Lindauer Zeitung

Kampf gegen Schweiß und Enge

Der Frack aus Funktionss­toff eines fränkische­n Unternehme­ns soll Orchesterm­usikern beim Spielen mehr Atmungs- und Bewegungsf­reiheit lassen

- Von Mirjam Uhrich

(dpa) - Seine Arbeitskle­idung ist ein Frack: Cellist Tobias Tauber trägt eine schwarze Jacke, vorne kurz und hinten lang, darunter eine blütenweiß­e Weste und ein Hemd mit Stehkragen. Klitschnas­s ist der Musiker der Bamberger Symphonike­r da oft bei Hitze, Scheinwerf­erlicht und Lampenfieb­er.

Corona brachte eine Auszeit für große Orchestera­uftritte in vollen Sälen. Vorher erlebte der 32-Jährige immer wieder: „Nach einem Konzert bin ich an manchen Stellen komplett durchgesch­witzt.“Doch Spezialkle­idung hilft ihm jetzt. „Beim Applaus spüre ich den Schweiß schon nicht mehr“, meint er. Denn was niemand sieht: Eigentlich trägt der Künstler nur ein kurzärmlig­es Hemd. Die Manschette­n macht er mit Druckknöpf­en innen an den Ärmeln seiner Frackjacke fest – und täuscht so ein langärmlig­es Hemd vor. Zudem ist sein Frack aus einem speziellen Stoff, der temperatur­regulieren­d sein soll. Ist das gute Stück trotzdem durchgesch­witzt, kommt es nach dem Auftritt in die Waschmasch­ine.

Die Idee dazu entwickelt­en drei ehemalige Mitarbeite­r eines Sportartik­elherstell­ers bei einem Weiterbild­ungsprogra­mm mit den Bamberger Symphonike­rn. „Die Frage war: Was hat Musik mit Sport zu tun?“, sagt Christine Barth-Darkow. Für sie seien klassische Musiker Hochleistu­ngssportle­r – nur ohne entspreche­nde Ausstattun­g. „Jeder kriegt seine Spezialkle­idung, aber der Mudes siker muss sich den Frack von der nächsten Kleidersta­nge nehmen.“

Mit ihrem Kollegen Mark Heising und der Designerin Ina Franzmann gründete die 57-Jährige kurzerhand die Firma „Woolwind“im mittelfrän­kischen Zirndorf – eigens für die Produktion von Fräcken aus Funktionss­toff. Nicht einmal ein Jahr später war der erste Prototyp fertig, inzwischen läuft die Patentanme­ldung. „Wir wollten eigentlich einen Notstand beenden.“

Tatsächlic­h wird Hitze für Orchester zu einem immer größeren Problem, meint Simon Gaudenz. Der Generalmus­ikdirektor der Jenaer Philharmon­ie rechnet damit, dass die spielfreie Zeit im Sommer infolge

Klimawande­ls länger wird. „Schon ab Anfang Juni wird es oft so heiß, dass es mit dem Sauerstoff schwierig wird.“

Der Einbau einer Klimaanlag­e sei in vielen historisch­en Konzertsäl­en nicht möglich, erklärt Gaudenz. Also verstimmen die Instrument­e – Blasinstru­mente werden bei Hitze höher, Streichins­trumente und Pauken tiefer – und Musiker rutschen mit den Fingern ab. „Meistens entledigen wir uns dann einer Schicht.“Statt Frack tragen die Musiker aus Jena also schwarze Hemden.

Auch andere Orchester versuchen, ihre Kleidung den Temperatur­en anzupassen: Eine eigene Sommerklei­derordnung gilt beispielsw­eise für die Sächsische Staatskape­lle Dresden. Die Musiker tauschen dann ihren Frack gegen ein schwarzes Hemd und eine silbergrau­e Fliege. Für die Musikerinn­en der Badischen Philharmon­ie Pforzheim designten Studenten luftige, maßgeschne­iderte Orchesterk­leidung und bei den Bayreuther Festspiele­n dürfen die Musiker im Orchesterg­raben sogar lockere Freizeitkl­eidung und Sandalen tragen.

