Bidens wackeliger Vorsprung
Warum trotz schlechter Umfragewerte für US-Präsident Trump knapp 100 Tage vor der Wahl nichts entschieden ist
- Nichts sollte der rauschenden Party im Wege stehen. Am 27. August wollte sich Donald Trump in Jacksonville feiern lassen, in einer Stadt in Florida, in der es bis zur Corona-Epidemie wirtschaftlich steil aufwärtsgegangen war. Kein Platz sollte unbesetzt bleiben in der Vy Star Veterans Memorial Arena.
Geplant war ein Spektakel, wie es in normalen Zeiten dazugehört, wenn eine der beiden großen amerikanischen Parteien ihren Kandidaten für das Weiße Haus kürt, in diesem Fall den Präsidenten, der sich zur Wiederwahl stellt. Ein Auftritt vor halbleeren Rängen – wie im Juni in Tulsa – sollte sich in Jacksonville auf keinen Fall wiederholen.
Vergangene Woche folgte der Rückzieher, mit einer Portion Demut, wie man sie von Trump sonst nicht kennt. „Ich habe mein Team angeschaut, und ich habe gesagt, für so ein Ereignis ist jetzt nicht die richtige Zeit“, verkündete der Präsident. Es sei nicht richtig, einen großen Parteitag abzuhalten, wenn es dieses Aufflackern in Florida gebe. Als Aufflackern beschreibt Trump die weit über 10 000 Coronavirus-Neuinfektionen, die mittlerweile täglich aus dem „Sunshine State“gemeldet werden. Landesweit ist die Zahl bestätigter Fälle auf über 60 000 pro Tag gestiegen, während mehr als 1000 Amerikaner täglich an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung sterben.
Den Präsidenten zwingt das zur Kehrtwende. Nach drei Monaten Pause stellt er sich im Briefing Room des Weißen Hauses wieder vor die Reporter, um über die Corona-Lage zu informieren. Die Einschätzung klingt für ihn ungewohnt nüchtern: „Wahrscheinlich wird es leider schlimmer, bevor es besser wird.“Auf einmal empfiehlt er, einen Mund-NasenSchutz zu tragen, wenn Abstandsregeln nicht eingehalten werden könnten. „Ob Sie die Masken mögen oder nicht, sie haben eine Wirkung“, mahnt er, nachdem er lange das Gegenteil behauptet hatte. Trump hatte sich geweigert, sich in der Öffentlichkeit mit Maske zu zeigen, zumal er seinen Anhängern signalisierte, dass ein Stück Stoff vor Mund und Nase etwas für Weicheier sei.
Noch zuvor orakelte er, im Herbst würden die Leute wieder wie früher zur Arbeit gehen, die Schulen würden öffnen, die Wirtschaft komme in Fahrt, ohnehin werde Amerika bald ein glänzendes Comeback erleben. Im Moment sieht es nicht danach aus. Trump, einst der Star einer RealityTV-Show,
sei von der Realität überfallen worden, spottet Rahm Emanuel, der ehemalige Stabschef des Ex-Präsidenten Barack Obama.
Es sagt viel über einen Mann, der angesichts miserabler Umfragewerte nervös zu werden scheint, dass er bei Pressekonferenzen eher leise Töne anschlägt. Trump liest vom Teleprompter ab, statt improvisierend zu Tiraden anzusetzen, was er sonst häufig tut. Er vermeidet Streit mit Reportern, die er früher als totale Versager beschimpfte. Vor allem aber will er einen Eindruck verwischen, der sich zuletzt mit Macht aufgedrängt hatte. Während die Zahlen in Staaten wie Kalifornien, Texas, Arizona und Florida auf Höchststände kletterten, wirkte er, als ginge ihn das alles nichts mehr an. Als habe er das Kapitel Corona abgehakt.
