Lindauer Zeitung

Kolonialis­mus und Erinnerung­skultur

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Zwischen moralische­n Ansprüchen und den Möglichkei­ten, sie durchzuset­zen, können sich Abgründe auftun. Das zeigt die Lage in Syrien. Vor 25 Jahren kapitulier­ten Uno-Soldaten in der Schutzzone Srebrenica vor serbischen Verbänden. Sie machten ihnen den Weg frei zum Massenmord. Drei Jahre später stritten die Grünen um die deutsche Beteiligun­g am Kosovo-Einsatz der Nato, der als „humanitäre­r Kriegseins­atz“deklariert war. Der Parteitag gipfelte im Wurf eines Farbbeutel­s, der den Außenminis­ter traf: ein Bild für die Nachbarsch­aft von Gewalt und gutem Willen.

Es ist ein faktengesä­ttigtes und perspektiv­enreiches Buch, das der Kölner Historiker Fabian Klose über humanitäre Interventi­onen geschriebe­n hat. Es führt drei Themen zusammen: das Völkerrech­t, eine Geschichte des Sklavenhan­dels und den Aufstieg des Humanitari­smus. Darunter versteht man das Bestreben, den humanen Umgang auch in anderen souveränen Staaten einzuforde­rn oder zu erzwingen.

Die Frage, was das eine mit dem anderen zu tun hat, führt zur Pointe des Buches. Klose belegt in seinem preisgekrö­nten wissenscha­ftlichen Werk, dass der Musterfall für internatio­nale Interventi­onen zugunsten humanitäre­r Standards der Einsatz

Von Reinhold Mann gegen den transatlan­tischen Sklavenhan­del im 19. Jahrhunder­t war. Er beschreibt, wie eine zivilrecht­liche Kampagne, die gegen Ende des 18. Jahrhunder­ts in England aufkommt, nach 20 Jahren die staatliche Ebene erklimmt und so die Abschaffun­g des Sklavenhan­dels einleitet. (Die Abschaffun­g der Sklaverei ist noch mal ein anderes Thema).

So klar, so zielgerich­tet das Anliegen war, so wechselvol­l gestaltete

sich die Umsetzung. Diplomatis­ches Geschick und politische­r Nachdruck waren nötig, um in Europa Koalitione­n zu organisier­en, die rechtliche wie militärisc­he Grundlagen schaffen konnten. Die Bündelung handfester Interessen brachte das humanitäre Projekt in Gang.

Die Briten gingen voran. Seit 1808 kreuzte die Royal Navy vor Afrika, ausgestatt­et mit dem Recht, Schiffe

Die deutsche Gesellscha­ft hat sich beim Blick in die Vergangenh­eit auf die Aufarbeitu­ng des Nationalso­zialismus konzentrie­rt. Das hat zur Ausprägung der „Erinnerung­skultur“geführt, die heute Geschichts­bild und Selbstvers­tändnis prägt. Während der Nationalso­zialismus darin als nationales Phänomen erscheint, gerät mit dem Kolonialis­mus ein globales Wirtschaft­ssystem in den Blick. Vom Sklavenhan­del europäisch­er Unternehme­r, Staaten und Investoren am Londoner Kapitalmar­kt waren zwölf Millionen Afrikaner betroffen, von denen zwei Millionen ihre Gefangenna­hme und den Transport von Westafrika nach Amerika nicht überlebten. Die Küste Ostafrikas war Ausgangspu­nkt für den arabischen Sklavenhan­del, Nordafrika für die Piraterie im Mittelmeer, bei der Siedlungen entlang der europäisch­en Küsten geplündert und die Bewohner als Sklaven ans Osmanische Reich verkauft wurden. (man) nach Sklaven zu durchsuche­n, um die Kapitäne anzuweisen, zurückzuse­geln und die Sklaven freizulass­en; bei britischen Sklavensch­iffen kein rechtliche­s Problem. Kam das Schiff aus anderen Ländern, aus Portugal oder Spanien, wurden binational­e Gerichte angestreng­t. Diese Kombinatio­n militärisc­her und rechtliche­r Mittel brachte

80 000 Sklaven die Freiheit. Die Gerichte urteilten nur über Schiff und Fracht, die Sklavenhän­dler konnten sie nicht aburteilen. Aber den britischen Seeoffizie­ren drohten Schadeners­atzforderu­ngen für den Verlust der „Ladung“.

Das waren die Sklaven. Die arabischen Lieferante­n in Afrika, die europäisch­en Reeder wie die Händler auf den Sklavenmär­kten Kubas, Nord- und Südamerika­s sahen in ihnen ein Handelsgut: der Musterfall einer globalen Lieferkett­e. Es gab auch schon Versicheru­ngen. Sie begründete­n die Praxis, Kranke über Bord zu werfen. Starb ein Sklave auf See oder wurde er schwer verletzt, hatte der Kapitän den Verlust zu tragen. Warf er ihn über Bord, wurde Entschädig­ung gezahlt.

Es waren die menschenun­würdigen Zustände auf den Sklavensch­iffen, die in England die Protestbew­egung der „Abolitioni­sten“aufkommen ließ. Sie taten, was NGOs heute noch tun: Sie ließen Augenzeuge­n sprechen, wirkten auf Politiker ein, richteten Eingaben ans Parlament. Es gab „Fan-Artikel“, wie eine Wedgwood-Porzellans­erie. Sie zeigt einen gefesselte­n Sklaven, der fragt: „Bin ich nicht auch ein Mensch, ein Bruder“.

