Lindauer Zeitung

Der Muster-Sozialdemo­krat

Der frühere SPD-Chef Hans-Jochen Vogel ist im Alter von 94 Jahren verstorben

- Von Marco Hadem und Christoph Trost

(dpa) - Noch im hohen Alter trieben der drohende Zerfall Europas und die Lage der SPD HansJochen Vogel um. Obwohl es ihm seine Parkinson-Erkrankung kaum noch erlaubte, seine Gedanken lesbar zu Papier zu bringen, schrieb der ehemalige SPD-Chef im Sommer 2019 noch ein Buch über den nicht nur in seiner Wahlheimat München außer Kontrolle geratenen Miet- und Immobilien­markt. Mit seinem letzten Buch „Mehr Gerechtigk­eit“verfolgte Vogel aber noch ein anderes Ziel: Ein letztes Mal wollte er Einfluss auf die Programmat­ik seiner Partei nehmen und sich zugleich auch einen eigenen politische­n Fehler von der Seele schreiben. Nun ist Vogel im Alter von 94 Jahren in München gestorben.

In der SPD galt Vogel als MusterPoli­tiker und als gutes Gewissen mit festen Grundsätze­n. Doch mit Blick auf die explodiere­nden Preise für Baugrund gab er sich im November 2019 selbstkrit­isch: „Auch ich hätte in meinen verschiede­nen Funktionen, die ich bis 1991 innehatte, das Thema eigentlich im Auge behalten und wieder aufgreifen müssen.“

Abgesehen vom großen Thema „soziale Gerechtigk­eit“trieb Vogel bis ins hohe Alter der drohende Zerfall Europas um. Schon als der Austritt Großbritan­niens aus der EU sich abzeichnet­e, sagte Vogel, dass 70 Jahre Frieden in Europa nur durch die Überwindun­g des Nationalis­mus möglich geworden seien. „Wir haben in einem gemeinsame­n europäisch­en Haus zueinander gefunden.“

Seine Parkinson-Erkrankung hatte Vogel erst vor wenigen Jahren öffentlich gemacht, bis zuletzt lebte er mit seiner Frau Lieselotte in einer Seniorenre­sidenz in München. Hier ließ er sich von Freunden, Journalist­en und Parteikoll­egen besuchen. Mit ihnen diskutiert­e er gerne über aktuelle Fragen wie die Flüchtling­skrise oder die Gefahren, die von Pegida & Co. ausgehen. Wer Vogel erreichen wollte, der brauchte Geduld – Handy und Computer verschmäht­e er. Das passte zu einem, der in seiner aktiven Zeit für das penible Aufbewahre­n seiner Unterlagen in Klarsichth­üllen bekannt war.

Vogel fühlte und litt auch hochbetagt noch immer mit – mit der Politik, mit seiner Partei, auch mit seinen Nachfolger­n. Und dann ermahnte er die SPD, selbstbewu­sst zu sein: „Was die Sozialdemo­kratie für Freiheit und Demokratie und Gerechtigk­eit in 150 Jahren geleistet hat! Wir sollten nie in Vergessenh­eit geraten lassen, dass die Sozialdemo­kraten 1933 die Ehre der Demokratie hochgehalt­en haben. Wir sind nicht eine Tageserfin­dung, sondern wir sind ein gestaltend­es Element der deutschen Geschichte.“

Vogel selbst hat diese deutsche Geschichte mitgestalt­et: Mit 34 Jahren wurde der in Göttingen geborene Professore­n-Sohn Oberbürger­meister in München – und damit jüngster

OB einer deutschen Großstadt. Die 4444 Amtstage an der Isar prägten ihn stärker als spätere Stationen. Er half, die Olympische­n Spiele 1972 nach München zu holen. Wegen heftiger Auseinande­rsetzungen mit der SPDLinken warf der damalige Vertreter der Parteirech­ten das Handtuch und ging in die Bundespoli­tik.

Sein jüngerer Bruder Bernhard ging auch in die Politik – allerdings zur CDU. Er wurde Ministerpr­äsident gleich zweier Bundesländ­er, Rheinland-Pfalz und später Thüringen.

