Eine Frage der Beinfreiheit
Die Kür von Olaf Scholz zum SPD-Kanzlerkandidaten stößt bei der Parteilinken auf Unverständnis
- Der neue Star der SPD lässt den alten den Vortritt. 15 Minuten lang steht Olaf Scholz am Montag bei der Pressekonferenz im Berliner Gasometer zwischen Norbert WalterBorjans und Saskia Esken und schweigt. Eine Viertelstunde lang loben die beiden SPD-Parteichefs abwechselnd die Erfolge der SPD, dann darf der frisch gekürte Kanzlerkandidat sprechen.
„Wir stehen hier, weil wir eine Regierung anführen wollen“, sagt der aktuelle Vizekanzler. Doch mit welchem Programm und in welcher Regierungskonstellation das sein könnte, lässt Scholz in letzter Konsequenz offen. Dabei hatten seine beiden Nebenleute erst am Wochenende für ein linkes Regierungsbündnis aus SPD, Linkspartei und Grünen getrommelt: Eine Koalition mit der Linken, wie sie Walter-Borjans ins Spiel gebracht hatte, kann sich der Finanzminister auch vorstellen – wenn sich die Linke inhaltlich bewegt: „Es hängt an den anderen, nicht an uns“, sagt Scholz. Ein Bündnis unter grüner Kanzlerschaft, wie sie sich Esken vorstellen kann, will er vermeiden. Die SPD brauche ein gutes Ergebnis, um einen „Führungsanspruch“formulieren zu können.
Die Nominierung des Finanzministers zum Ende der Sommerferien in Berlin ist inhaltlich wenig verwunderlich: Scholz gilt seit Monaten als Favorit der SPD. Die Umfragewerte des Vizekanzlers sind gut, er gilt als beliebtester SPD-Politiker. Selbst frühere Kritiker wie Juso-Chef Kevin Kühnert lobten den Minister zuletzt. Auch wenn Scholz kürzlich im Wirecard-Skandal unter Druck geraten ist, gibt es viel Lob für seine CoronaPolitik. Martin Gerster, oberschwäbischer SPD-Vize im Haushaltsausschuss des Bundestags, lobt den Minister. „Olaf Scholz macht in diesen schweren Zeiten einen echt hervorragenden Job als Finanzminister und als Vizekanzler. Ich habe größten Respekt vor seiner Arbeit. Scholz beweist Entscheidungskraft und Bereitschaft, uns aus der Krise zu führen. Gleichzeitig strahlt er Souveranität, gepaart mit einem Funken trockenem Humor aus“, sagt er der „Schwäbischen Zeitung“.
Doch zumindest zeitlich ist die Nominierung ein Coup, denn die Berliner Politszene war eigentlich von September ausgegangen. Die Sozialdemokraten wollen nach früheren Stolperstarts möglichst sortiert in den Wahlkampf zur Bundestagswahl im Herbst 2021 gehen. Scholz soll so einen klaren Vorsprung vor den Kanzlerkandidaten von Union und Grünen bekommen, und die Partei auch Zeit finden, sich hinter dem
Minister zu sammeln. Denn erst im Oktober hatte die SPD-Basis Scholz beim Rennen um den Parteivorsitz eine Niederlage verpasst – und stattdessen die eher unbekannten Parteilinken Walter-Borjans und Esken gewählt. Der Finanzminister stand damals insbesondere bei der Partelinken für ein Weiter-so in der von den Genossen ungeliebten Großen Koalition. Seit der Wahlniederlage ihres damaligen Spitzenkandidaten Peer Steinbrück ist die SPD Juniorpartner der CDU/CSU unter Kanzlerin Angela Merkel – und rutscht von Wahl zu Wahl weiter ab.
Dass Kurs und Regierungspartnerwahl zum Problem werden könnte, sieht Baden-Württembergs Landesparteichef Andreas Stoch nicht. „Es ist doch wohl selbstverständlich, dass die SPD Bündnisse jenseits der CDU anstrebt“, erklärt er. Die GroKo sei schon nach der letzten Bundestagswahl „alles andere als ein Traumziel“gewesen. Scholz habe als Hamburger Regierungschef gut mit den Grünen regiert. „Und die Linke ist ja auch längst kein Schreckgespenst mehr“, erklärt Stoch. Zudem gebe es noch andere Bündnisse – und abgerechnet werde zum
Schluss. Parteilinke wie die Ulmer Bundestagsabgeordnete Hilde Mattheis fürchten hingegen, dass die Partei alte Fehler wiederholt, in denen Kandidaten wie Steinbrück nicht zum Wahlprogramm passten. Scholz zum Kanzlerkandidaten einer nach links gerückten Partei zu machen, ist für sie „irritierend“, sagt sie der „Schwäbischen Zeitung“.
Sie erinnert an ein Zitat, das dem Physiker Albert Einstein zugeschrieben wird. Der gebürtige Ulmer soll erklärt haben, dass es Wahnsinn sei, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.