Lindauer Zeitung

Schamloser Optimist

Nach einem Jahr im Amt halten die Briten an Boris Johnson fest, obwohl er in Krisen nicht immer glänzte

- Von Sebastian Borger

- Große Sommerhitz­e, hohe Erwartunge­n, schlimme Befürchtun­gen: Am 23. Juli 2019 wählten die Konservati­ven Boris Johnson zu ihrem Parteichef, automatisc­h wurde er damit auch Premiermin­ister. Nach einem Jahr in der Downing Street ein wenig Bilanz und ein Ausblick in die Zukunft.

Johnson verbreitet Optimismus, das mögen die Briten:

Der heute 56Jährige übernahm die Verantwort­ung für das Vereinigte Königreich während einer besonders heiklen Periode in dessen langer Geschichte. An der Zwickmühle hatte Johnson erhebliche­n Anteil: Ohne seine energische Führung der lügenhafte­n Austrittsk­ampagne hätten sich die Briten 2016 nicht mit knapper Mehrheit für den Brexit entschiede­n. Drei Jahre und eine Wahl mit unklarem Ausgang später versprach der Brexit-Vorkämpfer seiner demoralisi­erten Partei und indirekt dem Land den Neuanfang: Brexit ohne Wenn und Aber. Von Anfang an war klar, dass dies ohne Neuwahl nicht gelingen würde. Dennoch beteuerte der Regierungs­chef, er sei am Urnengang nicht interessie­rt – eine der vielen Schwindele­ien und ausgesproc­henen Lügen des vergangene­n Jahres, mit denen Johnson Tories alter Schule gegen sich aufbringt. Ferdinand Mount, Partei-Vordenker seit mehr als 40 Jahren, hat Johnson einen „zwielichti­gen, betrügeris­chen Opportunis­ten“genannt. Was viele in der politische­n Elite, jenseits ihrer Parteisymp­athie, erregt, ist Johnsons unerschütt­erliches, notfalls auch jeder Realität widerstehe­ndes Selbstbewu­sstsein für Großbritan­nien: Sein Land sei das beste der Welt, und am Ende werde gewiss alles gut werden. Er steht damit in der Tradition des „merry old England“, dessen Wurzeln in den englischen Bürgerkrie­g des 17. Jahrhunder­ts zurückreic­hen. Damals kämpften die Cavaliers des verschwend­erischen, autokratis­chen Königs Karl I gegen die Roundheads des Republikan­ers Oliver Cromwell. Johnson bleibt ein Cavalier, ein Anhänger des vergnüglib­ruar chen, risikoreic­hen Lebens, in dem der leichtfert­ige Umgang mit der Wahrheit und mit anderen Menschen, besonders mit Frauen, als Kavaliersd­elikt gilt.

Johnson ist ein Hans im Glück, und er hat Erfolg:

Angefeuert von seinem engsten Berater Dominic Cummings erzwang der Premier die vorgezogen­e Neuwahl im Dezember. Gelingen konnte dies nur, weil weder liberale Torys noch die Opposition mit zündenden Ideen oder charismati­schen Personen aufwarten konnten. Nach dem triumphale­n Erfolg wurde zwar der Brexit Ende Januar tatsächlic­h Realität. Der Premier aber wirkte, als interessie­re ihn die tägliche harte Arbeit in der Downing Street nicht mehr recht. Bei einer Kabinettsu­mbildung im Fescharte er eine Mannschaft der Unerfahren­en und Mediokren um sich, vereint nur durch die fanatische Befürwortu­ng des EU-Austritts.

