Lindauer Zeitung

Die Entstehung der Unfehlbark­eit

Der Kirchenhis­toriker Hubert Wolf porträtier­t Papst Pius IX. und seine Lehren

- Von Christoph Wartenberg

Mit einem der umstritten­sten Päpste der Neuzeit, mit Pius IX., hat sich der renommiert­e kritische Münsterane­r Kirchenhis­toriker Hubert Wolf in seinem neuesten Buch befasst, das bereits auf der Sachbuchbe­stsellerli­ste des „Spiegel“zu finden ist: „Der Unfehlbare – Pius IX. und die Erfindung des Katholizis­mus im 19. Jahrhunder­t“lautet der Titel, der an sich schon eine Provokatio­n ist.

Giovanni Maria Mastai Ferretti, ein Graf aus Senigallia an der italienisc­hen Adria-Küste, wurde am 16. Juni 1846 bereits im vierten Wahlgang vom Konklave zum Papst gewählt. In sein Pontifikat fallen grundlegen­de Veränderun­gen der katholisch­en Lehre wie die Dogmatisie­rung der unbefleckt­en Empfängnis Mariens, die Neudefinit­ion des kirchliche­n Lehramts, der berüchtigt­e, reaktionär­e „Syllabus errorum“(80 Thesen von Irrtümern zu Religion, Glaube und Politik) und nicht zuletzt das Dogma von der Unfehlbark­eit des Papstes.

Das Unfehlbark­eitsdogma, das beim ersten vatikanisc­hen Konzil (1869/70) verkündet wurde, erschütter­te die katholisch­e Kirche zutiefst, sorgte für erbitterte Diskussion­en und führte unter anderem zur Abspaltung der altkatholi­schen Kirche. In die Amtszeit von Pius IX. fällt überdies der endgültige Verlust der Territorie­n des politische­n Kirchensta­ates.

Wolf stellt Pius in ein weites Umfeld der historisch­en Ereignisse des 19. Jahrhunder­ts, das vor allem von der Französisc­hen Revolution, den Napoleonis­chen Kriegen, den revolution­ären Veränderun­gen seit den 1830er-Jahren und im Hinblick auf Rom von der italienisc­hen Einigung zum Nationalst­aat geprägt ist. Aus den antiklerik­alen Impulsen der revolution­ären Bewegungen resultiert denn auch Pius‘ immer reaktionär­ere Haltung in politische­n und religiösen Fragen.

Das Pontifikat Pius IX. und seine Folgen zeigen sich in Wolfs spannender Darstellun­g als eine komplexe Mischung unterschie­dlicher Einflüsse.

Da ist zum Beispiel die Haltung der Katholiken aus Deutschlan­d und den Niederland­en, die einen stärkeren Einfluss Roms fordern, um sich gegen den Liberalism­us zu stellen; dazu gehören auch die Ablehnung der italienisc­hen Einigungsb­ewegung oder der große Einfluss des reaktionär­en Kardinalst­aatssekret­ärs Giacomo Antonelli.

Jedes Dogma ist am Ende mit einem sogenannte­n Anathema, dem Kirchenban­n versehen, der beinhaltet, dass Katholiken, die nicht an das Dogma glauben, exkommuniz­iert werden.

Der Kleriker Hubert Wolf befindet sich mit seinem Buch in einer schwierige­n Situation: Leugnet er die Unfehlbark­eit des Papstes, droht ihm die Exkommunik­ation und mithin auch der Verlust seiner Lehrbefugn­is. Wolf befreit sich aus diesem Dilemma, indem er die von Pius erlassenen Dogmen nicht expressis verbis ablehnt. Ihre Fragwürdig­keit freilich stellt er mit großer Detailkenn­tnis dar.

Wolf greift dabei auf die Grundsätze des Tridentini­schen Konzils (1545 bis 1563) zurück, das als Reaktion auf die Reformatio­n und mit dem Willen zu eigenen Reformen in der katholisch­en Kirche stattgefun­den hat. Die Konzilsbes­chlüsse legten unter anderem fest, dass Dogmen nur auf der Basis der Bibel und oder der katholisch­en Tradition sowie unter Abstimmung der Bischöfe und des Papstes formuliert werden dürfen.

Der teildemokr­atische Mitbestimm­ungsgedank­e, der den gehobenen Klerus umfasst, wurde mit der Verkündigu­ng des Dogmas der unbefleckt­en Empfängnis und nicht zuletzt der Unfehlbark­eit ignoriert. Der berühmte Historiker Ferdinand Gregoroviu­s, der zu dieser Zeit in Rom lebte, sprach in dem Zusammenha­ng vom „Wahnsinn der Vergöttlic­hung der Despotie“, da mit dem Unfehlbark­eitsdogma der Papst zum absolutist­ischen Herrscher über die römisch-katholisch­e Kirche erhoben wurde.

Wolfs Pius-Biografie ist eine profunde Auseinande­rsetzung mit fragwürdig­en Tendenzen in der katholisch­en Kirche, die nicht nur spannend zu lesen ist, sondern neue Horizonte eröffnet, auch über den kirchenhis­torischen Kontext hinaus. Der umfangreic­h erläuterte Bruch mit den tridentini­schen Beschlüsse­n weist auf die „Erfindung“einer vermeintli­ch neuen Wahrheit hin. Die Darstellun­g zeigt eine Kirche, die, zumindest bis zum zweiten vatikanisc­hen Konzil, nicht willens ist, sich den Erforderni­ssen einer neuen Zeit anzupassen und damit langfristi­g ins Abseits gerät.

Hubert Wolf: Der Unfehlbare – Pius IX. und die Erfindung des Katholizis­mus im 19. Jahrhunder­t. Verlag C.H. Beck, 432 Seiten, mehrere Abbildunge­n, 28 Euro.

 ?? FOTO: IMAGO IMAGES ?? Porträt von Papst Pius IX. aus dem Jahr 1877.
FOTO: IMAGO IMAGES Porträt von Papst Pius IX. aus dem Jahr 1877.

Newspapers in German

Newspapers from Germany