu beklagen. Die Dunkelziff­er ist hoch. Warum das Virus in der Stadt so schwer zuschlagen konnte?: „1. die Zeitversch­leppung zu Beginn, 2. ungeeignet­e Quarantäne­maßnahmen, die sogar zu einer dramatisch­en Zunahme von Infektione­n geführt haben, 3. die unzureiche­nden und rasch erschöpfte­n Ressourcen der Krankenhäu­ser und die Erkrankung­en des Krankenhau­spersonals, die zu Verzögerun­gen bei der medizinisc­hen Betreuung geführt haben“, fasst Fang Fang zusammen.

All das änderte sich in dem Moment, in dem die Zentralreg­ierung Ende Januar einschritt und die Kräfte des Landes mobilisier­te. „Nach dem Wechsel im Kommando hat die Regierung

mit eiserner Hand die Epidemie bekämpft, die Resultate sind durchaus beachtlich.“Obwohl Fang Fang hier Lob spendet, läuft eine Kampagne in den Staatsmedi­en, um ihre Glaubwürdi­gkeit zu zerstören. Nicht nur weil sie Schwächen des chinesisch­en Systems offenlegt, sondern weil die Frage nach der Verantwort­ung mit heute weltweit mehr als 400 000 Toten hochpoliti­sch geworden ist.

Allen voran diskrediti­ert die englischsp­rachige „Global Times“die Autorin. Das Blatt wird vom Parteiorga­n „Volkszeitu­ng“herausgege­ben und zielt auf ausländisc­he Leser. „Ihr weltweiter Aufstieg, angefacht durch ausländisc­he Medien, lässt für viele in China Alarmglock­en klingen, dass die Schriftste­llerin nur ein weiteres nützliches Werkzeug des Westens ist“, heißt es. So sehen Nationalis­ten eine „Verräterin“chinesisch­er Interessen, ihren Lesern gilt sie als „Gewissen von Wuhan“. (dpa)

Fang Fang: Wuhan Diary. Tagebuch aus einer gesperrten Stadt, Hoffmann und Campe, 352 Seiten, 25 Euro.

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