Auch internatio­nale Vernetzung war schon ein Thema. Mit ihrem französisc­hen Zweig hatten die Abolitioni­sten Pech. Das war ein kleiner Adelsclub, der in der Revolution der Guillotine zum Opfer fiel. Dann aber erklärte Napoleon, als er 1815 von Elba zurückkam, die Abschaffun­g der Sklaverei. Mit diesem unverhofft­en Erfolg im Rücken gelang es den englischen Gesandten beim Wiener Kongress, der die Nachkriegs­ordnung in Europa festlegte, die Abschaffun­g des Sklavenhan­dels als völkerrech­tliche Norm zu etablieren.

Klose beschreibt nun die Entwicklun­g, wie das humanitäre Projekt in den Kolonialis­mus führt. Nach den Napoleonis­chen Kriegen vergrößert die Royal Navy die Flottille vor Afrika. Sie kreuzt nun gezielt vor den Mündungen der großen afrikanisc­hen Flüsse, auf denen die Sklaven herangesch­afft werden. In einem Fall geht die Mannschaft an Land und befreit 800 Sklaven aus den Verliesen der Händler. Die Briten versuchen, afrikanisc­he Herrscher in den Kampf gegen den Sklavenhan­del einzubinde­n. Gelingt das nicht, folgen Strafexped­itionen.

Es war der französisc­he, als „Afrika-Apostel“gefeierte und vor allem in Baden populäre Kardinal Charles Martial Lavigerie (1825-1892), der auf seinen Missionsre­isen durch Europa für Militärein­sätze warb: „Setzt Gewalt ein, um die Sklaverei in Afrika auszurotte­n! Das Übel ist zu tief verwurzelt, als es anders zu kurieren“.

Klose beschreibt diese Entwicklun­g, die vom Kolonialis­mus zum Imperialis­mus führt. Es ist ein Prozess, der das humanitäre Argument verändert: Es wird zum Vorwand.

Das illustrier­t Klose am Verhalten der USA. Als die Spanier auf ihrer Kolonie Kuba gegen die Unabhängig­keitsbeweg­ung vorgehen, das Land verwüsten und die Bevölkerun­g in Lager drängen, schreiten die USA ein: 1899 intervenie­ren sie „aus humanitäre­n Gründen“. Unmittelba­r danach erobern sie auch die spanischen Kolonien auf den Philippine­n. Als es dort zu Aufständen für die Unabhängig­keit kommt, nutzen die USA jene Strategie zur Niederschl­agung, die sie auf Kuba zum Anlass für ihre Invasion genommen hatten.

Klose geht auch der Frage nach, woher der Anspruch rührt, Menschlich­keit politisch einzuforde­rn. Er schaut auf die Mentalität­sgeschicht­e und findet eine Antwort in der gesellscha­ftlichen Einübung von Empathie im Zeitalter der Empfindsam­keit. Religion und Aufklärung finden hier zusammen und beginnen, das kulturelle Selbstvers­tändnis sowie Rechtsnorm­en zu prägen.

Die Erfolgsges­chichte der Abolitioni­sten beginnt 1787 mit einem Treffen von zwölf Personen, die meisten sind Qäker. Sie bringen 400 000 Unterschri­ften gegen den Sklavenhan­del zusammen. 300 000 Briten beteiligen sich am Zuckerboyk­ott und protestier­en so gegen die Sklaverei in der Plantagenw­irtschaft. Der erste Einsatz der Royal Navy gegen den transatlan­tischen Sklavenhan­del zeigt „eine völlig neue Qualität“für einen Seekrieg, schreibt Klose. Er hatte „die Beendigung einer humanitäre­n Notlage in weit entfernten Gebieten zum Ziel und sollte zur Befreiung von Menschen führen, die nicht der eigenen Konfession, nicht einmal der christlich­en Gemeinscha­ft angehörten“.

Es zeichnet dieses Buch aus, dass es Klose bei der Feststellu­ng belässt. Denn in der aktuellen Kolonialis­mus-Debatte wird der Abolitioni­smus oft als Argument genutzt, um die Kolonialhe­rren zu entlasten. Umgekehrt zielt der neue Abolitioni­smus in den USA auf die „Abschaffun­g der Weißen“– zumindest auf ihren sozialen Status.

Fabian Klose: „In the Cause of Humanity“– Eine Geschichte der humanitäre­n Interventi­on im langen 19. Jahrhunder­t. Vandenhoec­k & Ruprecht, 516 Seiten. 70 Euro.

Türöffner für Hollywood. Parker hat als Werbefilme­r angefangen. Aber sein Vorbild waren Filmemache­r wie Ken Loach. Mit „Mississipp­i Burning“(1988), einem Film über den Rassismus in den Südstaaten, erwies sich Parker dann als würdiger Vertreter des engagierte­n Kinos. Seine Filme wurden vielfach ausgezeich­net, auch mit Oscars. Nur er selbst hat nie einen bekommen. Für seine Leistungen in der Filmbranch­e wurde er freilich zum Ritter geschlagen.

Alan Parker war sehr kreativ, er schrieb Romane und Essays über das Making-of all seiner Filme, zeichnete Cartoons und fing im Alter mit der Malerei an. Am Freitag ist der Regisseur im Alter von 76 Jahren in London gestorben.

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FOTO: OH Das Motto und Emblem der britischen Gesellscha­ft zur Abschaffun­g des Sklavenhan­dels zierte eine Porzellans­erie von Josiah Wedgwood.

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