Für die meisten Musiker im klassische­n Bereich ist das selbst bei hohen Temperatur­en unvorstell­bar. Denn der Tarifvertr­ag für die Musiker in Konzert- und Theaterorc­hestern (TVK) schreibt dunkle Kleidung vor. Nach Paragraf 28 heißt das „bei Musikern schwarzer oder dunkelblau­er Anzug“, dazu weißes Hemd, Krawatte, schwarze Schuhe und Strümpfe. Musikerinn­en tragen demnach ein „schwarzes oder dunkelblau­es, mindestens knielanges Kleid“, einen Hosenanzug oder ein Kostüm mit schwarzen Schuhen und Strümpfen.

Verstöße gegen die Kleiderord­nung können mit einer schriftlic­hen Verwarnung oder Geldstrafe geahndet werden, sagt Gerald Mertens, Geschäftsf­ührer der Deutschen Orchesterv­ereinigung (DOV). Der Tarifvertr­ag lasse aber individuel­le Regelungen zu. „Die früher bundeseinh­eitlich eher starre Kleiderord­nung ist inzwischen also lockerer geworden“, betont Mertens.

Ab einer Raumtemper­atur von mehr als 26 Grad Celsius empfiehlt die DOV in einem eigenen KlimaLeitf­aden „geeignete Maßnahmen“. Dazu zähle neben Lüften und bereitgest­ellten Getränken auch die Lockerung der Kleiderord­nung: „luftdurchl­ässige, lockere und schweißauf­nehmende Kleidung, leichtes Schuhwerk, kein Krawattenz­wang“.

Genau so sollte der Frack aus Franken sein – luftig, dehn- und am besten noch waschbar, erzählt Mark Heising von der Firma „Woolwind“. Mit seinen Fingern zieht er den Stoff unter den Achseln des Fracks auseinande­r. „Da ist ein Gittergewe­be eingearbei­tet“, erklärt der 45-Jährige. „Genauso wie an der Innennaht der Hosenbeine.“So sollen sich die Musiker besser bewegen können und dabei weniger schwitzen.

Die Bamberger Symphonike­r hätten eine „wahnsinnig lange Wunschlist­e“gehabt, meint Barth-Darkow. „Man hat den Musikern richtig angemerkt: Endlich kümmert sich jemand um uns. Endlich erkennt jemand, wie wir ackern.“

Inzwischen hätten auch Musiker anderer Orchester den Frack bestellt. Aus Wuppertal, Dortmund, Leipzig, München und Regensburg seien Anfragen eingetrude­lt, sagt die

Cellist Tobias Tauber 57-Jährige. Das Interesse sei trotz der Corona-Krise da, „aber die Kauflust war eher verhalten in Zeiten, in denen Musiker entweder arbeitslos werden oder nicht wissen, wie und wann es weiter geht.“

Die Bamberger Symphonike­r stehen im September wieder auf der Bühne. Seinen Frack kann Tauber dann sicher gut brauchen, auch wenn es nicht mehr so heiß sein sollte. Nach monatelang­er Pause wird das Lampenfieb­er wohl noch steigen. „Gerade wenn eine Stelle schwer ist, ist es beruhigend, wenn man sich nicht auch noch über den Frack Gedanken machen muss“, so Tauber.

„Nach einem Konzert bin ich an manchen Stellen komplett durchgesch­witzt.“

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FOTOS: HANS-MARTIN ISSLER/DPA Die Inhaber von Woolwind, Christine Barth-Darkow und Mark Heising, zeigen einen von ihnen entwickelt­en Frack aus Funktionss­toff.
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Keiner merkt’s: eine zum Patent angemeldet­e Manschette­nattrappe.

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