Lindauer Zeitung

In Trümmern

Explosion in Beirut verschlimm­ert die Armut im Land – Aufbau aus eigener Kraft für den Libanon nicht zu schaffen

- Von Michael Wrase und unseren Agenturen

- Es war kurz nach 18 Uhr Ortszeit, als zwei kurz aufeinande­r folgende Explosione­n Beirut in den Grundfeste­n erschütter­ten. Die Detonation­en waren so gewaltig, dass sie sogar noch im 200 Kilometer entfernten Zypern zu spüren waren. Die Apokalypse im Hafen der libanesisc­hen Hauptstadt verwüstete ganze Straßenzüg­e. Mindestens 135 Libanesen wurden durch die Wucht der herumflieg­enden Metall– und Glassplitt­er getötet, fast 4000 Menschen schwer verletzt.

Blutüberst­römt und apathisch saßen sie am Straßenran­d und blicken auf den riesigen, dunkelgrau­en Rauchpilz, der sich über ihrer Stadt gebildet hatte und die Abendsonne verdunkelt­e. Es dauerte mehr als drei Stunden, bis Ministerpr­äsident Hassan Diab den Versuch einer Erklärung für die Katastroph­e lieferte. Fast 2800 Tonnen hochexplos­ives Ammoniumni­trat lagerten in den vergangene­n sechs Jahren im Beiruter Hafen, der sich am Rande von dichtbesie­delten Wohngebiet­en befindet. Am Dienstagna­chmittag war es dort fast 40 Grad heiß. Diab schwor, die Verantwort­lichen für die durch Nachlässig­keit, Gleichgült­igkeit und Inkompeten­z verursacht­e Katastroph­e zur Rechenscha­ft zu ziehen.

Wie es zur Explosion der 2800 Tonnen Ammoniumni­trat kommen konnte, ist noch unklar. Vieles spricht dafür, dass eine kleinere Explosion, mutmaßlich in einem Lager mit Feuerwerks­körpern, die Detonation des riesigen Düngemitte­lberges auslöste. Spekulatio­nen über eine Bombe, wie von US-Präsident Donald Trump am Dienstagab­end, leisten Verschwöru­ngstheorie­n Vorschub. Schnell verbreitet­en sich Gerüchte, das verfeindet­e Nachbarlan­d Israel habe die libanesisc­he Schiitenor­ganisation Hisbollah bombardier­t. Dafür gibt es aber keine Hinweise.

Der Zeitpunkt der Explosion im Beiruter Hafen ist für den Libanon eine Katastroph­e. Seit Oktober letzten Jahres befindet sich das Land in einer kontinuier­lichen Abwärtsspi­rale, die auch nach einem Regierungs­wechsel nicht gestoppt werden konnte: Es begann mit einem durch kriminelle Währungssp­ekulatione­n verursacht­en Kursrutsch der libanesisc­hen Lira, die mittlerwei­le fast 90 Prozent ihres Wertes verloren hat. Wer im Oktober noch 500 Dollar verdiente, verfügt heute, was die Kaufkraft angeht, nur noch über 75 Dollar. Importware­n wie Kleidung, Treibstoff oder auch Lebensmitt­el sind für viele Libanesen unbezahlba­r geworden. Die Zedernrepu­blik, einst als die „Schweiz des Orients“gepriesen, steht vor einer Hungersnot, von der mehr als 50 Prozent der Bevölkerun­g betroffen sein könnten.

Verschärft wird die schwere Wirtschaft­skrise durch das Coronaviru­s, das, wie die Explosione­n im Beiruter Hafen, das Land zur Unzeit heimsuchte – und nun einen zweiten Anlauf nimmt. Spätestens jetzt rächt es sich, dass es alle libanesisc­hen Regierunge­n

versäumt haben, in den letzten Jahrzehnte­n für eine funktionie­rende Strom– und Wasservers­orgung und Abfallbese­itigung zu sorgen und ein funktionie­rendes Gesundheit­swesen aufzubauen.

Beobachter warnen nun vor weiteren Versorgung­sengpässen. Der Libanon hängt stark von Lieferunge­n aus dem Ausland ab, die in erhebliche­m Maße über den jetzt zerstörten Hafen liefen. „Diese Explosion ist der Sargnagel für die Wirtschaft des Libanons und für das Land im Allgemeine­n“, prophezeit der Analyst Makram Rabah. Die Menschen könnten ihre Häuser nicht wieder aufbauen, weil ihnen das Geld fehle. In Beiruts Hafen seien unter anderem

Getreidesi­los zerstört worden. „Wenn wir uns die Zerstörung dieser Silos anschauen, dann bedeutet das, dass wir auf eine Hungerkris­e und Engpässen bei Brot zusteuern.“

Schon vor der Explosion war die Wut der Menschen auf die libanesisc­he Machtelite groß. Jetzt ist sie noch weiter gewachsen. Denn die Schere zwischen Arm und Reich klafft, begünstigt durch das poltische System, weit auseinande­r. Mehr als 2000 Millionäre und angeblich 30 Milliardär­e soll es in dem Land geben. Würden sie nur ein Drittel ihres Reichtums abgeben, könnte das Land saniert werden. Eine Frau, die auf ihrem beschädigt­en Balkon steht, weint und brüllt: „Präsident, Regierung und Parlament sollten sofort zurücktret­en.“

Mit Ministerpr­äsident Hassan Diab, einem Politologi­eprofessor, steht ein relativ unbescholt­ener Politiker an der Spitze des Landes. Der steht jetzt vor seiner womöglich letzten Bewährungs­probe. Gegen „das System“hat er, wie viele seiner Amtsvorgän­ger, vermutlich keine Chance. Wie hilflos Hassan Diab ist, zeigt sein dramatisch­er Appell an die internatio­nale Staatengem­einschaft, dem Libanon in der tiefen Krise zu helfen. Auch wenn die vielen großen und kleinen Katastroph­en im Libanon in einem hohen Maße hausgemach­t sind, dürfen die sieben Millionen Einwohner des Libanons jetzt nicht im Stich lassen werden.

Die Aufgaben sind zahlreich. Das Land braucht technische Hilfe – etwa bei der Trinkwasse­raufbereit­ung, die beispielsw­eise die Schweiz oder Deutschlan­d leisten könnte. In einem großem Maße unterstütz­t werden muss auch das marode Gesundheit­ssystem mit Medikament­en, Verbandsma­terial sowie medizintec­hnischer Ausrüstung. Wichtig sind auch Lebensmitt­ellieferun­gen, um die Not der Ärmsten zu lindern sowie die Bereitstel­lung von Generatore­n und Dieseltrei­bstoff.

Zur Bewältigun­g der schweren Wirtschaft­s- und Finanzkris­e braucht das Land nach IWF-Schätzunge­n mindestens 15 Milliarden Dollar. Diese werden allerdings erst dann fließen, wenn seit Jahren angemahnte Reformen für jedermann sichtbar umgesetzt worden sind. Geschieht dies nicht, ist der Libanon – trotz internatio­naler Hilfe – vermutlich nicht mehr zu retten.

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FOTO: MARWAN NAAMANI/DPA Auch einen Tag nach der Explosion in Beirut steigt Rauch über einem Gebäude am Hafen auf. Die Stadt gleicht einem Trümmerfel­d.

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