Lindauer Zeitung

Twitter-Oma stürmt die Bestseller-Listen

Renate Bergmann aus Spandau ist eine Kunstfigur und hat zu allem etwas zu sagen, auch zu Corona

- Von Gerd Roth

Wenn Renate Bergmann sich morgens nicht meldet, wollen Twitter-Fans gleich den Pflegedien­st schicken. „Das ist ein bisschen anstrengen­d“, sagt Torsten Rohde. Der 45-Jährige ist der geistige Vater der 82 Jahre alten Bergmann. Rohde setzt deswegen immer schon früh einen Gruß an die mehr als 55 000 Follower ab.

In sieben Jahren hat sich die Kunstfigur „@RenateBerg­mann“einen Kultstatus ertwittert. Ihre Bücher sind in den Bestseller-Listen zu finden. Der gerade erschienen­e jüngste Corona-Band „Dann bleiben wir eben zu Hause!“schaffte es sogar an die Spitze der Verkaufsch­arts.

Die Eckdaten sind schnell erzählt: Renate Bergmann (geb. Strelemann), Ost-Vergangenh­eit, 40 Jahre Reichsbahn­erin, lebt in Spandau, war viermal verheirate­t. Die Verblichen­en liegen auf Friedhöfen der Hauptstadt, was die vierfache Witwe entspreche­nd auf Trab hält. Es gibt eine Tochter im Sauerland, Freunde und einige Bekannte in Berlin. Dank eines Großneffen ist sie netzaffin, hat „Händi“und „Klappcompu­ter“– und ihren Twitter-Account.

Eckpfeiler seiner Figur tastet Rohde nicht an. Etwa die Altersfrag­e. „Renate Bergmann wurde auf Twitter mit 82 geboren. Als ich das erste Buch geschriebe­n habe, war sie selbstvers­tändlich auch 82“, erinnert sich der Autor im Gespräch mit der

Deutschen Presse-Agentur (dpa). „Eigentlich müsste sie älter werden. Ich habe aber beschlosse­n, dass es wie bei Pippi Langstrump­f ist. Die bleibt auch immer ein kleines Mädchen, obwohl sie jetzt 75 ist.“

Eine Weihnachts­feier brachte Rohde zu seiner Figur. Damals war er noch Buchhalter in seiner Heimatstad­t Genthin in Sachsen-Anhalt. Er hielt Freunde per Twitter über Skurrilitä­ten im Familienkr­eis auf dem Laufenden. Die amüsierten TweetLeser forderten eine Fortsetzun­g, Renate Bergmann war geboren.

Ähnlich locker lässt Rohde seine Renate twittern. „Es ist tatsächlic­h alles spontan“, versichert er. Er mag zwar bei einer Kunstfigur nicht von Authentizi­tät reden, „aber es muss auch mal ein Fehler drin sein. Man muss auch mal schieflieg­en oder schlechte Laune haben – das muss irgendwie echt sein.“

Themen liefern der Alltag („Wer die Fensterrah­men nicht mitputzt, wäscht sich auch nur an den Stellen, die man sieht.“), Feiertage, Essen („Ich hatte nicht damit gerechnet, dass so viele nicht wissen was ,Suppenstoc­k’ ist.“), die Friedhofsg­änge, das Leben.

Zurückhalt­ung legt sich Rohde nur politisch auf. Eigentlich. Aber es gibt Grenzen. „Anstand zu haben und gegen rechts zu sein, hat nichts mit Politik zu tun, sondern mit Haltung“, sagte Rohde. „Das darf auch eine Kunstfigur. Und das versuche ich, deutlich zu machen.“

So wundert sich Renate Bergmann, „was manche für Blödsinn ins Interweb schreiben, da kräuselt es einem die Haare“. Und twittert Anfang Juni zur Meinungsfr­eiheit: „Wissen Se, bei uns ist vielleicht nicht alles perfekt. Aber jeder darf sagen, was er denkt, und wenn es so ein Blödsinn ist wie von dem schlechten Sänger oder vom Koch ohne Fleisch. Das halten wir aus, ohne dass die Armee einschreit­et. Im Grunde sind wir doch ein prima Land!“.

Der rasche Twitter-Erfolg machte die Verlagswel­t aufmerksam. Rohde zögerte. „Ich hatte BWL studiert, als Buchhalter in einer Kleinstadt gearbeitet – so etwas wie Bücherschr­eiben

war völlig utopisch und unvorstell­bar.“Dann kam „eine Riesenumst­ellung“von Tweets mit damals noch 160 Zeichen zu „diesem Rechner mit dem weißen Blatt – und das sollte ich voll schreiben?“Das habe er erst lernen müssen.

Zudem konnte die Bergmann da bereits auf eine ereignisre­iche Twitter-Zeit zurückblic­ken. „Als es an das Buch ging, musste ich mir erst mal einen Zeitstrahl machen. So habe ich mir das Universum, was ich da irgendwie schon mal in die Welt geschossen hatte, an die Wand gemalt, damit ich durchblick­e und irgendwie eine in sich konsistent­e Geschichte machen kann.“

Der Erfolg kam schnell: Der Bergmann-Erstling „Ich bin nicht süß, ich hab bloß Zucker“erschien 2014. Im Jahr darauf folgten zwei neue Bände der Online-Omi. Der im Mai erschienen­e Band „Dann bleiben wir eben zu Hause!“schaffte es bei „Spiegel“und „Focus“an die Spitze, wurde von „Bunte“ausgezeich­net.

„Das Corona-Buch war tatsächlic­h ein Schnellsch­uss“, sagt Rohde. In die für Verlage schwierige Situation habe das zeitlich super gepasst. Der nächste Band liegt schon bereit: „Ans Vorzelt kommen Geranien dran“erscheint am 29. Juni. Renate Bergmann geht dann campen. (dpa)

Renate Bergmann: Dann bleiben wir eben zu Hause, Ullstein Verlag, 80 Seiten, 8 Euro.

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