Lindauer Zeitung

„Ich halte die Rückkehr zu Normalität an Schulen für eine Illusion“

SPD-Parteichef­in Saskia Esken über ihren Start als Vorsitzend­e, die Perspektiv­e für Schüler in Pandemieze­iten und Frauen in der Politik

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- Mit ihr hatte keiner gerechnet: Vor gut einem Jahr machte sich die Bundestags­abgeordnet­e Saskia Esken auf, gemeinsam mit dem früheren NRW-Finanzmini­ster Norbert Walter-Borjans die SPD-Spitze zu erobern. Das Duo gewann den Mitglieder­entscheid und zog im Dezember ins Willy-Brandt-Haus ein. Dort kennt Esken noch immer nicht jeden Winkel, die Sonnenterr­asse im sechsten Stock betritt sie für das Fotoshooti­ng zum ersten Mal. Ellen Hasenkamp und Mathias Puddig sprachen mit ihr darüber, ob sie dafür Mut braucht, welche Erwartunge­n sie schon enttäuscht hat und was die Schulen aus Sicht der Bildungsex­pertin aus der Pandemie lernen müssen.

Frau Esken, in Ihrer Heimat Baden-Württember­g haben nach einem höchst ungewöhnli­chen Schuljahr die Sommerferi­en begonnen. Wie blicken Sie als ehemalige Elternvert­reterin auf die vergangene­n Monate zurück?

Schulen sind Meister darin, mit Überraschu­ngen und Mangelsitu­ationen zurechtzuk­ommen. Trotzdem war das eine besondere Herausford­erung, so plötzlich die Schulen zu schließen und zu schauen, wie die Schülerinn­en und Schüler mit Unterricht­sangeboten erreicht werden können. Meine Kinder sind ja aus der Schule raus, aber ich bekomme mit, was das für eine schwere Zeit war. Das war ja für alle eine außergewöh­nliche Situation: Alleinsteh­ende waren zu viel alleine, Familien zu viel zusammen und Jugendlich­e hatten keine Kontakte mehr zu anderen Jugendlich­en.

Viele hatten den Eindruck, dass Bildungs- und Familienth­emen in der Pandemie zu kurz kamen. Wie konnte das passieren?

Es gibt eine ganze Reihe von CoronaHilf­en und Leistungen des Konjunktur­pakets, die Familien zugutekomm­en. Aber dennoch: Familien leiden oft im Stillen. Die Belastung insbesonde­re der Frauen ist riesig. Sie gehen arbeiten, leisten Pflegearbe­it, kümmern sich um die Schule der Kinder, ums Haus, um Angehörige – da ist man nicht nebenher politisch aktiv und macht laut von sich reden. Wer so unter Volllast steht, hat keine Zeit, um auf sich aufmerksam zu machen.

Was denken Sie, wie geht es an den Schulen nach den Ferien weiter?

Die Kultusmini­sterinnen und -minister planen mit einem Regelbetri­eb ins nächste Schuljahr, haben aber auch einen Plan B und einen Plan C in der Schublade. Ich halte die Rückkehr zur gewohnten Normaliein tät an den Schulen aber für eine Illusion und die Aufgabe von Abstandsre­geln für sehr problemati­sch. Wenn alle die Warn-App auf dem Handy haben und sich einer infiziert, dann bimmelt schnell die ganze Schule.

Was tun?

Wir brauchen Unterricht­skonzepte, die die Kontakte beschränke­n. Die Begegnung von Schülern aus verschiede­nen Gruppen muss reduziert werden, der geteilte Fremdsprac­hen-, Sport- und Religionsu­nterricht muss in Zeiten von Corona anders organisier­t werden. In dieser Situation muss man vielleicht die Wahlmöglic­hkeiten einschränk­en.

Ohne Digitalisi­erung wird es nicht gehen. Wo stehen wir da? Und wo wollen wir hin?

Was die Ausstattun­g angeht, stehen wir immer noch ziemlich am Anfang. Schülerinn­en und Schüler sind womöglich besser ausgestatt­et, als man das gemeinhin annimmt. Aber auch da gibt es eine soziale Spaltung. Deshalb haben wir in der Koalition entschiede­n, dass der Digitalpak­t um eine halbe Milliarde Euro für digitale Endgeräte aufgestock­t werden soll. Und wenn sich Telekommun­ikationsan­bieter für einen Schülertar­if engagieren würden, wäre das noch

ganzes Stück besser. Ich höre da eine große Bereitscha­ft, die Zukunftsfä­higkeit unserer Bildung zu unterstütz­en.

Hängt der Bildungser­folg nicht am Ende doch wieder vom Elternhaus ab?

Wenn das Bildungssy­stem davon ausgeht, dass am Nachmittag all das von Eltern geleistet wird, was am Vormittag nicht erreicht werden konnte, dann kommen viele unter die Räder. Das darf nicht sein. Wir müssen auch den Schülerinn­en und Schülern beste Chancen eröffnen, die zuhause wenig Unterstütz­ung haben, weil der Bildungshi­ntergrund oder die finanziell­en Grundlagen fehlen. Dass wir immer noch zehn Prozent eines Jahrgangs ohne Schulabsch­luss entlassen, ist ein Unding.

Also „Schulen zu Kathedrale­n“machen?

Unbedingt!

Das Zitat stammt von Sigmar Gabriel und ist vier Jahre alt. Wieso sind Schulen nicht längst Kathedrale­n?

