Mammutprozess mit politischer Dimension
- Fernsehteams und Reporter stehen auf dem Vorplatz des Paulussaals. Im Schatten eines mächtigen Baumes umringen sie zum Interview die Staatsanwälte Rainer Schmid und Thorsten Krapp, die zufrieden wirken. Andere holen noch bei Jörg Ritzel, dem Verteidiger des Hauptbeschuldigten Majid H., die O-Töne ein. Es ist der Moment, in dem eine Gerichtsbesucherin zu klatschen beginnt.
Die Frau war als Zuhörerin an den meisten der 43 Prozesstage mit dabei, in denen es um die mühsame Aufarbeitung der Gruppenvergewaltigung einer damals 18-Jährigen im Oktober 2018 in Freiburg ging – zuerst von Juni bis März im eigens für den Prozess umgebauten Saal IV des Landgerichts Freiburg. Und seit Mitte Mai im coronakonformen Ersatzgerichtsort Paulussaal. Der Beifall der eisernen Prozessbeobachterin gilt Richter Stefan Bürgelin, der mit Beisitzern und Schöffen den Saal durch einen Nebenausgang verlässt. Nach getaner Schwerstarbeit in einem unglaublich aufwendigen und komplexen Verfahren, in dem sich das Gericht auf DNA-Spuren, Gutachten, Zeugenaussagen und die Vernehmungen der Polizei stützen musste. Das Opfer konnte sich nicht im Detail an alles erinnern, was geschehen war. Die Angeklagten zogen es vor, zu schweigen.
Die Szene mit der Frau und dem Applaus hat auch Claudia Winker beobachtet, die ein paar Meter danebensteht. „Es ist gut, dass es endlich ein Urteil gibt“, sagt die Leiterin der Beratungsstelle Frauenhorizonte, die auch das Opfer der Tat betreut hat. „Aber eigentlich hat es nur Verlierer gegeben“, meint sie nachdenklich. Da ist die junge Frau, die bis heute unter den Folgen der Tat leidet und die auch unter dem langen Prozess und der Berichterstattung gelitten hat. Verlierer seien auch die Verurteilten, die – sollte das Urteil vom Donnerstag rechtskräftig werden – in ihrer Mehrzahl Haftstrafen bekommen und damit längere Zeit hinter Gittern landen. Sieben der elf Angeklagten hat das Gericht wegen Vergewaltigung verurteilt – und ist damit beim Strafmaß im Wesentlichen den Forderungen der Staatsanwaltschaft gefolgt.
Die Frauenhorizonte-Chefin sagt, sie sei dem Gericht um den erfahrenen Richter Bürgelin, aber auch Staatsanwälten und Nebenklage-Vertreterin dankbar, dass sie sich in dem Verfahren sehr um den Opferschutz bemüht hätten. „Zu den Verteidigerinnen und Verteidigern möchte ich lieber nichts sagen“, fügt sie hinzu. Vor allem in den ersten Tagen des Prozesses im
Juni 2019 sind die Wogen hochgegangen, als einige Anwälte Medien gegenüber drastische Aussagen zitierten, die das Opfer in jener Nacht getätigt haben soll. Das wiederum führte dazu, dass Verteidiger teils massiv bedroht wurden und sogar Sicherheitskräfte engagieren mussten. Später beruhigte sich das Verfahren, auch wenn es immer wieder scharfe Wortwechsel im Gerichtssaal gab.
Anwältin Christiane Steiert hat die Nebenklägerin vor Gericht vertreten. Das Urteil, so wie es nun gefällt wurde, hält sie für „in Ordnung“, wie sie beim Hinausgehen sagt: „Wichtig ist, dass das Opfer nun endlich abschließen kann.“Die zur Tatzeit 18-Jährige leidet, darauf hat der Richter bei der Urteilsverkündung hingewiesen, unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, hat noch immer Schwierigkeiten beim Ein- und Durchschlafen. Absolut glaubwürdig sei die junge Frau gewesen, sagte der Richter in seiner Urteilsbegründung. Sie sei ohne Belastungseifer aufgetreten, rekapituliert Bürgelin ihre Aussage, die sie im letzten Sommer per Video und unter Ausschluss der Öffentlichkeit gemacht hatte. Sie war in jener Nacht zum 14. Oktober erstmals im Club Hans Bunte im Freiburger Norden gewesen. Und erstmals überhaupt nahm sie eine EcstasyPille, die ihr Alaa A., der Kumpan des Haupttäters, verkauft hatte.
