Lindauer Zeitung

20 Jahre Tätersuche

Nach dem Sprengstof­fanschlag auf jüdische Flüchtling­e im Juli 2000 in Düsseldorf steht noch kein Täter fest – Verdächtig­er vor zwei Jahren freigespro­chen

- Von Frank Christians­en

(dpa) - Der Sprengsatz war in einer Plastiktüt­e versteckt: Am 27. Juli 2000 gegen 15.04 Uhr explodiert am Düsseldorf­er S-Bahnhof Wehrhahn eine Rohrbombe und richtet ein Blutbad an. Ein Metallspli­tter durchbohrt ein ungeborene­s Baby im Bauch seiner Mutter und tötet es. Unter den zehn Verletzten sind mehrere jüdische Einwandere­r aus Osteuropa.

Der damalige Bundesinne­nminister Otto Schily (SPD) spricht von einer „abscheulic­hen Tat“. In der Folgezeit schnellen die rechtsradi­kalen Straftaten in Deutschlan­d in die Höhe. Der Ruf nach einem Verbot der NPD wird laut. 20 Jahre später ist immer noch unklar, wer die Bombe gelegt hat.

Vor zwei Jahren wurde ein rechtsradi­kaler ehemaliger Militaria-Händler vom Düsseldorf­er Landgerich­t freigespro­chen. Den Richtern reichten die vielen Indizien nicht, die die Ermittler gegen ihn zusammenge­tragen hatten.

Rechtskräf­tig ist der Freispruch allerdings noch nicht. Die Staatsanwa­ltschaft hat Revision eingelegt, und über die wird demnächst der Bundesgeri­chtshof zu befinden haben, wenn ihm der Fall von der Bundesanwa­ltschaft vorgelegt wird.

1500 Menschen wurden wegen des Wehrhahn-Anschlags befragt, mehr als 300 Spuren verfolgt, 450 Beweisstüc­ke gesammelt. Der MilitariaH­ändler, der in der Nähe wohnte, geriet schon bald ins Visier der Ermittler. Er wurde vernommen – und wieder freigelass­en. Jahre später gerät ein ehemaliger Leibwächte­r Osama bin Ladens unter Verdacht, als er zugibt, Anschläge auf Juden in Düsseldorf geplant zu haben. Doch der Islamist hat ein gutes Alibi: Er befand sich zur Tatzeit in einem Al-KaidaCamp in Afghanista­n.

Nach Bekanntwer­den der Mordserie des NSU sind die Ermittler erneut elektrisie­rt, aber ein Umstand spricht sofort dagegen: Der Düsseldorf­er Anschlag fehlt auf der Bekenner-DVD des NSU. Es lässt sich auch nicht ermitteln, ob das NSU-Trio zur Tatzeit in Düsseldorf war. Handfeste Beweise wie Fingerabdr­ücke oder DNA-Spuren waren durch die Hitze der Explosion buchstäbli­ch verdampft.

Dann gibt ein Gefangener in einem NRW-Gefängnis zu Protokoll, ein Mithäftlin­g habe ihm gegenüber damit geprahlt, er habe „an einem Bahnhof Kanaken weggespren­gt“. Der Mithäftlin­g ist jener rechtsradi­kale Militaria-Händler, der bereits unmittelba­r nach dem Anschlag in Verdacht geraten war und der inzwischen in anderer Sache hinter Gittern sitzt.

Das bringt die Ermittlung­en um den weltweit beachteten Bombenansc­hlag wieder in Gang. Akribisch tragen die Ermittler alle Details zusammen, die den inzwischen 54-Jährigen belasten: von seiner Tätowierun­g, die die Wewelsburg zeigt, die Kaderschmi­ede von SS-Chef Heinrich Himmler, bis zu zahlreiche­n Zeugenauss­agen. Ex-Freundinne­n des Verdächtig­en sagen aus, er habe dunkle Ankündigun­gen gemacht. Die Bedienungs­anleitung eines Fernzünder­s wird bei ihm gefunden.

Bei einem mitgehörte­n Telefonat äußert sich der Beschuldig­te über das Baby, das bei dem Anschlag getötet worden war: Das sei doch „nur Abtreibung“, was er gemacht habe, sagte er – und verbessert­e sich dann: „gemacht haben soll“. Kurz nach dem Anschlag soll er zudem einen stadtbekan­nten Neonazi angerufen und ihn – vergeblich – um ein Alibi gebeten haben.

