Der Muster-Sozialdemokrat
Der frühere SPD-Chef Hans-Jochen Vogel ist im Alter von 94 Jahren verstorben
(dpa) - Noch im hohen Alter trieben der drohende Zerfall Europas und die Lage der SPD HansJochen Vogel um. Obwohl es ihm seine Parkinson-Erkrankung kaum noch erlaubte, seine Gedanken lesbar zu Papier zu bringen, schrieb der ehemalige SPD-Chef im Sommer 2019 noch ein Buch über den nicht nur in seiner Wahlheimat München außer Kontrolle geratenen Miet- und Immobilienmarkt. Mit seinem letzten Buch „Mehr Gerechtigkeit“verfolgte Vogel aber noch ein anderes Ziel: Ein letztes Mal wollte er Einfluss auf die Programmatik seiner Partei nehmen und sich zugleich auch einen eigenen politischen Fehler von der Seele schreiben. Nun ist Vogel im Alter von 94 Jahren in München gestorben.
In der SPD galt Vogel als MusterPolitiker und als gutes Gewissen mit festen Grundsätzen. Doch mit Blick auf die explodierenden Preise für Baugrund gab er sich im November 2019 selbstkritisch: „Auch ich hätte in meinen verschiedenen Funktionen, die ich bis 1991 innehatte, das Thema eigentlich im Auge behalten und wieder aufgreifen müssen.“
Abgesehen vom großen Thema „soziale Gerechtigkeit“trieb Vogel bis ins hohe Alter der drohende Zerfall Europas um. Schon als der Austritt Großbritanniens aus der EU sich abzeichnete, sagte Vogel, dass 70 Jahre Frieden in Europa nur durch die Überwindung des Nationalismus möglich geworden seien. „Wir haben in einem gemeinsamen europäischen Haus zueinander gefunden.“
Seine Parkinson-Erkrankung hatte Vogel erst vor wenigen Jahren öffentlich gemacht, bis zuletzt lebte er mit seiner Frau Lieselotte in einer Seniorenresidenz in München. Hier ließ er sich von Freunden, Journalisten und Parteikollegen besuchen. Mit ihnen diskutierte er gerne über aktuelle Fragen wie die Flüchtlingskrise oder die Gefahren, die von Pegida & Co. ausgehen. Wer Vogel erreichen wollte, der brauchte Geduld – Handy und Computer verschmähte er. Das passte zu einem, der in seiner aktiven Zeit für das penible Aufbewahren seiner Unterlagen in Klarsichthüllen bekannt war.
Vogel fühlte und litt auch hochbetagt noch immer mit – mit der Politik, mit seiner Partei, auch mit seinen Nachfolgern. Und dann ermahnte er die SPD, selbstbewusst zu sein: „Was die Sozialdemokratie für Freiheit und Demokratie und Gerechtigkeit in 150 Jahren geleistet hat! Wir sollten nie in Vergessenheit geraten lassen, dass die Sozialdemokraten 1933 die Ehre der Demokratie hochgehalten haben. Wir sind nicht eine Tageserfindung, sondern wir sind ein gestaltendes Element der deutschen Geschichte.“
Vogel selbst hat diese deutsche Geschichte mitgestaltet: Mit 34 Jahren wurde der in Göttingen geborene Professoren-Sohn Oberbürgermeister in München – und damit jüngster
OB einer deutschen Großstadt. Die 4444 Amtstage an der Isar prägten ihn stärker als spätere Stationen. Er half, die Olympischen Spiele 1972 nach München zu holen. Wegen heftiger Auseinandersetzungen mit der SPDLinken warf der damalige Vertreter der Parteirechten das Handtuch und ging in die Bundespolitik.
Sein jüngerer Bruder Bernhard ging auch in die Politik – allerdings zur CDU. Er wurde Ministerpräsident gleich zweier Bundesländer, Rheinland-Pfalz und später Thüringen.
Die Karriere von Hans-Jochen Vogel war gezeichnet von Glanzpunkten wie Niederlagen: Bundesbau- und Bundesjustizminister, Regierender Bürgermeister in Berlin, SPD-Parteiund
Fraktionschef – und Kanzlerkandidat. Doch er unterlag Helmut Kohl.
Dass er ein tüchtiger Bundeskanzler geworden wäre, davon waren nicht nur Weggefährten wie Helmut Schmidt überzeugt. Grund für Verbitterung, dass ihm dieser Gipfel versagt blieb, sah Vogel aber nicht: „Die Belohnung für ein engagiertes und nicht eben unfleißiges Leben sehe ich darin, dass ich mit mir einigermaßen im Reinen bin. Das ist mir wichtiger, als wenn ich damals gegen Helmut Kohl Kanzler geworden wäre.“
Vor der härtesten Bewährungsprobe stand Vogel während der Zeit des RAF-Terrorismus. „Die schwierigste Entscheidung, an der ich beteiligt war, war die Entscheidung nach der
Entführung von Hanns Martin Schleyer und nach der Entführung der ,Landshut’“, sagte Vogel, der damals Justizminister war. Es war die Entscheidung, der Forderung der RAF-Terroristen nicht nachzugeben. Schleyer starb. „Das ist etwas, was einen auch heute noch beschäftigt“, sagte Vogel rückblickend.
Diese Monate schweißten Vogel und Schmidt zusammen. „Für mich war er eine große Stütze in den Jahren des RAF-Terrorismus“, schrieb Schmidt. Aus ihnen wurden Freunde.
Tausenden von Mitbürgern aus Not und Bedrängnis geholfen zu haben, das war für Vogel der persönlich wichtigste Erfolg. Diese praktische Lebenshilfe geschah meist geräuschlos. Wer sich an „Doktor Vogel“, wie ihn Parteifreunde in einer Mischung aus aufrichtigem Respekt und ironischer Distanz nannten, hilfesuchend wandte, blieb fast nie ohne Antwort.
Führen heißt dienen, war eine von Vogels Maximen. Politiker in der Demokratie müssten Grundüberzeugungen folgen und Anstand und Moral auch vorleben, lautete eine andere: „Man predigt mit seiner eigenen Lebensführung mehr als mit Worten.“Nie wurde er mit Skandalen und Affären in Verbindung gebracht.
Vogel lehnte auch die kleinste Vorteilsnahme ab. Da er auf Auslandsreisen grundsätzlich nicht in der Business-Klasse flog, mussten etwa ihn begleitende Wirtschaftsbosse mit in die Holzklasse. Als Münchner OB fuhr er mit der Straßenbahn ins Rathaus.
Seinen Rückzug aus der Politik plante er sorgfältig. In seiner letzten Rede im Bundestag nach 22 Jahren Ende Juni 1994 zitierte der gläubige Katholik Papst Johannes XXIII: „Giovanni, nimm dich nicht so wichtig.“Dies sei auch ein gutes Leitwort für ihn, um Abschied zu nehmen.
Wenn es in der SPD brenzlig wurde, brauchte man Vogel nicht lange um Hilfe zu bitten. Der Rat des „Elder Statesman“war gefragt. Mit ganzer Autorität warf er sich auf Parteitagen in die Bresche. Als Gerhard Schröder 2003 mit seiner Reform-Agenda mit dem Rücken zur Wand stand, sicherte Vogel in einer furiosen Rede dem SPD-Kanzler die Mehrheit. „Seid nicht so wehleidig“, rief er den konsternierten Delegierten zu.