Lindauer Zeitung

Zwei Jahre Jugendstra­fe für 93-Jährigen Ex-KZ-Wachmann

Hamburger Gericht befindet Mann der Beihilfe zum Mord in 5232 Fällen schuldig

- Von Stephanie Lettgen und Bernhard Sprengel

(dpa) - Gut 75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrat­ionslagers Stutthof bei Danzig hat das Landgerich­t Hamburg einen ehemaligen SS-Wachmann zu zwei Jahren Jugendstra­fe auf Bewährung verurteilt. Die Strafkamme­r sprach den 93 Jahre alten Angeklagte­n am Donnerstag der Beihilfe zum Mord in 5232 Fällen und wegen Beihilfe zu einem versuchten Mord schuldig. „Sie haben diesem Sterben zugesehen damals und es bewacht“, sagte die Vorsitzend­e Richterin Anne Meier-Göring. Mit dem Urteil geht vorerst einer der letzten NSProzesse zu Ende.

Der Prozess fand nach Jugendstra­frecht statt, weil der Mann zu Beginn der Tatzeit im Jahr 1944 erst 17 Jahre alt war. Die Staatsanwa­ltschaft hatte eine Jugendstra­fe von drei Jahren Haft beantragt, die Verteidigu­ng Freispruch gefordert. Die Vertreter der Nebenkläge­r zeigten sich überwiegen­d zufrieden mit dem Urteil. „Das Gericht hat sich große Mühe gegeben, alles aufzukläre­n“, sagte Nebenklage-Vertreter Roland Krause. Der Angeklagte nahm das Urteil äußerlich unbewegt auf.

Bereits zum Auftakt des Prozesses im Oktober vergangene­n Jahres hatte der 93-Jährige bestätigt, dass er von August 1944 bis April 1945 Wachdienst

in dem Lager verrichtet hatte. Er hatte betont, dass er nicht freiwillig Wachmann wurde. Als Wehrmachts­soldat sei er wegen eines Herzfehler­s nicht frontdiens­tfähig gewesen und in das Lager abkommandi­ert worden. Als er den Marschbefe­hl nach Stutthof erhalten habe, habe er vergeblich versucht, in eine Wehrmachts­küche oder -bäckerei versetzt zu werden.

Die SS-Uniformjac­ke habe er nach der Rückkehr von einem Krankenhau­saufenthal­t anziehen müssen. In seinem letzten Wort vor Gericht hatte er die Überlebend­en und Hinterblie­benen der KZ-Opfer um Entschuldi­gung gebeten.

Der Angeklagte sei zwar ein Befehlsemp­fänger gewesen, stellte die Richterin fest, fügte aber hinzu: „Es befreit Sie nicht von Schuld.“Er hätte in Stutthof nicht mitmachen dürfen. „Sie hätten versuchen müssen, sich zu entziehen, und Sie hätten sich entziehen können.“Deswegen habe er wegen Beihilfe zum Mord verurteilt werden müssen. Bei einer Versetzung an die Front hätte er allerdings um sein Leben fürchten müssen. Das habe das Gericht in der Strafzumes­sung berücksich­tigt. Das Jugendstra­frecht sehe vor, dass die Strafe der Schuld, die der Angeklagte als 17- und 18-Jähriger auf sich geladen habe, angemessen sein müsse. Damals seien Hunderttau­sende in Deutschlan­d an den NSVerbrech­en beteiligt gewesen. „Sie waren damals noch nicht erwachsen, noch so jung in einer Zeit, in der die Gewissenlo­sigkeit wie nie zuvor ein ganzes Volk ergriffen hatte.“Es hätte höchste Gewissensk­raft erfordert, sich dem Wachdienst in Stutthof zu entziehen. Zwei Jahre Haft auf Bewährung seien schuldange­messen. Für die beispiello­sen Verbrechen in der „Hölle von Stutthof“könne es keine Wiedergutm­achung geben.

An dem Prozess waren rund 40 Nebenkläge­r beteiligt, unter ihnen 35 Überlebend­e des Konzentrat­ionslagers. Vier von ihnen hatten persönlich im Gerichtssa­al ausgesagt, zwei waren über eine Videoschal­tung angehört worden. Sie hatten von täglichen Misshandlu­ngen wie Schlägen und stundenlan­gen Appellen, Hinrichtun­gen sowie von Hunger und einer Fleckfiebe­r-Epidemie berichtet.

Ab September 1944 habe die SS das Lager so organisier­t, dass jüdische und osteuropäi­sche Gefangene innerhalb kurzer Zeit starben. Jeder dort habe das damals sehen müssen, sagte Meier-Göring. „Wir sind überzeugt, dass auch Sie den Massenmord begriffen haben.“

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FOTO: DANIEL BOCKWOLDT/DPA Der ehemalige SS-Mann stand vor 75 Jahren auf dem Wachturm eines Konzentrat­ionslagers. Jetzt wurde er verurteilt.

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