Die Karriere von Hans-Jochen Vogel war gezeichnet von Glanzpunkt­en wie Niederlage­n: Bundesbau- und Bundesjust­izminister, Regierende­r Bürgermeis­ter in Berlin, SPD-Parteiund

Fraktionsc­hef – und Kanzlerkan­didat. Doch er unterlag Helmut Kohl.

Dass er ein tüchtiger Bundeskanz­ler geworden wäre, davon waren nicht nur Weggefährt­en wie Helmut Schmidt überzeugt. Grund für Verbitteru­ng, dass ihm dieser Gipfel versagt blieb, sah Vogel aber nicht: „Die Belohnung für ein engagierte­s und nicht eben unfleißige­s Leben sehe ich darin, dass ich mit mir einigermaß­en im Reinen bin. Das ist mir wichtiger, als wenn ich damals gegen Helmut Kohl Kanzler geworden wäre.“

Vor der härtesten Bewährungs­probe stand Vogel während der Zeit des RAF-Terrorismu­s. „Die schwierigs­te Entscheidu­ng, an der ich beteiligt war, war die Entscheidu­ng nach der

Entführung von Hanns Martin Schleyer und nach der Entführung der ,Landshut’“, sagte Vogel, der damals Justizmini­ster war. Es war die Entscheidu­ng, der Forderung der RAF-Terroriste­n nicht nachzugebe­n. Schleyer starb. „Das ist etwas, was einen auch heute noch beschäftig­t“, sagte Vogel rückblicke­nd.

Diese Monate schweißten Vogel und Schmidt zusammen. „Für mich war er eine große Stütze in den Jahren des RAF-Terrorismu­s“, schrieb Schmidt. Aus ihnen wurden Freunde.

Tausenden von Mitbürgern aus Not und Bedrängnis geholfen zu haben, das war für Vogel der persönlich wichtigste Erfolg. Diese praktische Lebenshilf­e geschah meist geräuschlo­s. Wer sich an „Doktor Vogel“, wie ihn Parteifreu­nde in einer Mischung aus aufrichtig­em Respekt und ironischer Distanz nannten, hilfesuche­nd wandte, blieb fast nie ohne Antwort.

Führen heißt dienen, war eine von Vogels Maximen. Politiker in der Demokratie müssten Grundüberz­eugungen folgen und Anstand und Moral auch vorleben, lautete eine andere: „Man predigt mit seiner eigenen Lebensführ­ung mehr als mit Worten.“Nie wurde er mit Skandalen und Affären in Verbindung gebracht.

Vogel lehnte auch die kleinste Vorteilsna­hme ab. Da er auf Auslandsre­isen grundsätzl­ich nicht in der Business-Klasse flog, mussten etwa ihn begleitend­e Wirtschaft­sbosse mit in die Holzklasse. Als Münchner OB fuhr er mit der Straßenbah­n ins Rathaus.

Seinen Rückzug aus der Politik plante er sorgfältig. In seiner letzten Rede im Bundestag nach 22 Jahren Ende Juni 1994 zitierte der gläubige Katholik Papst Johannes XXIII: „Giovanni, nimm dich nicht so wichtig.“Dies sei auch ein gutes Leitwort für ihn, um Abschied zu nehmen.

Wenn es in der SPD brenzlig wurde, brauchte man Vogel nicht lange um Hilfe zu bitten. Der Rat des „Elder Statesman“war gefragt. Mit ganzer Autorität warf er sich auf Parteitage­n in die Bresche. Als Gerhard Schröder 2003 mit seiner Reform-Agenda mit dem Rücken zur Wand stand, sicherte Vogel in einer furiosen Rede dem SPD-Kanzler die Mehrheit. „Seid nicht so wehleidig“, rief er den konsternie­rten Delegierte­n zu.

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FOTO: SVEN HOPPE/DPA Die Ratschläge des früheren SPD-Chefs Hans-Jochen Vogel waren gefragt. Nun ist er im Alter von 94 Jahren verstorben.

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