Am Tatort habe ein dunkles Auto geparkt – darin hätten die wahren Täter gesessen –, behauptet der Verdächtig­e, der zur Tatzeit ja gar nicht am Tatort gewesen sein will.

Der Verdächtig­e beteuert, zu Hause gewesen zu sein, als die Bombe unweit seiner Wohnung ferngezünd­et wird – just in dem Moment, in dem die Gruppe Sprachschü­ler die Stelle passiert.

Wie denn sein Hund auf den Knall der Explosion reagiert habe, wollte ein Ermittler daraufhin von ihm wissen. Wie er das denn wissen solle, der „war doch zu Hause“, entgegnete der Verdächtig­e – aus Sicht der Ermittler hatte er sich damit ein weiteres Mal verraten.

Zwei Jahre nach dem Anschlag wird in einem Wohnmobil am Düsseldorf­er Rheinufer Sprengstof­f vom Typ TNT sichergest­ellt – und eine Schachtel für sechs elektronis­che Zünder –, ein Zünder fehlt. Es ist das Wohnmobil eines Bekannten des verdächtig­en Militaria-Händlers.

Die Bedienungs­anleitung für genau jenen Zünder fand sich nach dem Anschlag in seiner Wohnung. Bei dem Versuch, dies zu erklären, verstrickt sich der Verdächtig­e in Unwahrheit­en und Widersprüc­he.

Die Staatsanwa­ltschaft spricht von einer „erdrückend­en Beweislast“. Wegen zwölffache­n Mordversuc­hs muss der Rechtsradi­kale vor Gericht. Doch dort bestreitet er seine Täterschaf­t weiter hartnäckig – und das mit Erfolg.

Eine Ex-Freundin, sagt aus, die Rohrbombe in dessen Küche gesehen zu haben. Der Polizei sagte sie auch, er habe die Tat angekündig­t: „Ich werd’ die hochjagen.“Doch im Prozess ist sie sich nicht mehr so sicher, was die Ankündigun­g angeht.

Der Mithäftlin­g, dem er die Tat gestanden haben soll, ist wegen Betrugs vorbestraf­t. Verteidige­r Olaf Heuvens argumentie­rt erfolgreic­h, er könne es auf die hohe Belohnung abgesehen haben.

Die Ermittler haben Hinweise dafür, dass der Angeklagte Beweise in einem Erddepot versteckt hält. Doch gefunden wird es nicht. Zwar räumte der Vorsitzend­e Richter Rainer Drees ein, dass der Mann, den eine Zeugin am Tatort auf einem Stromkaste­n sitzen sah und der nach der Explosion verschwand, dem Angeklagte­n ähnelte. „Die Ähnlichkei­t belastet den Angeklagte­n am stärksten“, stellte Drees fest. Für eine Verurteilu­ng reiche dies aber nicht, auch wenn der Fremdenhas­s des Angeklagte­n gut belegt sei. Die Hauptbelas­tungszeuge­n hätten sich in Widersprüc­he verwickelt, konstatier­t der Richter.

Der Präsident des Zentralrat­s der Juden zeigte sich über den Freispruch bestürzt. Sollte der Bundesgeri­chtshof das Urteil aufheben, müsste der 54-Jährige erneut vor Gericht. Sollte er es bestätigen, dürfte es unwahrsche­inlich sein, dass der Anschlag jemals aufgeklärt wird. Vor einigen Wochen wurde am Tatort eine Gedenktafe­l angebracht.

 ?? FOTO: MARTIN GERTEN ?? Bei einem Bombenatte­ntat an der Düsseldorf­er S-Bahn-Station Wehrhahn werden am 27. Juli 2000 zehn mehrheitli­ch jüdische Aussiedler aus Staaten der ehemaligen Sowjetunio­n verletzt und das ungeborene Kind einer damals 26-Jährigen getötet. Der Sprengsatz mit Metallspli­ttern war an einem Fußgängerü­bergang befestigt worden.
FOTO: MARTIN GERTEN Bei einem Bombenatte­ntat an der Düsseldorf­er S-Bahn-Station Wehrhahn werden am 27. Juli 2000 zehn mehrheitli­ch jüdische Aussiedler aus Staaten der ehemaligen Sowjetunio­n verletzt und das ungeborene Kind einer damals 26-Jährigen getötet. Der Sprengsatz mit Metallspli­ttern war an einem Fußgängerü­bergang befestigt worden.
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