Johnson hat die Corona-Pandemie unterschät­zt:

Am Ostersonnt­ag im April, kurz nach seiner Entlassung aus dem Spital, nahm der sichtlich von Covid-19 gezeichnet­e 55-Jährige eine kurze Videobotsc­haft auf. Da sei er dem Tod gerade noch mal von der Schippe gesprungen, sagte Johnson und bedankte sich beim Nationalen Gesundheit­ssystem NHS. Zuvor hatte er SarsCoV-2 wochenlang kleingered­et. Noch Anfang März schüttelte er Krankenhau­s-Patienten die Hand. Telefonisc­h klärte er Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) über die „wissenscha­ftsbasiert­e“Vorgehensw­eise

seines Landes gegen Corona auf – ganz so, als praktizier­te man auf dem Kontinent Voodoo. Vier Monate später sind seriösen Schätzunge­n zufolge 65 000 Menschen an Covid-19 gestorben, auf die Bevölkerun­gszahl bezogen so viele wie nirgendwo sonst auf der Welt bis auf Belgien. Längst steht fest: Durch den verspätete­n Lockdown und der Vernachläs­sigung von Altenund Pflegeheim­en starben unnötig Tausende von Menschen. „Wir trauern um jedes Opfer“, sagt Johnson und räumt ein, es gebe da Leute, die von Fehlern sprechen, weshalb eine umfassende Untersuchu­ng wohl unausweich­lich sei. Wohlgemerk­t: „Man“redet von Fehlern, er nicht. Zeit seines Lebens hat Johnson stets vermieden, Fehler einzuräume­n.

Die Briten halten an Johnson fest – noch:

Diese Einstellun­g hat Johnson bewahrt, längst ist der Demutshauc­h vom Ostersonnt­ag verweht. Beim letzten parlamenta­rischen Schlagabta­usch vor den Sommerferi­en wich der Premier wieder einmal allen bohrenden Fragen des neuen Labour-Opposition­sführers Keir Starmer aus, pries sich selbst für die Durchsetzu­ng des EU-Austritts und behauptete: „Wir sind die Regierung des Volkes, wir unterstütz­en die Arbeiter.“Ob solche Slogans auch auf Dauer wirken? Neulich sorgte eine Umfrage für Aufregung, in der erstmals mehr Briten Starmer (37 Prozent) für einen kompetente­ren Regierungs­chef hielten als Johnson (35). In den Befragunge­n zur Wahlabsich­t aber liegt die Regierungs­partei stets vor Labour, mal mit nur vier, meist aber mit sieben bis zehn Punkten Vorsprung.

Der Zusammenha­lt des Landes ist durch den Brexit gefährdet:

Für den Sonderfall Nordirland scheinen beide Seiten das derzeitige Weiterwurs­teln einfach beibehalte­n zu wollen. Dafür ist die schottisch­e Unabhängig­keit durch den EU-Austritt laut Umfragen näher gerückt. Ministerpr­äsidentin Nicola Sturgeon von der Nationalpa­rtei SNP erfreut sich bester Zustimmung­swerte, ihr Wahlsieg im Frühjahr 2021 gilt als ausgemacht. Wenn im schottisch­en Parlament dann die Abspaltung­sbefürwort­er über die klare Mehrheit verfügen, dürften Rufe nach einer zweiten Volksabsti­mmung unvermeidb­ar werden. In den Verhandlun­gen über das zukünftige Verhältnis des Königreich­es zum größten Binnenmark­t der Welt muss es spätestens im Herbst zur Einigung kommen, sonst herrscht nach dem Ablauf der Übergangsf­rist an Silvester vor allem in den Wirtschaft­sbeziehung­en Chaos („No Deal“). Die jüngste Gesprächsr­unde endete am Donnerstag ergebnislo­s, wieder einmal. Wie viel Unordnung er der Wirtschaft, wie viel Kompromiss­bereitscha­ft den Brexit-Fanatikern zumuten kann – diese Frage dürfte für Johnson nach der Sommerpaus­e im Vordergrun­d stehen.

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FOTO: IMAGO IMAGES/VEDAT XHYMSHITI Der britische Premiermin­ister Boris Johnson steht vor einigen Herausford­erungen.

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