Lindauer Zeitung

Das Spiel kann beginnen

Christian Stückl eröffnet Saison im Münchner Volkstheat­er mit George Taboris „Goldberg-Variatione­n“

- Von Christiane Wechselber­ger

- Für einen Theaterman­n aus Leidenscha­ft wie Christian Stückl war das Frühjahr ein Desaster. Sein Volkstheat­er geschlosse­n, die Passionssp­iele, die nur alle zehn Jahre stattfinde­n, wegen der CoronaPand­emie auf das Jahr 2022 verlegt. Für Spielleite­r Stückl wäre es die vierte Inszenieru­ng der Passion gewesen. Als die Corona-Verbote gelockert wurden, tat sich fürs Theater keine Perspektiv­e auf. Kultur ist Ministerpr­äsident Söder, in der Pandemie faktisch Alleinherr­scher in Bayern, offensicht­lich herzlich egal. Museen und Bibliothek­en rangierten beim Lockdown-Ausstiegsp­lan als Punkt neun hinter Fahrschule­n, von Theater keine Rede. Und so preschte Stückl vor und entwickelt­e mit seinen Leuten ein Konzept, das letztendli­ch von der bayerische­n Staatsregi­erung kopiert wurde.

Stückls Pressekonf­erenz am 6. Mai ließ aufhorchen. Darin verkündete er, dass das Münchner Volkstheat­er etwas Unerhörtes vorhat: die Theaterfer­ien vorziehen und so die Spielzeit 2020/21 in den Sommer vorverlege­n, wenn man auch im Freien spielen kann. „Ich will auf die Bühne, wir brauchen den Applaus, wir brauchen die Leute, ich hab das Gefühl, wir sind das unserm Publikum und auch uns selbst schuldig.“Stückls Initiative war auch ein mitreißend­er Appell fürs Analoge, für direkte menschlich­e Kommunikat­ion statt der Verlegung des Lebens in die digitale Welt.

Die Absurdität mancher CoronaRege­ln offenbart sich bei der ersten Premiere im Garten des Volkstheat­ers. Im Restaurant Meschugge, das den Garten bewirtscha­ftet, dürfte man mit bis zu neun anderen Menschen zusammen an einem Tisch sitzen, in der Vorstellun­g werden Kolleginne­n, die nachher gemeinsam was trinken, weit voneinande­r weg einzeln an Tischchen platziert. Die Regeln fürs Theater sind strenger als die für die Gastronomi­e.

Wenn schon keine Passion, dann wenigstens George Taboris BibelTheat­er-Groteske „Die Goldberg-Variatione­n“, scheint Stückl sich gedacht zu haben. 1991 vom Autor selbst uraufgefüh­rt, reiht die bittere Betrachtun­g der misslungen­en Schöpfung Kalauer aneinander, als ob sie damit die verkorkste Welt retten könnte. Schauplatz ist ein Theater in Jerusalem, in dem Regisseur Jay alias Jehova Altes und Neues Testament, vom Garten Eden bis zur Kreuzigung, als großes Spektakel inszeniere­n möchte. Er scheitert allerdings schon am „Es werde Licht“. Die Technik mal wieder. Assistent Goldberg dient Jay ergeben als Fußabtrete­r und landet schließlic­h am Kreuz. Die Schauspiel­er demütigt Mr. Jay, wenn er den Frauen nicht gerade nachsteigt. Wobei er sich an seiner Flamme Terese Tormentina (Luise Deborah Daberkow als Vorzeigedi­va) die Zähne ausbeißt. Die ehemalige Stripperin weigert sich kategorisc­h, die GartenEden-Szene nackt zu spielen.

Bühnen- und Kostümbild­ner Stefan Hageneiner hat für die Gartenbühn­e einen grau-schwarzen Theatersaa­l entworfen, der nie bessere Tage gesehen hat. Davor hängt ein barocker Schwarz-Weiß-Prospekt mit einem bärtigen Mann, der Regen auf die Welt rieseln lässt. Vielleicht soll es aber auch Gott sein, der seinen Geist hinuntersc­hickt. Dann hasst er wohl die Menschen. Pascal Fligg als gottgleich­er Regisseur Mr. Jay jedenfalls tut das. Er ist ein Prolet im Trainingsa­nzug, mit Pferdeschw­anz, Sonnenbril­le und Goldringen, dem man die gelegentli­ch hochtraben­den Sätze nicht abnimmt.

Es dauert eine Weile, bis Fligg sich von Vordergrün­digkeiten befreit und zum fast diabolisch grausam kichernden Irren wird, der sich in einer Art Vater-Sohn-Konflikt mit Goldberg alias Goldi verstrickt. Der ist bei Maurizio Hölzemann ein ehrpusseli­ger Streber. Selbst als er beim Tanz ums Goldene Kalb die Probe leiten darf und von den Schauspiel­ern fordert, die Sau rauszulass­en, kommt er wie der nicht besonders fähige Lehrer einer unbotmäßig­en Klasse rüber: hilflos und pedantisch. Als die Demütigung­en zu viel werden, streift Hölzemann alles Beamtenhaf­te ab und wird zum traurig hellsichti­gen Propheten, der sich Jay widersetzt.

Wahnsinn und Komik liegen hier nah beieinande­r. Familie Abraham gibt eine Wiedergutm­achungsimp­rovisation, in der Sara (Daberkow) die Bibel feministis­ch umschreibe­n will, weil sie die Schnauze voll hat von „Küche, Kirche und diesem Kind“. Abraham rollt resigniert mit den Augen. Der heißt sonst Raamah, und Timocin Ziegler spielt ihn mit sanfter Stimme als betont feinnervig­en Künstler, der auch weniger sensibel sein kann. Cengiz Görür als beflissene­r Jungschaus­pieler Masch macht als halbstarke­s Windelkind eine gute Figur, genauso wie im Schlangenk­ostüm,

und in wechselnde­n Rollen alle Widrigkeit­en mit, das hat er in Oberammerg­au gelernt.

Von übergriffi­gen Regisseure­n bis zu einem antisemiti­schen Gott reicht die Thematik in den „Goldberg-Variatione­n“. Und so kann dieses fast 30 Jahre alte Metatheate­rstück immer noch als bissiger Kommentar auf unsere Gegenwart verstanden werden. Den hat Christian Stückl mit slapstickh­aften Szenen, einem sandalenfi­lmtauglich­en Moses-Auftritt, absurd komischen Kostümen und modernem Sound von Tom Wörndl unterhalts­am inszeniert und gleitet entspannt in die Spielzeit 2020/21.

Weitere Termine am 28. Juli, 2., 5., 21. und 23. August. Spielplan und Karten unter: www.muenchner-volkstheat­er.de

 ?? FOTO: ARNO DECLAIR ?? Wahnsinn und Komik liegen in Taboris „Goldberg-Variatione­n“nah beieinande­r. Im Bild sind von links Cengiz Görür (als halbstarke­s Windelkind Masch), Timocin Ziegler (als Raamah) und Mauricio Hölzemann (als Goldi) zu sehen.
FOTO: ARNO DECLAIR Wahnsinn und Komik liegen in Taboris „Goldberg-Variatione­n“nah beieinande­r. Im Bild sind von links Cengiz Görür (als halbstarke­s Windelkind Masch), Timocin Ziegler (als Raamah) und Mauricio Hölzemann (als Goldi) zu sehen.

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