In Trümmern
Explosion in Beirut verschlimmert die Armut im Land – Aufbau aus eigener Kraft für den Libanon nicht zu schaffen
- Es war kurz nach 18 Uhr Ortszeit, als zwei kurz aufeinander folgende Explosionen Beirut in den Grundfesten erschütterten. Die Detonationen waren so gewaltig, dass sie sogar noch im 200 Kilometer entfernten Zypern zu spüren waren. Die Apokalypse im Hafen der libanesischen Hauptstadt verwüstete ganze Straßenzüge. Mindestens 135 Libanesen wurden durch die Wucht der herumfliegenden Metall– und Glassplitter getötet, fast 4000 Menschen schwer verletzt.
Blutüberströmt und apathisch saßen sie am Straßenrand und blicken auf den riesigen, dunkelgrauen Rauchpilz, der sich über ihrer Stadt gebildet hatte und die Abendsonne verdunkelte. Es dauerte mehr als drei Stunden, bis Ministerpräsident Hassan Diab den Versuch einer Erklärung für die Katastrophe lieferte. Fast 2800 Tonnen hochexplosives Ammoniumnitrat lagerten in den vergangenen sechs Jahren im Beiruter Hafen, der sich am Rande von dichtbesiedelten Wohngebieten befindet. Am Dienstagnachmittag war es dort fast 40 Grad heiß. Diab schwor, die Verantwortlichen für die durch Nachlässigkeit, Gleichgültigkeit und Inkompetenz verursachte Katastrophe zur Rechenschaft zu ziehen.
Wie es zur Explosion der 2800 Tonnen Ammoniumnitrat kommen konnte, ist noch unklar. Vieles spricht dafür, dass eine kleinere Explosion, mutmaßlich in einem Lager mit Feuerwerkskörpern, die Detonation des riesigen Düngemittelberges auslöste. Spekulationen über eine Bombe, wie von US-Präsident Donald Trump am Dienstagabend, leisten Verschwörungstheorien Vorschub. Schnell verbreiteten sich Gerüchte, das verfeindete Nachbarland Israel habe die libanesische Schiitenorganisation Hisbollah bombardiert. Dafür gibt es aber keine Hinweise.
Der Zeitpunkt der Explosion im Beiruter Hafen ist für den Libanon eine Katastrophe. Seit Oktober letzten Jahres befindet sich das Land in einer kontinuierlichen Abwärtsspirale, die auch nach einem Regierungswechsel nicht gestoppt werden konnte: Es begann mit einem durch kriminelle Währungsspekulationen verursachten Kursrutsch der libanesischen Lira, die mittlerweile fast 90 Prozent ihres Wertes verloren hat. Wer im Oktober noch 500 Dollar verdiente, verfügt heute, was die Kaufkraft angeht, nur noch über 75 Dollar. Importwaren wie Kleidung, Treibstoff oder auch Lebensmittel sind für viele Libanesen unbezahlbar geworden. Die Zedernrepublik, einst als die „Schweiz des Orients“gepriesen, steht vor einer Hungersnot, von der mehr als 50 Prozent der Bevölkerung betroffen sein könnten.
Verschärft wird die schwere Wirtschaftskrise durch das Coronavirus, das, wie die Explosionen im Beiruter Hafen, das Land zur Unzeit heimsuchte – und nun einen zweiten Anlauf nimmt. Spätestens jetzt rächt es sich, dass es alle libanesischen Regierungen
versäumt haben, in den letzten Jahrzehnten für eine funktionierende Strom– und Wasserversorgung und Abfallbeseitigung zu sorgen und ein funktionierendes Gesundheitswesen aufzubauen.
Beobachter warnen nun vor weiteren Versorgungsengpässen. Der Libanon hängt stark von Lieferungen aus dem Ausland ab, die in erheblichem Maße über den jetzt zerstörten Hafen liefen. „Diese Explosion ist der Sargnagel für die Wirtschaft des Libanons und für das Land im Allgemeinen“, prophezeit der Analyst Makram Rabah. Die Menschen könnten ihre Häuser nicht wieder aufbauen, weil ihnen das Geld fehle. In Beiruts Hafen seien unter anderem
Getreidesilos zerstört worden. „Wenn wir uns die Zerstörung dieser Silos anschauen, dann bedeutet das, dass wir auf eine Hungerkrise und Engpässen bei Brot zusteuern.“
Schon vor der Explosion war die Wut der Menschen auf die libanesische Machtelite groß. Jetzt ist sie noch weiter gewachsen. Denn die Schere zwischen Arm und Reich klafft, begünstigt durch das poltische System, weit auseinander. Mehr als 2000 Millionäre und angeblich 30 Milliardäre soll es in dem Land geben. Würden sie nur ein Drittel ihres Reichtums abgeben, könnte das Land saniert werden. Eine Frau, die auf ihrem beschädigten Balkon steht, weint und brüllt: „Präsident, Regierung und Parlament sollten sofort zurücktreten.“
Mit Ministerpräsident Hassan Diab, einem Politologieprofessor, steht ein relativ unbescholtener Politiker an der Spitze des Landes. Der steht jetzt vor seiner womöglich letzten Bewährungsprobe. Gegen „das System“hat er, wie viele seiner Amtsvorgänger, vermutlich keine Chance. Wie hilflos Hassan Diab ist, zeigt sein dramatischer Appell an die internationale Staatengemeinschaft, dem Libanon in der tiefen Krise zu helfen. Auch wenn die vielen großen und kleinen Katastrophen im Libanon in einem hohen Maße hausgemacht sind, dürfen die sieben Millionen Einwohner des Libanons jetzt nicht im Stich lassen werden.
Die Aufgaben sind zahlreich. Das Land braucht technische Hilfe – etwa bei der Trinkwasseraufbereitung, die beispielsweise die Schweiz oder Deutschland leisten könnte. In einem großem Maße unterstützt werden muss auch das marode Gesundheitssystem mit Medikamenten, Verbandsmaterial sowie medizintechnischer Ausrüstung. Wichtig sind auch Lebensmittellieferungen, um die Not der Ärmsten zu lindern sowie die Bereitstellung von Generatoren und Dieseltreibstoff.
Zur Bewältigung der schweren Wirtschafts- und Finanzkrise braucht das Land nach IWF-Schätzungen mindestens 15 Milliarden Dollar. Diese werden allerdings erst dann fließen, wenn seit Jahren angemahnte Reformen für jedermann sichtbar umgesetzt worden sind. Geschieht dies nicht, ist der Libanon – trotz internationaler Hilfe – vermutlich nicht mehr zu retten.