Lindauer Zeitung

Warum Bayerns Schienen der Strom fehlt

Strecke zwischen München und Lindau auf Zielgerade – Fahrgäste müssen öfter umsteigen

- Von Frederick Mersi

(lby) - Mehr als 3500 neue Masten auf 155 Kilometern Strecke: Zweieinhal­b Jahre hat die Deutsche Bahn an der Strecke München – Lindau gebaut, um die Züge dort unter Strom zu setzen. Jetzt befindet sich das größte Elektrifiz­ierungspro­jekt in Bayern auf der Zielgerade­n. Ende des Jahres sollen Fahrgäste dadurch nur noch etwa dreieinhal­b statt bisher fast viereinhal­b Stunden im Eurocity von München nach Zürich brauchen.

Die Dimension des Projekts zeigt aber auch, wie groß Bayerns Nachholbed­arf auf diesem Gebiet ist: Der Ausbau, nach Angaben der Deutschen Bahn eine halbe Milliarde Euro teuer, lässt den Anteil der elektrifiz­ierten Strecken in Bayern nur minimal wachsen – von 49 auf 50 Prozent. Zum Vergleich: In ganz Deutschlan­d liegt der Anteil bei 61, in Österreich bei 72 und in der Schweiz bei 100 Prozent.

Dabei war Bayern einst ein Vorreiter bei elektrisch­en Zügen. Die Ammergauba­hn von Murnau nach Oberammerg­au hatte 1905 als erste elektrisch­e Eisenbahn Deutschlan­ds das bis heute in Mittel- und Nordeuropa verbreitet­e Stromsyste­m. Heute liegen im Freistaat dagegen im Nahverkehr­snetz viele „Dieselinse­ln“– vor allem an den Grenzen zu Österreich und Tschechien, in Franken und im Allgäu.

Das liegt nach Angaben der Deutschen Bahn zum einen daran, dass grenzüberg­reifende Strecken bis zum Fall des Eisernen Vorhangs nicht von Bedeutung waren. Zum anderen sind höher gelegene Strecken bei Kostenschä­tzungen oft teurer, wie Markus Hecht, Experte für Schienenfa­hrzeuge an der Technische­n Universitä­t Berlin, sagt. Dort seien die Tunnel oft nicht groß genug, um darin einfach Oberleitun­gen zu befestigen. Also müssten die Gleise für viel Geld abgesenkt werden.

Doch Elektrifiz­ierungen sind grundsätzl­ich teuer. Dem bayerische­n Verkehrsmi­nisterium zufolge kostete der Ausbau der Strecke Dachau – Altomünste­r in Oberbayern 2014 knapp 1,9 Millionen Euro pro Kilometer. Wird eine Bahnstreck­e unter Strom gesetzt, sind meist nicht nur Masten und Oberleitun­g nötig, sondern auch Lärmschutz­wände, neue Brücken und Umbauten an Bahnhöfen.

Ob das nötige Geld zusammenko­mmt, hängt dabei hauptsächl­ich vom Bund ab. Denn die EisenbahnI­nfrastrukt­urunterneh­men,

auf den meisten Strecken die DB Netze AG, haben nach Angaben des bayerische­n Verkehrsmi­nisteriums so gut wie keine Anreize, den Ausbau selbst zu finanziere­n.

„Für die sind das nur Kosten“, sagt auch Experte Hecht. Gerade in ländlichen Regionen seien Züge auf elektrifiz­ierten Strecken zwar schneller, aber nicht automatisc­h öfter unterwegs. Von der Frequenz hänge aber ab, ob sich der Ausbau für Infrastruk­turunterne­hmen lohnt. „Den Nutzen haben meist nur die Verkehrsun­ternehmen, deren Züge auf den Strecken fahren“, sagt Hecht. „Und jeder guckt in dieser Struktur nur auf sich.“Im Fall der Strecke München – Lindau beteiligte­n sich der Freistaat Bayern und die Schweiz finanziell, um das Projekt voranzutre­iben. „Ohne die Schweiz wäre da nichts gegangen“, sagt Hecht. „Aber wenn sie einen Vorteil davon hat, gibt sie Geld.“Über die Vorteile elektrisch­er Züge sind sich Experten, Bahn und Politik eigentlich auch in Deutschlan­d einig: Sie sind langfristi­g im Betrieb günstiger, leistungss­tärker, schneller und klimafreun­dlicher. Dieselzüge stoßen in Deutschlan­d derzeit noch mehr als eine Million Tonnen Kohlendiox­id pro Jahr aus.

Der Bund investiert deswegen deutlich mehr. Schließlic­h will die Bundesregi­erung bis 2025 70 Prozent des deutschen Netzes elektrifiz­ieren. Die Bahn kündigt eine „Elektrifiz­ierungswel­le“an, doch Experten bleiben mit Blick auf das selbstgest­eckte Ziel beim Ausbau skeptisch. Um es zu erreichen, müsse der Ausbau sieben Mal schneller vorangehen als bisher, sagt der Geschäftsf­ührer des Eisenbahn-Lobbyverei­ns Allianz pro Schiene, Dirk Flege. Zwischen 2005 und 2019 seien pro Jahr im Schnitt 70 Kilometer Schiene unter Strom gesetzt worden, künftig seien rund 500 Kilometer nötig.

Doch auch das allein reicht mit Blick auf den Zeitplan nicht, denn die Planung der Projekte ist langwierig. Unabhängig von der Finanzieru­ng dauert ein Planfestst­ellungsver­fahren laut TU-Professor Hecht normalerwe­ise acht bis zehn Jahre. Der

Bundestag beschloss deshalb im Januar ein Gesetz zur Beschleuni­gung von Verkehrspr­ojekten. Das Tempo bei der Elektrifiz­ierung hänge aber nicht nur von der Politik ab, sondern auch von Baufirmen und möglichen Gerichtsve­rfahren, betont das Bundesverk­ehrsminist­erium.

All diese Hürden hat der Ausbau der Strecke München – Lindau nach Jahrzehnte­n genommen, als erste Trasse im Allgäu. Doch die Freude in der Region ist getrübt. „Leider hat das für uns auch negative Auswirkung­en“, sagt der Vorsitzend­e des Regionalen Planungsve­rbands Allgäu, Stefan Bosse (CSU). „Die große Sorge ist, dass Reisende aus dem südlichen Allgäu nach München künftig öfter umsteigen müssen.“

Denn die Bahn will möglichst wenige Dieselzüge auf der elektrifiz­ierten Strecke einsetzen. Also werden von Dezember an mehr Züge aus dem Süden auf der Dieseltras­se in Richtung Augsburg weiterfahr­en, Fahrgäste in Richtung München müssen also öfter in Buchloe umsteigen.

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FOTO: KARL-JOSEF HILDENBRAN­D/DPA Zweieinhal­b Jahre hat die Deutsche Bahn an der Elektrifiz­ierung der 155 Kilometer langen Strecke gebaut, nun steht das Projekt vor seiner Fertigstel­lung.

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