Vier Hundertjährige unter einem Dach
Leiterin des Seniorenheims Bruderhaus: „Das ist einmalig“– Erinnerungen an Lebenswege
- Im Seniorenheim Bruderhaus in Ravensburg leben so viele Hochbetagte wie noch nie: Gleich vier Bewohnerinnen haben im ersten Halbjahr 2020 ihren hundertsten Geburtstag gefeiert. Die vier Frauen sind alle im ersten Halbjahr 1920 geboren, haben in derselben Zeit in Ravensburg gelebt und haben im Alter doch ganz unterschiedliche Erinnerungen.
Die Leiterin des Heims, Sibylle Arana, arbeitet seit sieben Jahren im Bruderhaus und sagt: „Ich hatte hier noch keinen Hunderter.“Dass jetzt gleich vier Damen mit dreistelligem Alter unter dem Dach der Einrichtung in der Grüner-Turm-Straße wohnen, sei einmalig. Zum Pressegespräch kommen alle vier Seniorinnen auf eigenen Füßen mit ihren Rollatoren. Wegen des Abstandsgebots ist die Unterhaltung zunächst schwierig. Hausleiterin Arana hilft als „Lautsprecherin“: Sie hat Übung darin, besonders laut und langsam mit den Frauen zu sprechen. Das Gehör ist nach 100 Jahren eben nicht mehr das, was es mal war.
Luise Wachter hat im Mai den zehnten runden Geburtstag ihres Lebens gefeiert. „Mir sieht man die 100 Jahre nicht an“, sagt sie überzeugt. Sie ist in der Spohnstraße in Ravensburg geboren und hat Zeit ihres Lebens dort gelebt, wie sie sagt. Sie kennt jeden Winkel der Stadt. Und sie hat die Namen zahlreicher Ravensburger Familien parat. „Kennen Sie die?“, will sie stets wissen. Der Draht zu dieser Stadt scheint für sie so etwas wie ihre Lebensader zu sein. Vor der Corona-Pandemie war sie so gut wie täglich mit dem Rollator spazieren. Im Korb fährt immer der Plüschbär Peter mit. Ihre Touren gingen manchmal bis hinauf an ihren alten Wohnort und weiter zum Friedhof. Dort weiß sie schon, in welchem Grab sie einmal liegen wird, wie sie erzählt.
Es wirkt so, als ob ihr das Sicherheit gibt. Angst vor dem Tod ist aus diesen Worten nicht herauszuhören. Im April, mitten im Corona-Lockdown, wurde Margarete Stenzel 100 Jahre alt.
Sie trägt zum Pressegespräch ein feines Wollkostüm, ist groß und schlank und hat das weiße Haar in Form gelegt. Als junge Frau arbeitete sie im Büro wie schon ihr Vater. Auf dem Landratsamt sei das gewesen, wenn sie sich recht erinnere. Margarete Stenzels Leidenschaft ist die Musik. 50 Jahre lang hat sie im Ravensburger Liederkranz gesungen, wie sie erzählt. Auch an gesellige Stunden in der Kuppelnauwirtschaft denke sie gerne zurück – weil auch dort immer gesungen wurde. Jeder
Anlass, zu dem ein Lied geträllert werden kann, macht ihr heute noch Freude. Ende Juli wurde das Rutenfest der coronabedingten Absage zum Trotz im Bruderhaus gefeiert. Es gab Bowle und Rutenwurst, das Antrommeln der Buben wurde auf einer Leinwand gezeigt. Alte Schlager aus den 1950er-Jahren haben die Betreuer mit den Senioren gesungen. Und natürlich das Rutenlied. Für Margarete Stenzel eine Freude. „Wir haben fest gefeiert!“, sagt sie.
Ob und wie gut sich die vier gleichaltrigen Frauen, die ihr ganzes Leben in Ravensburg verbrachten, schon vor der Zeit im Bruderhaus kannten, bleibt unklar.
„Wir Alten!“, sagt Kreszenz Reitz,
Ravensburg hat aktuell 16 Einwohner (zwölf Frauen, vierMänner), die 100 Jahre alt oder älter sind. In ganz Baden-Württemberg zählten Ende 2019 genau 2136 Einwohner zu dieser Altersgruppe (1712 Frauen, 424 Männer). Die Zahl der über Hundertjährigen ist
seit dem letzten Zensus im Jahr 2011 um 23 Prozent angestiegen,
wie aus Zahlen des Statistischen Landesamtes hervorgeht. Die Lebenserwartung nahm immer als fände sie es verwunderlich, dass man sich für sie interessiert. Im Februar hatte sie die 100 erreicht. „Ich habe in einer Zeit gelebt, die furchtbar grausam war“, sagt sie. In Hinzistobel sei sie geboren, in ihrer Jugend mussten die Brüder in den Krieg, waren dann in Gefangenschaft. Sie hatte den heimischen Hof mit ihren Schwestern zu erhalten. „Es gab keine Maschinen, wir mussten alles von Hand machen, das war Schwerstarbeit“, sagt sie. „Ich darf nicht daran denken.“Später machte sie sich als Näherin selbstständig, nähte Blusen auf Konfektion, die unter anderem das Modehaus Bredl ihr damals abgenommen habe. Ihr erster Mann starb früh und plötzlich, sie blieb mit weiter zu. Ein neugeborener Junge kann heute in Baden-Württemberg auf eine durchschnittliche Lebenserwartung von annähernd 80 Jahren hoffen, ein neugeborenes Mädchen sogar auf rund 84 Jahre, wie das Statistische Landesamt mitteilt. Damit liege die Lebenserwartung weiblicher Neugeborener um knapp zehn Jahre und männlicher Neugeborener um elf Jahre höher als Anfang der 1970erJahre. (len) vier kleinen Kindern zurück. Sie suchte und fand einen nächsten Begleiter, mit dem sie 40 Jahre verheiratet war. „Er war Buchhalter und Organist im Nebenverdienst.“Kreszenz Reitz ist gläubig, besucht oft die Hauskapelle des Heimes, betet und singt dort. Sie sagt: „Ich habe nichts anderes vor, als dort zu sein, wo unser lieber Gott ist.“
Ebenfalls im Februar hat Charlotte Ott ihren runden Geburtstag gefeiert. Sie strahlt Freude aus bei allem, was sie sagt. „Wenn ich mich nicht freuen könnt – das wäre ja schlimm“, sagt sie. Zuletzt hatte sie ihren Spaß ebenfalls an den alten Schlagern bei der Rutenfest-Feier im Heim. „Die konnten wir noch!“Auch sie erinnert sich daran, dass früher viel miteinander gesungen wurde. Zum Beispiel im Bärengarten. „Wir waren immer lustig, bei uns hat es keinen Unfrieden gegeben“, sagt sie. Charlotte Ott litt schon als junge Frau an Multipler Sklerose, einer chronischen Erkrankung des Nervensystems. Die Abkürzung MS hat sie für sich uminterpretiert: „Machs’s selber“war ihr Motto, um sich der Krankheit nicht hinzugeben und ihr Leben mit Kindern zu meistern. „Das war richtig. Das war meine Aufgabe.“Was ihr Geheimnis für ein langes Leben ist? „Immer miteinander den Frieden halten. Dann braucht man kein Geheimnis. Dann braucht’s kein Wichtigtun.“