Das Opfer hatte zuvor Bier und Pfefferminzlikör getrunken, dazu kam dann noch die hoch dosierte Tablette mit Herzaufdruck. Irgendwie „schwebend“sei sie gewesen, so die junge Frau – und sie war ohne Misstrauen, als sie mit Majid
Eine damals 18 Jahre alte Frau hat am Sonntagmorgen, 14. Oktober 2018, auf dem Polizeirevier in Waldkirch angezeigt, dass sie in der Nacht davor beim Club Hans Bunte im Norden Freiburgs von mehreren Männern vergewaltigt worden ist. Die Ermittlungen der Polizei führten schon bis zum 26. Oktober zu der Festnahme von acht Männern, die unter dringendem Tatverdacht standen. Drei weitere Haftbefehle folgten in den Wochen und Monaten danach. Der Fall schlug bundesweit hohe Wellen. Bei der Mehrheit der Tatverdächtigen handelte es sich um syrische Flüchtlinge. Oberbürgermeister Martin Horn (parteilos) warnte vor Pauschalisierungen,
H., eben jenem Hauptbeschuldigten, mitging, um sich draußen vor dem Club seine Tattoos zeigen zu lassen. „Sie sind der Haupttäter, Sie haben das ganze Geschehen ins Rollen gebracht“, betont Richter Bürgelin, als er den Schuldspruch für den Syrer begründet. Deswegen habe der heute 23-jährige H. auch die höchste Strafe von fünfeinhalb Jahren verdient.
Das Opfer selbst konnte sich nur an das erinnern, was ihr Majid H. angetan hatte. Sie habe die Kontrolle über ihren Körper verloren, habe nicht mehr schreien können, sei kraftlos gewesen. „Sie hatte das Gefühl, nicht mehr im eigenen Körper zu sein“, zitiert der Vorsitzende aus der Aussage des Opfers. Nur „Erinnerungsinseln“seien noch vorhanden gewesen. Bürgelin schließt nicht aus, dass die junge Frau in dieser Situation sexualisierte
er erhielt daraufhin sogar Morddrohungen.
Ende Oktober stellte sich heraus, dass gegen den Hauptverdächtigen Majid H. bereits ein Haftbefehl vorgelegen hatte, der aber von der Freiburger Polizei noch nicht vollstreckt worden war. Dazu gab es später auch eine Anhörung im Landtag. Innenminister Thomas Strobl (CDU) geriet unter Druck. Ins Leben gerufen wurde auch eine Ermittlungsgruppe – sowohl im Innenministerium als auch im Regierungspräsidium Freiburg, die sich speziell um Intensivtäter kümmern sollte. Strobl brachte auch eine Abschiebung von Straftätern nach Syrien ins Gespräch. Wie Polizei-Insider berichten, hat die Sätze geäußert oder nachgeplappert hat. Dass der Sex, wie die Angeklagten bis zum Schluss behaupteten, einvernehmlich gewesen oder vom Opfer gar eingefordert worden sein soll, wertet das Gericht als Schutzbehauptung. Und die Kammer hält es auch für ausgeschlossen, dass die junge Clubbesucherin in jener Nacht auf sexuelle Erlebnisse aus war. Das würde so ganz und gar nicht zu ihrem Lebenswandel passen, so Bürgelin.
Neben der Aussage des Opfers stellt das Gericht sein Urteil noch auf eine zweite entscheidende Säule: auf die Aussagen des Freiburger Toxikologen Volker Auwärter und des Psychiaters Torsten Passie. Die Sachverständigen bezeichneten es aus wissenschaftlicher Sicht als ausgeschlossen, dass der Mix aus Alkohol und hoch dosiertem Ecstasy für eine gesteigerte Libido sorgt.
Polizei den Umgang mit Haftbefehlen seit dem Fall H. geändert.
In die Debatte eingeschaltet hatte sich Anfang November 2018 auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne): „Das Gefährlichste, was die Evolution hervorgebracht hat, sind junge Männerhorden“, sagt er damals. Er wollte straffällige Flüchtlinge von Großstädten fernhalten – und im Land verteilen. Die Aussagen brachten Kretschmann heftige Kritik von grünen Parteifreunden ein. Auf die Diskussionen um den Fall der Gruppenvergewaltigung geht auch die Einführung beschleunigter Gerichtsverfahren in Baden-Württemberg zurück, die Justizminister Guido Wolf (CDU) umgesetzt hat.
Richter Bürgelin wiederholt am Donnerstag den prägnanten Satz, den der Toxikologe Auwärter im Zeugenstand gesagt hatte: „Bei einer solchen Dosis MDMA denkt man alles, nur nicht an Sex.“Die Verteidiger hatten das Passie-Gutachten scharf attackiert und sogar einen Antrag auf Befangenheit eingereicht. Den hat die Kammer abgelehnt – und aus der Begründung ließ sich schon herauslesen, in welche Richtung das heute nun verkündete Urteil gehen würde.
