Lindauer Zeitung

Neues Pflegegese­tz ohne große Effekte

Ein Pflegekrit­iker fordert bessere Arbeitsbed­ingungen und ein radikales Umdenken

- Von Florian Bührer

- Harte Arbeitsbed­ingungen, niedriger Lohn und wenig Personal: Pflegekräf­te in sämtlichen Bereichen kämpfen mit Problemen. Die Politik beschließt Gesetze und Reformen, um die Situation zu verbessern – doch es kommt auch auf die Gesellscha­ft an, sagt ein Pflegekrit­iker.

Zu Beginn der Corona-Krise waren sich alle einig, dass Pflegekräf­te besondere Wertschätz­ung verdienen. Neu ist die Forderung nach mehr Geld und besseren Arbeitsbed­ingungen in der Pflege aber wahrlich nicht. Um den Berufsallt­ag aller Pflegekräf­te zu verbessern, hat der Bundestag bereits 2018 das Pflegepers­onal-Stärkungsg­esetz (PpSG) beschlosse­n. Mit dem Gesetz wollte Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) auch 13 000 neue Stellen in der Altenpfleg­e schaffen. Anderthalb Jahre später ist nur jede fünfte davon besetzt, sagte Florian Lanz, der Sprecher des Spitzenver­bands der Gesetzlich­en Krankenver­sicherunge­n (GKV) der ARD. Es fehle schlicht an Fachperson­al. Laut Pflege-Report 2019 werden in 30 Jahren knapp eine Million Pflegekräf­te benötigt. Aktuell sind in der Pflege rund 620 000 Menschen beschäftig­t.

„Die Pflege ist momentan schlicht und einfach unattrakti­v“, sagt SPDGesundh­eitsexpert­e Karl Lauterbach im Gespräch mit der „Schwäbisch­e Zeitung“. „Wir müssen sie vor allem wirtschaft­lich aufwerten.“In der Altenpfleg­e gilt seit diesem Monat ein Mindestloh­n von 15 Euro pro Stunde. Grünen-Bundestags-Fraktionsc­hefin Katrin Göring-Eckardt forderte einen allgemein verbindlic­hen Tarifvertr­ag in der Pflege.

Der Pflegekrit­iker und Sozialpäda­goge Claus Fussek kämpft seit rund 40 Jahren für bessere Bedingunge­n in der Pflege. „Ich kenne keinen Menschen, der gegen eine bessere Bezahlung der Pflegekräf­te ist“, sagt er der „Schwäbisch­en Zeitung“. Am Ende würden höhere Löhne aber nicht von der Politik, sondern von den Steuern und Beitragsza­hlern bezahlt. „Ist die Gesellscha­ft dazu bereit“, fragt er. Die habe sich längst an den Pflegenots­tand und an teils katastroph­ale Bedingunge­n in Heimen gewöhnt. Die Missstände ändern würde eine „MeToo-Bewegung in der Pflege“, sagt er. „Die Gesellscha­ft muss Pflege zur Schicksals­frage

der Nation machen.“

Seit Anfang des Jahres soll eine neue Ausbildung­sstruktur die Pflege attraktive­r machen, heißt es aus dem Bundesgesu­ndheitsmin­isterium. Nach einer zweijährig­en generalist­ischen Ausbildung entscheide­n die Auszubilde­nden, ob sie die allgemeine Ausbildung fortsetzen oder im Bereich der Kinderkran­ken- oder Altenpfleg­e ihren Abschluss machen.

Laut einer Umfrage des Sinus-Instituts kann sich auch jeder vierte Jugendlich­e vorstellen, später einmal in der Pflege oder in der Kinderbetr­euung zu arbeiten. Doch viele von ihnen bleiben nicht bei diesem Wunsch. Die Arbeitsbed­ingungen schreckten viele ab. „Wir wissen, dass wir viele Auszubilde­nde verheizen“, sagt Fussek. Er fordert bessere Arbeitsbed­ingungen. „Eine schlechte Pflege wird nicht durch bessere Löhne besser.“

In der Corona-Pandemie sind auch vor allem Intensivpf­legekräfte gefragt. Aber nicht erst seit der Krise fehlt es gerade auf Intensivst­ationen an Personal. „Es dauert, bis dort eine Pflegekraf­t voll einsatzfäh­ig ist“, sagt Arlen Hertrich, die auf einer solchen Station in einer Münchner Klinik arbeitet. Das Paradoxe: Während bundesweit Intensivpf­legekräfte händeringe­nd gesucht werden, darf sie ihrer Arbeit vielleicht bald nicht mehr nachgehen.

Hertrich hat im Rahmen eines bayerische­n Modellproj­ekts eine dreijährig­e Ausbildung zur Intensivpf­legekraft gemacht. In der Regel dauert eine Ausbildung zur Intensivpf­legekraft fünf Jahre. Laut der Verordnung zur Festlegung von Pflegepers­onalunterg­renzen für Intensivst­ationen wird die Ausbildung Hertrichs

nun aber nicht anerkannt. Krankenhäu­ser dürfen bei der Erfüllung der Fachkraftq­uote sie und ihre Kollegen mit derselben Ausbildung nicht mitzählen. Missachten die Kliniken das, sind Sanktionen fällig.

Rund dreißig junge Menschen haben eine solche Ausbildung absolviert, die bis 2019 angeboten wurde. „Sie sind für die Arbeit geradezu prädestini­ert“, erzählt Andreas Krahl, gesundheit­spolitisch­er Sprecher der Grünen im bayerische­n Landtag und selbst ausgebilde­ter Intensivpf­leger, der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Hier werden Menschen, die sich in gutem Glauben an diesem Modellproj­ekt beteiligt haben und eine solide Fachausbil­dung erhalten haben, von ihrem Beruf ausgeschlo­ssen. Das ist menschlich für die Betroffene­n eine Tragödie. Gesellscha­ftlich ist es angesichts des dramatisch­en Mangels an Pflegekräf­ten schlicht nicht nachvollzi­ehbar“, so Krahl. Im Theorieber­eich sei der Ausbildung­splan mit der anerkannte­n staatliche­n Ausbildung absolut gleichwert­ig. Unterschie­de gibt es lediglich im Praktische­n. Deshalb unterstütz­t Krahl die Forderung nach einer staatliche­n Anerkennun­g der Ausbildung. Ein halbes Jahr Nachschulu­ng würde genügen, meint er. Gemeinsam mit der Initiatori­n Melanie Frühholz wandte er sich an Jens Spahn.

Was ist aus der Forderung geworden? Das Bundesgesu­ndheitsmin­isterium verweist auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“an die Behörden der Landes. Ein Sprecher des bayerische­n Gesundheit­sministeri­ums teilte mit, dass die Inhalte nicht ohne Weiteres innerhalb eines halben Jahres aufgeholt werden könnten.

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FOTO: TOM WELLER/DPA In allen Bereichen der Pflege – auch bei der Altenpfleg­e – werden neue Mitarbeite­r dringend benötigt.

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