Die Entstehung der Unfehlbarkeit
Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf porträtiert Papst Pius IX. und seine Lehren
Mit einem der umstrittensten Päpste der Neuzeit, mit Pius IX., hat sich der renommierte kritische Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf in seinem neuesten Buch befasst, das bereits auf der Sachbuchbestsellerliste des „Spiegel“zu finden ist: „Der Unfehlbare – Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert“lautet der Titel, der an sich schon eine Provokation ist.
Giovanni Maria Mastai Ferretti, ein Graf aus Senigallia an der italienischen Adria-Küste, wurde am 16. Juni 1846 bereits im vierten Wahlgang vom Konklave zum Papst gewählt. In sein Pontifikat fallen grundlegende Veränderungen der katholischen Lehre wie die Dogmatisierung der unbefleckten Empfängnis Mariens, die Neudefinition des kirchlichen Lehramts, der berüchtigte, reaktionäre „Syllabus errorum“(80 Thesen von Irrtümern zu Religion, Glaube und Politik) und nicht zuletzt das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes.
Das Unfehlbarkeitsdogma, das beim ersten vatikanischen Konzil (1869/70) verkündet wurde, erschütterte die katholische Kirche zutiefst, sorgte für erbitterte Diskussionen und führte unter anderem zur Abspaltung der altkatholischen Kirche. In die Amtszeit von Pius IX. fällt überdies der endgültige Verlust der Territorien des politischen Kirchenstaates.
Wolf stellt Pius in ein weites Umfeld der historischen Ereignisse des 19. Jahrhunderts, das vor allem von der Französischen Revolution, den Napoleonischen Kriegen, den revolutionären Veränderungen seit den 1830er-Jahren und im Hinblick auf Rom von der italienischen Einigung zum Nationalstaat geprägt ist. Aus den antiklerikalen Impulsen der revolutionären Bewegungen resultiert denn auch Pius‘ immer reaktionärere Haltung in politischen und religiösen Fragen.
Das Pontifikat Pius IX. und seine Folgen zeigen sich in Wolfs spannender Darstellung als eine komplexe Mischung unterschiedlicher Einflüsse.
Da ist zum Beispiel die Haltung der Katholiken aus Deutschland und den Niederlanden, die einen stärkeren Einfluss Roms fordern, um sich gegen den Liberalismus zu stellen; dazu gehören auch die Ablehnung der italienischen Einigungsbewegung oder der große Einfluss des reaktionären Kardinalstaatssekretärs Giacomo Antonelli.
Jedes Dogma ist am Ende mit einem sogenannten Anathema, dem Kirchenbann versehen, der beinhaltet, dass Katholiken, die nicht an das Dogma glauben, exkommuniziert werden.
Der Kleriker Hubert Wolf befindet sich mit seinem Buch in einer schwierigen Situation: Leugnet er die Unfehlbarkeit des Papstes, droht ihm die Exkommunikation und mithin auch der Verlust seiner Lehrbefugnis. Wolf befreit sich aus diesem Dilemma, indem er die von Pius erlassenen Dogmen nicht expressis verbis ablehnt. Ihre Fragwürdigkeit freilich stellt er mit großer Detailkenntnis dar.
Wolf greift dabei auf die Grundsätze des Tridentinischen Konzils (1545 bis 1563) zurück, das als Reaktion auf die Reformation und mit dem Willen zu eigenen Reformen in der katholischen Kirche stattgefunden hat. Die Konzilsbeschlüsse legten unter anderem fest, dass Dogmen nur auf der Basis der Bibel und oder der katholischen Tradition sowie unter Abstimmung der Bischöfe und des Papstes formuliert werden dürfen.
Der teildemokratische Mitbestimmungsgedanke, der den gehobenen Klerus umfasst, wurde mit der Verkündigung des Dogmas der unbefleckten Empfängnis und nicht zuletzt der Unfehlbarkeit ignoriert. Der berühmte Historiker Ferdinand Gregorovius, der zu dieser Zeit in Rom lebte, sprach in dem Zusammenhang vom „Wahnsinn der Vergöttlichung der Despotie“, da mit dem Unfehlbarkeitsdogma der Papst zum absolutistischen Herrscher über die römisch-katholische Kirche erhoben wurde.
Wolfs Pius-Biografie ist eine profunde Auseinandersetzung mit fragwürdigen Tendenzen in der katholischen Kirche, die nicht nur spannend zu lesen ist, sondern neue Horizonte eröffnet, auch über den kirchenhistorischen Kontext hinaus. Der umfangreich erläuterte Bruch mit den tridentinischen Beschlüssen weist auf die „Erfindung“einer vermeintlich neuen Wahrheit hin. Die Darstellung zeigt eine Kirche, die, zumindest bis zum zweiten vatikanischen Konzil, nicht willens ist, sich den Erfordernissen einer neuen Zeit anzupassen und damit langfristig ins Abseits gerät.
Hubert Wolf: Der Unfehlbare – Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert. Verlag C.H. Beck, 432 Seiten, mehrere Abbildungen, 28 Euro.