Schamloser Optimist
Nach einem Jahr im Amt halten die Briten an Boris Johnson fest, obwohl er in Krisen nicht immer glänzte
- Große Sommerhitze, hohe Erwartungen, schlimme Befürchtungen: Am 23. Juli 2019 wählten die Konservativen Boris Johnson zu ihrem Parteichef, automatisch wurde er damit auch Premierminister. Nach einem Jahr in der Downing Street ein wenig Bilanz und ein Ausblick in die Zukunft.
Johnson verbreitet Optimismus, das mögen die Briten:
Der heute 56Jährige übernahm die Verantwortung für das Vereinigte Königreich während einer besonders heiklen Periode in dessen langer Geschichte. An der Zwickmühle hatte Johnson erheblichen Anteil: Ohne seine energische Führung der lügenhaften Austrittskampagne hätten sich die Briten 2016 nicht mit knapper Mehrheit für den Brexit entschieden. Drei Jahre und eine Wahl mit unklarem Ausgang später versprach der Brexit-Vorkämpfer seiner demoralisierten Partei und indirekt dem Land den Neuanfang: Brexit ohne Wenn und Aber. Von Anfang an war klar, dass dies ohne Neuwahl nicht gelingen würde. Dennoch beteuerte der Regierungschef, er sei am Urnengang nicht interessiert – eine der vielen Schwindeleien und ausgesprochenen Lügen des vergangenen Jahres, mit denen Johnson Tories alter Schule gegen sich aufbringt. Ferdinand Mount, Partei-Vordenker seit mehr als 40 Jahren, hat Johnson einen „zwielichtigen, betrügerischen Opportunisten“genannt. Was viele in der politischen Elite, jenseits ihrer Parteisympathie, erregt, ist Johnsons unerschütterliches, notfalls auch jeder Realität widerstehendes Selbstbewusstsein für Großbritannien: Sein Land sei das beste der Welt, und am Ende werde gewiss alles gut werden. Er steht damit in der Tradition des „merry old England“, dessen Wurzeln in den englischen Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts zurückreichen. Damals kämpften die Cavaliers des verschwenderischen, autokratischen Königs Karl I gegen die Roundheads des Republikaners Oliver Cromwell. Johnson bleibt ein Cavalier, ein Anhänger des vergnüglibruar chen, risikoreichen Lebens, in dem der leichtfertige Umgang mit der Wahrheit und mit anderen Menschen, besonders mit Frauen, als Kavaliersdelikt gilt.
Johnson ist ein Hans im Glück, und er hat Erfolg:
Angefeuert von seinem engsten Berater Dominic Cummings erzwang der Premier die vorgezogene Neuwahl im Dezember. Gelingen konnte dies nur, weil weder liberale Torys noch die Opposition mit zündenden Ideen oder charismatischen Personen aufwarten konnten. Nach dem triumphalen Erfolg wurde zwar der Brexit Ende Januar tatsächlich Realität. Der Premier aber wirkte, als interessiere ihn die tägliche harte Arbeit in der Downing Street nicht mehr recht. Bei einer Kabinettsumbildung im Fescharte er eine Mannschaft der Unerfahrenen und Mediokren um sich, vereint nur durch die fanatische Befürwortung des EU-Austritts.
Johnson hat die Corona-Pandemie unterschätzt:
Am Ostersonntag im April, kurz nach seiner Entlassung aus dem Spital, nahm der sichtlich von Covid-19 gezeichnete 55-Jährige eine kurze Videobotschaft auf. Da sei er dem Tod gerade noch mal von der Schippe gesprungen, sagte Johnson und bedankte sich beim Nationalen Gesundheitssystem NHS. Zuvor hatte er SarsCoV-2 wochenlang kleingeredet. Noch Anfang März schüttelte er Krankenhaus-Patienten die Hand. Telefonisch klärte er Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) über die „wissenschaftsbasierte“Vorgehensweise
seines Landes gegen Corona auf – ganz so, als praktizierte man auf dem Kontinent Voodoo. Vier Monate später sind seriösen Schätzungen zufolge 65 000 Menschen an Covid-19 gestorben, auf die Bevölkerungszahl bezogen so viele wie nirgendwo sonst auf der Welt bis auf Belgien. Längst steht fest: Durch den verspäteten Lockdown und der Vernachlässigung von Altenund Pflegeheimen starben unnötig Tausende von Menschen. „Wir trauern um jedes Opfer“, sagt Johnson und räumt ein, es gebe da Leute, die von Fehlern sprechen, weshalb eine umfassende Untersuchung wohl unausweichlich sei. Wohlgemerkt: „Man“redet von Fehlern, er nicht. Zeit seines Lebens hat Johnson stets vermieden, Fehler einzuräumen.
Die Briten halten an Johnson fest – noch:
Diese Einstellung hat Johnson bewahrt, längst ist der Demutshauch vom Ostersonntag verweht. Beim letzten parlamentarischen Schlagabtausch vor den Sommerferien wich der Premier wieder einmal allen bohrenden Fragen des neuen Labour-Oppositionsführers Keir Starmer aus, pries sich selbst für die Durchsetzung des EU-Austritts und behauptete: „Wir sind die Regierung des Volkes, wir unterstützen die Arbeiter.“Ob solche Slogans auch auf Dauer wirken? Neulich sorgte eine Umfrage für Aufregung, in der erstmals mehr Briten Starmer (37 Prozent) für einen kompetenteren Regierungschef hielten als Johnson (35). In den Befragungen zur Wahlabsicht aber liegt die Regierungspartei stets vor Labour, mal mit nur vier, meist aber mit sieben bis zehn Punkten Vorsprung.
Der Zusammenhalt des Landes ist durch den Brexit gefährdet:
Für den Sonderfall Nordirland scheinen beide Seiten das derzeitige Weiterwursteln einfach beibehalten zu wollen. Dafür ist die schottische Unabhängigkeit durch den EU-Austritt laut Umfragen näher gerückt. Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon von der Nationalpartei SNP erfreut sich bester Zustimmungswerte, ihr Wahlsieg im Frühjahr 2021 gilt als ausgemacht. Wenn im schottischen Parlament dann die Abspaltungsbefürworter über die klare Mehrheit verfügen, dürften Rufe nach einer zweiten Volksabstimmung unvermeidbar werden. In den Verhandlungen über das zukünftige Verhältnis des Königreiches zum größten Binnenmarkt der Welt muss es spätestens im Herbst zur Einigung kommen, sonst herrscht nach dem Ablauf der Übergangsfrist an Silvester vor allem in den Wirtschaftsbeziehungen Chaos („No Deal“). Die jüngste Gesprächsrunde endete am Donnerstag ergebnislos, wieder einmal. Wie viel Unordnung er der Wirtschaft, wie viel Kompromissbereitschaft den Brexit-Fanatikern zumuten kann – diese Frage dürfte für Johnson nach der Sommerpause im Vordergrund stehen.