Das hat ganz entscheide­nd damit zu tun, dass die Föderalism­usreform Schulen und Bund strikt voneinande­r trennt, während gleichzeit­ig die

Schuldenbr­emse die Länder stark einschränk­t. Um das zu ändern, müssen aber die grundgeset­zlichen Möglichkei­ten geschaffen werden.

Bildung ist Ländersach­e ...

… und wir sind als Bund dafür zuständig, dass überall gleichwert­ige Verhältnis­se existieren. Bildungsch­ancen gehören dazu. Darüber werden wir auch bei unserem SPDZukunft­sdialog zum Thema Bildung am 6. August diskutiere­n.

Sie sind jetzt seit fast acht Monaten Parteichef­in und konnten Ihre Partei aus der Perspektiv­e dieses Vorsitzend­en-Büros hier oben kennenlern­en. Gibt es etwas, das Sie vorher noch nicht wussten über die SPD?

Ich sitze ja nicht so oft hier oben im Willy-Brandt-Haus. Ich begegne unseren Mitglieder­n weiter auf Augenhöhe, sei es im Netz oder im direkten Kontakt. Wir bekommen viel positives Feedback für unsere veränderte Kommunikat­ionskultur. Unsere Partei ist streitlust­ig, debattierf­reudig im besten Sinne. Wir sind eine politische Familie, wir wollen miteinande­r reden. Und die unterschie­dlichen Gesprächsf­ormate tun uns gut. Das habe ich von der neuen Warte aus noch mehr schätzen gelernt. Aukonnten ßerdem wird positiv wahrgenomm­en, dass wir uns so einig sind an der Spitze.

Also Sie und Ihr Co-Parteichef Norbert Walter-Borjans?

Ich meine damit auch Fraktion, Partei und Regierungs­beteiligun­g. Nachdem das Ergebnis des Mitglieder­votums bekannt war, sind wir hier als erstes mit Olaf Scholz zusammenge­troffen. Tags darauf saßen wir mit Scholz, mit Fraktionsc­hef Rolf Mützenich und den Mitglieder­n des Präsidiums zusammen. Wir wussten vom ersten Tag an, dass wir es gemeinsam schaffen müssen. Aus diesem „Müssen“ist ein Wollen geworden und eine Zusammenar­beit, die nicht enger sein könnte.

Das klingt, als hätten Sie das nicht erwartet.

Zumindest gab es auch ganz andere Erwartunge­n. Nachdem Norbert und ich entgegen aller Erwartunge­n gewählt wurden, war die nächste Erwartung die, dass der Parteitag platzt. Auch das ist nicht passiert.

Die dritte Erwartung war, dass Sie die Große Koalition verlassen.

Wir haben, und das war unser Ziel und der Auftrag des Parteitags, die Arbeit in der Regierung verändert,

neue Themen setzen und auch hier die Kommunikat­ion verändern. Es gab dann viel zu tun und keine wirkliche Veranlassu­ng, die große Koalition zu verlassen. Und unter den aktuellen Bedingunge­n würde das auch wirklich niemand verstehen.

Müssen Frauen besonders mutig sein, um in die Politik zu gehen?

Der Umgang in der Politik ist rau, und wir Frauen werden manchmal sogar besonders rau angefasst. Damit muss man umgehen lernen. Aber ich glaube, dass Frauen in der Politik gebraucht werden mit ihrer anderen Sicht auf die Dinge.

Sind die Maßstäbe an Frauen strenger?

In der Bewertung der Leistung sind die Maßstäbe strenger, und dann kommen andere dazu: Äußerlichk­eiten, Kleidung, Stimme – das alles spielt bei Männern keine oder zumindest eine sehr untergeord­nete Rolle. Das belastet mich aber nicht, das nervt nur. Dazu kommt, dass bei bestimmten Themen die Frauen nicht gern gehört werden.

Welche denn?

Die Polizei zum Beispiel.

Sie spielen auf Ihre Polizeikri­tik an.

Ich habe nicht „die Polizei“als Ganzes kritisiert! Ich habe gesagt, dass die allermeist­en Polizisten und Polizistin­nen rassistisc­hen Tendenzen kritisch gegenübers­tehen und dass sie unter den Vorurteile­n leiden, die daraus entstehen. Was öffentlich daraus gemacht wurde, haben wir alle gesehen. Und das hat Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz am vergangene­n Wochenende auch erlebt. Es ist doch kein Zufall, dass wir beide Frauen sind.

Wenn jetzt etwa ein männlicher Grüner das gesagt hätte, wäre es anders gelaufen?

Absolut.

Wäre es mutig, jetzt Olaf Scholz als SPD-Kanzlerkan­didaten aufzustell­en?

Bei der Benennung des Kanzlerkan­didaten oder der Kanzlerkan­didatin geht es nicht um Mut, sondern um Vertrauen in die Person und Zutrauen in ihre Kompetenz. Was ich von Olaf Scholz halte, habe ich schon oft gesagt: Er ist ein sehr fähiger Finanzmini­ster und ein sehr fähiger Vizekanzle­r, und ich arbeite sehr eng und vertrauens­voll mit ihm zusammen. In den nächsten Wochen werden wir die nötigen Gespräche führen und dann zu einer guten Entscheidu­ng über die Kanzlerkan­didatur kommen.

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FOTO: JANINE SCHMITZ/PHOTOTHEK.NET Saskia Esken, Bundesvors­itzende der SPD, ist seit acht Monaten im Amt.

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