Vor einer Woche hatte er ein mediales Desaster erlebt. Da gab er dem ebenso unaufgeregt wie beharrlich nachfragenden Fernsehmann Chris Wallace, der beim ansonsten Trumpfreundlichen Sender Fox News für kritischen Journalismus steht, ein Interview, das er im Nachhinein bereut haben dürfte. Man saß im Garten des
Weißen Hauses, bei 37 Grad im Schatten traten ihm Schweißperlen auf die Stirn. Irgendwann prahlte der Präsident damit, er habe einen Test seiner kognitiven Fähigkeiten ausgezeichnet bestanden, worauf Wallace erwiderte, den Test kenne er, er sei ziemlich einfach. Zum Beispiel müsse man einen Elefanten als Elefanten identifizieren und sieben von 100 subtrahieren. Und als Trump behauptete, die USA verzeichneten nur deshalb weltweit die meisten Ansteckungen, weil sie mit Abstand am intensivsten testeten, konterte der Reporter mit Fakten. Es lag wohl auch an dem Fiasko bei Fox News, dass Trump die Lage nicht mehr schönfärbt.
Wie rasant es in den Popularitätskurven abwärtsgeht für ihn, zeigen Umfragen. Washington Post und ABC News sehen seinen demokratischen Kontrahenten Joe Biden bei der Wahl mit 15 Prozentpunkten Vorsprung durchs Ziel gehen. Im Mai hatte der Amtsinhaber um zehn, im März nur um zwei Punkte hinter dem Herausforderer Biden gelegen. In den Swing States, in denen es traditionell auf Messers Schneide steht, fällt der Rückstand zwar geringer aus, aber auch dort hätte Trump nach heutigem Stand das Nachsehen. In den ehemals demokratischen Hochburgen Michigan, Pennsylvania und Wisconsin, in denen er den Wettlauf mit Hillary Clinton überraschend für sich entschied, würde er Umfragen zufolge klar verlieren – vorausgesetzt, dass sich die Demoskopen nicht irren. Auch in Florida, North Carolina und selbst in Arizona, einem lange von den Konservativen beherrschten Staat, müsste er seinem Rivalen den Vortritt lassen, während es in Ohio und Georgia auf ein Kopfan-Kopf-Rennen hinausliefe.
Es ändert nichts an der Tatsache, dass es sich bei alledem nur um einen – letztlich irrelevanten – Zwischenstand handelt. Meinungsumfragen im Juli können logischerweise nicht mehr als Momentaufnahmen sein, Schnappschüsse, die am Wahltag keinen mehr interessieren. Auch Clinton lag im Sommer vor vier Jahren, dem Politbarometer nach zu urteilen, deutlich vor dem Immobilientycoon, nur um im Herbst zu verlieren. Duellieren sich Trump und Biden bei den Fernsehdebatten, könnte sich der Herausforderer, der bekannt ist für peinliche Versprecher, erneut blamable Ausrutscher leisten. Manche Wähler könnte es bestätigen in ihrer Skepsis gegenüber einem 77-jährigen Kandidaten, der mitunter den Eindruck erweckt, als sei er tatsächlich zu alt für das Oval Office.
Zudem neigen Amerikaner eher nicht dazu, einen Präsidenten nach nur einer Amtszeit durch einen anderen abzulösen. Der letzte, der mit seiner Ausnahme die Regel bestätigte, war 1992 George Bush gewesen. Kein Wunder, dass gerade unter den Demokraten viele nicht an die Prognosen des Hochsommers glauben, auch wegen der Erfahrung vor vier Jahren. „Einige Leute sagen, schaut euch doch nur die Zahlen an. Nun, ich vertraue den Zahlen nicht“, sagt Debbie Dingell, eine Kongressabgeordnete aus Michigan.
Dennoch steht eines außer Zweifel: Eine klare Mehrheit der Wähler, Anhänger wie Gegner Trumps, sieht in dem Votum am 3. November ein Referendum über das Krisenmanagement des Präsidenten. Solange die Pandemie nicht eingedämmt wird, scheint er gegen heftigen Gegenwind anzukämpfen zu haben.