„Den Kindern wird die Zukunft genommen“
Lindauerin arbeitet im Flüchtlingslager Moria und berichtet über untragbare Zustände
- In den Bars auf Lesbos nippen Touristen an ihren Cocktails, während wenige Kilometer entfernt Menschen sterben, weil sie keine medizinische Behandlung bekommen. Seit vier Monaten ist das Flüchtlingslager Moria abgeschnitten von der Außenwelt. Immer wieder wurde der Lockdown wegen Corona verlängert. Die Kinder, Frauen und Männer dort fürchten, vergessen zu werden. Medizinstudentin Romy Bornscheuer, Gründerin von Europeans for Peace, arbeitet derzeit in der Klinik als Freiwillige. Die Lindauerin berichtet Yvonne Roither über unzureichende medizinische Versorgung, Vergewaltigungen und Frustration in dem Flüchtlingslager.
Frau Bornscheuer, Sie haben schon mehrfach im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos als Freiwillige gearbeitet. Wie sind die Zustände dort im Vergleich zu früher?
Im Vergleich zu 2017, wo ich das letzte Mal da war, sind viermal so viele Menschen da. Mittlerweile leben hier mehr als 16 000 Menschen an einem Ort, der für 3000 ausgelegt war. Aus Lehmhütten und Zelten ist eine Stadt gewachsen. Es sieht nicht mehr aus wie in einem Flüchtlingscamp, sondern erinnert eher an einen Slum in den ärmsten Ländern Afrikas. Die Menschen haben nur wenige Stunden täglich fließendes Wasser, über dem Lager liegt ein beißender Geruch von Fäkalien und Müll. Der „Jungle“wie er unter den Flüchtlingen genannt wird, liegt an einem Hang, wo sich Hütte an Zelt reiht und die allerschlimmsten Umstände herrschen. Keiner weiß, wie viele Menschen hier wirklich leben. Wenn man dann sieht, wie die Touristen in den Bars an ihren Cocktails nippen und wenig entfernt in Moria die Menschen wegsterben, dann ist das schon surreal. Die Menschen in Moria leiden unter dem Wegschauen Europas.
Sie arbeiten als Medizinstudentin in der Klinik im Flüchtlingslager. Wie sieht es dort mit der medizinischen Versorgung aus?
Es fehlt an allem, an Geld, Geräten, Ärzten und Möglichkeiten. Das Krankenhaus auf der Insel hat drei Intensivbetten, das ist für die Einheimürbend. mischen dort schon zu wenig. Für die Flüchtlinge sind, nimmt man alle NGOs zusammen, drei bis vier Ärzte zuständig. Wir können täglich nur 160 bis 180 Menschen behandeln. Doch unsere Möglichkeiten sind beschränkt. Wir können so gut wie keine Diagnostik machen, sondern nur Symptome mit Medikamenten lindern, was dramatische Folgen hat: Es sterben täglich Menschen an Krankheiten, die in Deutschland einfach zu behandeln gewesen wären wie zum Beispiel HIV. Invasive Untersuchungen wie Ultraschall gibt es ebenso wenig wie palliative Medizin oder psychologische Behandlung. Das ist sehr frustrierend und zer
Neulich hatten wir drei Tage kein Fieberthermometer. Dass das ernsthafte Probleme in Europa sind, kann doch nicht sein.
Ist das Coronavirus schon im Flüchtlingslager angekommen?
Wir sind in Alarmbereitschaft, nachdem die ersten Corona-Fälle bei Einheimischen gemeldet wurden. Jetzt tragen wir alle Plexiglasscheiben und Handschuhe, um uns zu schützen und arbeiten nach einem genau vorgegebenen Einsatzplan bei Verdachtsfällen. Wir hatten schon Fälle, die recht eindeutig waren, warten aber noch auf die Testergebnisse.
Was wäre dringend nötig, um die medizinische Versorgung zu verbessern?
Bisher ist die medizinische Betreuung in der Nacht nicht abgedeckt. Aber gerade da passiert viel, wir hatten in den vergangenen Nächten immer wieder Fälle, wo Menschen nach Polizeieinsätzen und Schlägereien verletzt waren oder gar verblutet sind. Deshalb wäre mein großes Ziel, eine Notfallnachtschicht einzurichten. Aber es fehlt uns völlig an Personal und an den nötigen Medikamenten. In der Notfallmedizin bräuchten wir vor allem intravenöse Medikamente, um helfen zu können. Ich werde jetzt mit dem Spendengeld aus den Weinverkäufen der Lindauer Winzer eine erste Medikamentenladung
für die Nacht kaufen. Um personelle Verstärkung zu bekommen, rufe ich jeden an, der infrage kommen könnte. Ärzte oder Pflegepersonal, die uns unterstützen wollen, sollten mindestens drei Wochen Zeit mitbringen.
Sie sprechen von Schlägereien: Ist die Aggression im Lager so groß?
Wenn man Menschen wie Tiere hält, darf man sich nicht wundern, wenn sie sich so verhalten. Bei der Essensausgabe wird das Brot nur noch in die Luft geworfen, der Stärkere bekommt es dann. Auch vor unserer Klinik prügeln sich die Menschen, um medizinische Behandlung zu bekommen. Die Lage spitzt sich noch durch den Lockdown zu. Normalerweise dürfen die Menschen das Camp verlassen, um Medikamente zu kaufen oder Essen zu besorgen. Doch nachdem die Regierung die Ausgangssperre zum fünften Mal verlängert hat, sind die Menschen frustriert und erschöpft.
Was belastet Sie am meisten?
Wir haben immer wieder Vergewaltigungen. Das ist sehr belastend, auch weil wir keine Psychologen haben, die die seelische Not der Betroffenen lindern könnten. Auch für Patienten mit Depressionen können wir nur wenig tun, das ist frustrierend.
Der Lindauer Stadtrat hat für einen Appell an die Bundesregierung gestimmt, die Lager in Griechenland aufzulösen und sich dazu bereit erklärt, Flüchtlinge aufzunehmen. Was halten Sie von diesem Beschluss?
Den Kindern in Moria wird die Zukunft genommen. Es mangelt an allem, angefangen mit Bildung über Spielplätze, ausreichende medizinische Versorgung, Nahrung bis hin zu Toiletten und Duschen. Aber was am meisten fehlt, ist eine menschliche Behandlung, ein würdevoller Umgang und Respekt. Jedes Kind verdient eine Kindheit, und wir Lindauerinnen und Lindauer haben die Möglichkeit, einigen Kindern genau dies zu geben. Ich hoffe aus tiefstem Herzen, dass einige der Kinder aus Moria bald ein friedliches Leben am Bodensee führen dürfen.