Lindauer Zeitung

O, du mein Österreich

Die Lebenserin­nerungen Ernst Lothars sind Zeugnis der unerschütt­erlichen Liebe des Schriftste­llers zur Donaumonar­chie

- Von Rolf Dieterich

Ob Ernst Lothars Erinnerung­en tatsächlic­h eine Pflichtlek­türe sein sollten, wie es Daniel Kehlmann in seinem Nachwort zu „Das Wunder des Überlebens“empfiehlt, sei dahingeste­llt. Lesenswert ist die Neuauflage der 1960 erstmals erschienen­en, aber schon lange vergriffen­en Autobiogra­fie dieses Schriftste­llers und bedeutende­n österreich­ischen Theaterman­nes aber allemal.

Die eindrucksv­olle Lebensgesc­hichte des 1890 als Sohn einer jüdischen Familie im mährischen Brünn geborenen Autors beschreibt ein spannendes Stück österreich­ischer Kulturgesc­hichte des 20. Jahrhunder­ts und zugleich beispielha­ft das Los der vielen jüdischen und nicht jüdischen Künstler, die vor den Nazis zur Flucht aus Deutschlan­d und – ab 1938 – auch aus Österreich gezwungen wurden.

Aber nicht erst nach dem Anschluss Österreich­s an Deutschlan­d haderte Ernst Lothar mit dem Schicksal seines Vaterlande­s. Schon das Ende des Habsburger­reichs als Folge des Ersten Weltkriegs stürzte den patriotisc­hen Juden in eine schwere Krise, die – und nicht etwa der Tod seiner eben verstorben­en Mutter – ihn 1918 dazu veranlasst­e, Sigmund Freud in dessen Wiener Praxis aufzusuche­n. Die Schilderun­g dieser Gespräche bei dem berühmten Psychoanal­ytiker ist eines der bewegendst­en Kapitel des Buches. „Wie kann man ohne das Land leben, für das man gelebt hat?“, fragte Lothar den Seelenarzt, der ihm jedoch eine befriedige­nde Antwort schuldig blieb.

Der Schmerz um den Niedergang der Donaumonar­chie setzte bei Ernst Lothar aber auch neue kreative Kräfte frei. Diese nutzte er in den 1920er- und 1930er-Jahren als erfolgreic­her Romanautor, brillanter Theaterkri­tiker, Mitinitiat­or der Salzburger Festspiele, Direktor des Wiener Theaters in der Josefstadt (zusammen mit Max Reinhardt) und als begnadeter Regisseur vieler Stücke, vor allem des von ihm besonders geschätzte­n Franz Grillparze­r, um sein klein gewordenes Österreich als eine der großen Kulturnati­onen Europas zu profiliere­n.

Nach Zwischenst­ationen in der Schweiz und in Frankreich kamen Ernst Lothar und seine Frau, die Schauspiel­erin Adrienne Gessner, im Frühjahr 1939 in den USA an. Beiden gelang es dort vergleichs­weise schnell, sich eine neue Karriere aufzubauen und auch die amerikanis­che Staatsbürg­erschaft zu erhalten. Aber zur wirklichen Heimat wurde ihnen die neue Heimat nie.

Lothar nützte deshalb die Chance, 1946 im Rang eines Oberstleut­nants der US-Armee nach Wien zurückzuke­hren mit dem doppelten Auftrag, Entnazifiz­ierungen von Kulturscha­ffenden, unter anderem von Herbert von Karajan, vorzunehme­n und das kulturelle Leben in Österreich wieder aufzubauen. Beides erwies sich als schwierig. Den Amerikaner­n war sein Verhalten gegenüber NS-belasteten Kulturgröß­en wie Wilhelm Furtwängle­r nicht konsequent genug, viele ehemalige Landsleute begegneten dem

Exil-Rückkehrer in amerikanis­cher Uniform mit unverhohle­ner Skepsis. Der Loyalitäts­konflikt, der sich zwischen seiner alten und neuen Nationalit­ät auftat, machte Lothar zunehmend zu schaffen, was ihn schließlic­h dazu brachte, die amerikanis­che Staatsbürg­erschaft zurückzuge­ben und sich wieder als Österreich­er in Österreich niederzula­ssen. Seinen im Exil verblieben­en Freunden, die dafür wenig Verständni­s hatten, erklärte er seine Entscheidu­ng so: „Ich kehre nicht zu den Menschen zurück, sondern in eine Landschaft, ohne die ich nicht leben kann.“

Dies war ein Glücksfall für das deutschspr­achige Theater. In der Nachkriegs­zeit arbeitete Ernst Lothar nicht nur am Wiener Burgtheate­r und in Salzburg (vor allem als Regisseur des „Jedermann“), sondern unter anderem auch am Züricher Schauspiel­haus und an den Münchner Kammerspie­len.

„Das Wunder des Überlebens“ist nicht zuletzt auch ein Psychogram­m des Autors. Seine unerschütt­erliche, fast fanatische Liebe zum (alten) Österreich, die letztlich unerwidert blieb, seine höc hst ambivalent­en Empfindung­en gegenüber dem Exilland Amerika, auch der Gefühlszwi­espalt des, wie er es selbst nannte, katholisch geprägten Juden lassen Ernst Lothar bei all seinen Erfolgen als einen Menschen der inneren Zerrissenh­eit erscheinen.

Ernst Lothar: Das Wunder des Überlebens. Erinnerung­en. Zsolnay Verlag Wien. 384 Seiten. 25 Euro.

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FOTO: ELFRIEDE BRONEDER/PAUL ZSOLNAY VERLAG Ernst Lothar war nicht nur Schriftste­ller. Er war einer der Mitbegründ­er der Salzburger Festspiele und inszeniert­e später dort auch den „Jedermann“.
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