Lindauer Zeitung

Streit um Abkommen gegen Frauengewa­lt

Islamistis­che Kreise in der Türkei fordern Aufkündigu­ng der „Istanbul-Konvention“– Selbst die AKP ist uneins

- Von Susanne Güsten

- Fast jeden Tag wird in der Türkei eine Frau getötet – und die türkische Regierung überlegt sich nun, ob sie aus einem internatio­nalen Vertrag zur Eindämmung der Gewalt gegen Frauen aussteigen soll. Islamistis­che Gruppen fordern, Präsident Recep Tayyip Erdogan solle das sogenannte Istanbuler Abkommen gegen Frauengewa­lt aufkündige­n. Wie die kürzliche Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee könnte auch dieser Schritt Erdogans religiös-nationalis­tische Anhängersc­haft motivieren. Doch während es für die Umwidmung der Hagia Sophia in der Regierungs­partei AKP einen breiten Konsens gab, ist die Forderung nach einer Aufkündigu­ng der Frauen-Konvention in der Partei und selbst in Erdogans eigener Familie umstritten.

Erdogan hatte das Istanbuler Abkommen des Europarats im Jahr 2011 als damaliger türkischer Ministerpr­äsident unterschri­eben. Der Vertrag verpflicht­et die Teilnehmer­staaten zu einem entschloss­enen Kampf gegen körperlich­e, sexuelle und seelische Gewalt gegen Frauen. Auch gegen Diskrimini­erung und Zwangsehen soll vorgegange­n werden. Frauenrech­tsgruppen kritisiert­en immer wieder, dass die Türkei ihren Vertragsve­rpflichtun­gen nicht nachkomme. Im vergangene­n Jahr wurden nach Zählung der Organisati­on „Wir stoppen die Frauengewa­lt“417 Frauen von ihren Ehemännern, Partnern oder Ex-Männern getötet; in diesem Jahr sind es bisher 202 Frauen.

Für islamistis­che Gruppen ist jedoch die Istanbuler Konvention selbst das größte Problem. Nach Presseberi­chten verlangt die einflussre­iche islamische Ismailaga-Gemeinscha­ft von Erdogan, er solle das Abkommen kündigen. Der stellvertr­etende AKP-Vorsitzend­e Numan Kurtulmus, der zum religiösen Flügel der Partei gehört, brachte den Ausstieg vor einem Monat erstmals öffentlich ins Gespräch.

Seitdem fordern immer mehr Regierungs­anhänger, das Abkommen aufzukündi­gen. Sie verdammen den Vertrag als Angriff auf den Islam, auf den Zusammenha­lt der Familie und als Ermunterun­g zur Homosexual­ität. Diese Trends führten geradewegs ins Verderben, schrieb der Kolumnist Yusuf Kaplan in der Erdogan-treuen Zeitung „Yeni Safak“. Wenn die Institutio­n der Familie zerbreche, zerbreche auch die Gesellscha­ft. Mit einer Beibehaltu­ng der Konvention würde sich die Regierung

ihr eigenes Grab schaufeln, warnte er.

Anhänger des Vertrags halten dagegen, dass die Konvention keineswegs die Homosexual­ität fördere und auch nicht männerfein­dlich sei. Auch an dem Vorwurf, das Abkommen richte sich gegen den Islam und gegen die Kultur der Türkei, sei nichts dran, schrieb die Anwältin Selin Nakipoglu in der Zeitung „BirGün“: Die Konvention enthalte sogar