Für Richter Bürgelin steht auch fest: Trotz der schlechten Lichtverhältnisse am Tatort im Gebüsch hätten die Verurteilten erkennen können, dass sich das Opfer in einer hilflosen Lage befindet, dass die junge Frau keinen eigenen Willen mehr bilden und sich nicht mehr wehren kann. Entsprechende Aussagen hatte es auch von Zeugen gegeben, die mit am Tatort waren.
„Sie haben sie liegen gelassen und anderen preisgegeben“, das ist ein Satz, den der Richter wortgleich zu mehreren Angeklagten sagt.
Allen elf hat er das Urteil und das persönliche Strafmaß erläutert. Der deutsche Mittäter Timo P. mit größerem Vorstrafenregister wird vier Jahre ins Gefängnis geschickt. Sitznachbar Jekar D. für dreieinhalb Jahre – weil der Koch, der eine feste Anstellung hatte und gut integriert war, bislang überhaupt noch keinen Eintrag ins Strafregister hatte. Bei den meisten Angeklagten war die Liste der Vorstrafen eher kurz.
Die Straftat löste auch neue Debatten um die Sicherheitslage in Freiburg aus – ähnlich wie es schon nach den beiden Frauenmorden im Herbst 2016 geschehen war. Das Land Baden-Württemberg und die Stadt Freiburg vereinbarten einen Ausbau der 2017 besiegelten Sicherheitspartnerschaft. Dafür stockte die Polizei ihr Personal in Freiburg noch einmal auf, die Stadt schickte mehr Mitarbeiter des städtischen Vollzugsdiensts und mehr Sozialarbeiter auf die Straße. Deutlich ausgebaut und verbessert wurde in Freiburg auch das FrauenNachttaxi, das seit der Ausweitung deutlich mehr Mitfahrerinnen befördert als davor. (rö)
Der junge Syrer Muhanad M. hat vom Gericht, wie erwartet, einen Freispruch bekommen. Er hatte dem Opfer in jener Nacht aus dem Gebüsch geholfen. Verurteilt wurde er zu elf Monaten, weil bei ihm ein Gramm Haschisch gefunden worden war und er schon zuvor wegen eines Drogendelikts aufgefallen war. M.s Verteidiger Jan-Georg Wennekers hatte schon zu Beginn des Prozesses kritisiert, dass sein Mandant in U-Haft musste. Für ihn war das eine Folge des politischen Drucks, unter dem seiner Meinung nach die Ermittler in diesem Verfahren standen.
Nur vier Monate wegen unterlassener Hilfeleistung und damit die geringste Strafe bekam Kosay Al H. Der junge Syrer hat, wie der Richter lobte, durch seine Aussagen viel zur Aufklärung des Verbrechens beigetragen. Weil er elf Monate in Untersuchungshaft saß und damit viel länger, als es nun das Strafmaß vorsieht, billigte ihm das Gericht eine Haftentschädigung zu.
Alle Angeklagten haben die Urteilsverkündung ohne jede äußerliche Regung hingenommen. Als der Richter sie dann einzeln durchgeht, spricht er immer wieder darüber, dass es Anfeindungen in den Gefängnissen gegen die Angeklagten gegeben habe. „Sexualstraftäter stehen ganz weit unten in der Hierarchie“, so Bürgelin. Und bevor den Männern an diesem Morgen wieder Handschellen angelegt und sie wieder zu ihren Gefangenentransportern geführt werden, gibt der Richter dem ein oder anderen Verurteilten noch ein paar durchaus motivierende Worte mit auf den Weg, mahnt, dass sie nach der Haft die Kurve kriegen und den Neustart schaffen müssten.
Dann ist dieser Mammutprozess tatsächlich vorbei. Er war anstrengend für alle. Auch für die Verteidiger. Erwartbar sei das Urteil gewesen, sagt Jörg Ritzel, der den Haupttäter Majid H. vertritt. Das Gericht habe seinen Schuldspruch auf ein fragwürdiges Gutachten gestützt. Und es habe auch Widersprüche in der Aussage des Opfers gegeben. „Aber weil die Plädoyers unter Ausschluss der Öffentlichkeit gehalten wurden, kann auch niemand verstehen, warum wir Freispruch beantragt haben“, sagt Ritzel. Eine Woche haben die Angeklagten nun Zeit, das Urteil anzufechten. Ritzel geht aber davon aus, dass Majid H. Revision einlegen wird.
Christiane Steiert, Anwältin der jungen Frau
„Wichtig ist, dass das Opfer nun endlich abschließen kann.“