Streit um Abkommen gegen Frauengewalt
Islamistische Kreise in der Türkei fordern Aufkündigung der „Istanbul-Konvention“– Selbst die AKP ist uneins
- Fast jeden Tag wird in der Türkei eine Frau getötet – und die türkische Regierung überlegt sich nun, ob sie aus einem internationalen Vertrag zur Eindämmung der Gewalt gegen Frauen aussteigen soll. Islamistische Gruppen fordern, Präsident Recep Tayyip Erdogan solle das sogenannte Istanbuler Abkommen gegen Frauengewalt aufkündigen. Wie die kürzliche Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee könnte auch dieser Schritt Erdogans religiös-nationalistische Anhängerschaft motivieren. Doch während es für die Umwidmung der Hagia Sophia in der Regierungspartei AKP einen breiten Konsens gab, ist die Forderung nach einer Aufkündigung der Frauen-Konvention in der Partei und selbst in Erdogans eigener Familie umstritten.
Erdogan hatte das Istanbuler Abkommen des Europarats im Jahr 2011 als damaliger türkischer Ministerpräsident unterschrieben. Der Vertrag verpflichtet die Teilnehmerstaaten zu einem entschlossenen Kampf gegen körperliche, sexuelle und seelische Gewalt gegen Frauen. Auch gegen Diskriminierung und Zwangsehen soll vorgegangen werden. Frauenrechtsgruppen kritisierten immer wieder, dass die Türkei ihren Vertragsverpflichtungen nicht nachkomme. Im vergangenen Jahr wurden nach Zählung der Organisation „Wir stoppen die Frauengewalt“417 Frauen von ihren Ehemännern, Partnern oder Ex-Männern getötet; in diesem Jahr sind es bisher 202 Frauen.
Für islamistische Gruppen ist jedoch die Istanbuler Konvention selbst das größte Problem. Nach Presseberichten verlangt die einflussreiche islamische Ismailaga-Gemeinschaft von Erdogan, er solle das Abkommen kündigen. Der stellvertretende AKP-Vorsitzende Numan Kurtulmus, der zum religiösen Flügel der Partei gehört, brachte den Ausstieg vor einem Monat erstmals öffentlich ins Gespräch.
Seitdem fordern immer mehr Regierungsanhänger, das Abkommen aufzukündigen. Sie verdammen den Vertrag als Angriff auf den Islam, auf den Zusammenhalt der Familie und als Ermunterung zur Homosexualität. Diese Trends führten geradewegs ins Verderben, schrieb der Kolumnist Yusuf Kaplan in der Erdogan-treuen Zeitung „Yeni Safak“. Wenn die Institution der Familie zerbreche, zerbreche auch die Gesellschaft. Mit einer Beibehaltung der Konvention würde sich die Regierung
ihr eigenes Grab schaufeln, warnte er.
Anhänger des Vertrags halten dagegen, dass die Konvention keineswegs die Homosexualität fördere und auch nicht männerfeindlich sei. Auch an dem Vorwurf, das Abkommen richte sich gegen den Islam und gegen die Kultur der Türkei, sei nichts dran, schrieb die Anwältin Selin Nakipoglu in der Zeitung „BirGün“: Die Konvention enthalte sogar
Auch die Regierung in Polen treibt den Rückzug aus einem internationalen Abkommen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen weiter voran. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki teilte kürzlich mit, er habe das polnische Verfassungsgericht gebeten, die Istanbul-Konvention des Europarats auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Die Konvention war 2012 noch von der Vorgängerregierung unterzeichnet und 2015 ratifiziert worden. Morawiecki sagte, er habe „das Verfassungsgericht gebeten, ein ausdrückliches Verbot jeder religiösen Diskriminierung. Mehrere Frauengruppen haben für diesen Mittwoch in Istanbul zu einer Demonstration aufgerufen, um das Abkommen zu verteidigen. In einigen Städten an der türkischen Ägäis-Küste gab es bereits Kundgebungen von Frauen. Laut einer Umfrage sind zwei von drei Türken gegen einen Ausstieg aus dem Vertrag. Ob die Demonstrationen das Abkommen retten festzustellen, ob die Istanbul-Konvention mit der Verfassung in Einklang steht“. Die Istanbul-Konvention des Europarats verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, jegliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen sowie alle Formen häuslicher Gewalt als Verbrechen einzustufen und sich gegen die Diskriminierung von Frauen einzusetzen. Sie wurde von allen 27 EU-Mitgliedstaaten und zahlreichen weiteren Ländern unterzeichnet und in der Folge von den meisten ratifiziert. In Deutschland ist sie seit Februar 2018 in können, ist ungewiss. Vertragsgegner finden alle Bestrebungen verdächtig, Frauen mehr Selbstbestimmung zu ermöglichen. Auch Erdogan sprach sich in der Vergangenheit für die traditionelle Rollenverteilung in der Familie aus. Kinderlosen Frauen fehle etwas, sagte er einmal. Der Präsident will, dass jedes Ehepaar mindestens drei Kinder bekommt, um die Türkei vor der Vergreisung zu retten.
Kraft. Die nationalkonservative Regierungspartei PiS, die der katholischen Kirche in Polen nahesteht, hatte das Abkommen infrage gestellt. Ziobro leitete das Verfahren zur Rücknahme der Ratifizierung in die Wege. Er hatte das Abkommen in der Vergangenheit als „feministische Schöpfung zur Rechtfertigung der homosexuellen Ideologie“bezeichnet. Die EU und der Europarat reagierten alarmiert auf die Entscheidung der polnischen Regierung. Auch in Polen selbst gab es Proteste. (AFP)
Doch die Gesellschaft verändert sich. Türkinnen und Türken heiraten immer später und bekommen immer weniger Kinder: Die Geburtenrate ist in den vergangenen zwanzig Jahren von 2,4 auf 1,9 gesunken. Der Anteil der Ein-Personen-Haushalte steigt seit Jahren und hat inzwischen 15,4 Prozent der Gesamthaushalte erreicht. Gleichzeitig wächst die Zahl der Frauen mit Hochschulabschlüssen. Bei diesen Entwicklungen wirkt es anachronistisch, Frauen in überkommene Muster zwängen zu wollen.
Das wird Erdogan möglicherweise auch privat zu hören bekommen. Der konservative Frauenverband Kadem, bei dem die Präsidententochter Sümeyye Erdogan-Bayraktar Vizevorsitzende ist, machte in den vergangenen Tagen mit einem Bekenntnis zur Istanbul-Konvention von sich reden. Auch aus der AKP-Parlamentsfraktion kommt Kritik an den Ausstiegsplänen. Nun konnten die Anhänger des Vertrages einen ersten Etappensieg erringen: Erdogan ließ laut Presseberichten eine für diese Woche geplante Vorstandssitzung der AKP zur Istanbul-Konvention wegen des Streits in der Partei verschieben.