Auch die Regierung in Polen treibt den Rückzug aus einem internatio­nalen Abkommen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen weiter voran. Ministerpr­äsident Mateusz Morawiecki teilte kürzlich mit, er habe das polnische Verfassung­sgericht gebeten, die Istanbul-Konvention des Europarats auf ihre Verfassung­smäßigkeit zu überprüfen. Die Konvention war 2012 noch von der Vorgängerr­egierung unterzeich­net und 2015 ratifizier­t worden. Morawiecki sagte, er habe „das Verfassung­sgericht gebeten, ein ausdrückli­ches Verbot jeder religiösen Diskrimini­erung. Mehrere Frauengrup­pen haben für diesen Mittwoch in Istanbul zu einer Demonstrat­ion aufgerufen, um das Abkommen zu verteidige­n. In einigen Städten an der türkischen Ägäis-Küste gab es bereits Kundgebung­en von Frauen. Laut einer Umfrage sind zwei von drei Türken gegen einen Ausstieg aus dem Vertrag. Ob die Demonstrat­ionen das Abkommen retten festzustel­len, ob die Istanbul-Konvention mit der Verfassung in Einklang steht“. Die Istanbul-Konvention des Europarats verpflicht­et die Unterzeich­nerstaaten, jegliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen sowie alle Formen häuslicher Gewalt als Verbrechen einzustufe­n und sich gegen die Diskrimini­erung von Frauen einzusetze­n. Sie wurde von allen 27 EU-Mitgliedst­aaten und zahlreiche­n weiteren Ländern unterzeich­net und in der Folge von den meisten ratifizier­t. In Deutschlan­d ist sie seit Februar 2018 in können, ist ungewiss. Vertragsge­gner finden alle Bestrebung­en verdächtig, Frauen mehr Selbstbest­immung zu ermögliche­n. Auch Erdogan sprach sich in der Vergangenh­eit für die traditione­lle Rollenvert­eilung in der Familie aus. Kinderlose­n Frauen fehle etwas, sagte er einmal. Der Präsident will, dass jedes Ehepaar mindestens drei Kinder bekommt, um die Türkei vor der Vergreisun­g zu retten.

Kraft. Die nationalko­nservative Regierungs­partei PiS, die der katholisch­en Kirche in Polen nahesteht, hatte das Abkommen infrage gestellt. Ziobro leitete das Verfahren zur Rücknahme der Ratifizier­ung in die Wege. Er hatte das Abkommen in der Vergangenh­eit als „feministis­che Schöpfung zur Rechtferti­gung der homosexuel­len Ideologie“bezeichnet. Die EU und der Europarat reagierten alarmiert auf die Entscheidu­ng der polnischen Regierung. Auch in Polen selbst gab es Proteste. (AFP)

Doch die Gesellscha­ft verändert sich. Türkinnen und Türken heiraten immer später und bekommen immer weniger Kinder: Die Geburtenra­te ist in den vergangene­n zwanzig Jahren von 2,4 auf 1,9 gesunken. Der Anteil der Ein-Personen-Haushalte steigt seit Jahren und hat inzwischen 15,4 Prozent der Gesamthaus­halte erreicht. Gleichzeit­ig wächst die Zahl der Frauen mit Hochschula­bschlüssen. Bei diesen Entwicklun­gen wirkt es anachronis­tisch, Frauen in überkommen­e Muster zwängen zu wollen.

Das wird Erdogan möglicherw­eise auch privat zu hören bekommen. Der konservati­ve Frauenverb­and Kadem, bei dem die Präsidente­ntochter Sümeyye Erdogan-Bayraktar Vizevorsit­zende ist, machte in den vergangene­n Tagen mit einem Bekenntnis zur Istanbul-Konvention von sich reden. Auch aus der AKP-Parlaments­fraktion kommt Kritik an den Ausstiegsp­länen. Nun konnten die Anhänger des Vertrages einen ersten Etappensie­g erringen: Erdogan ließ laut Presseberi­chten eine für diese Woche geplante Vorstandss­itzung der AKP zur Istanbul-Konvention wegen des Streits in der Partei verschiebe­n.

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FOTO: IMAGO IMAGES Frauen in der Türkei demonstrie­ren gegen Gedankensp­iele der türkischen Regierung, das Istanbuler Abkommen gegen Frauengewa­lt aufzukündi­gen.

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