Immerwährender Kampf gegen die Sucht
Allgäuerin ringt seit Jahrzehnten mit Abhängigkeit – Wie sie den Ausstieg schaffen will
- „Ich glaube, dass bei vielen der Kopf still sein soll“, erklärt Annika Schneider (Name geändert), weshalb Menschen Drogen nehmen. Einige griffen nur manchmal zu Suchtmitteln, andere würden abhängig. Die Allgäuerin selbst ist „polytox“. Das heißt, sie ist von mehreren Stoffen abhängig. Dazu zählen unter anderem Marihuana, LSD, Ecstasy und Alkohol.
Vor vier Jahren hat Schneider, die in ihren Vierzigern ist, ihren Partner tot in der Wohnung vorgefunden. Er hatte eine Überdosis genommen. Auch diese Erfahrung hat der Allgäuerin einen Schub Richtung drogenfreies Leben gegeben: „Ich dachte, das kann ich niemandem antun, dass er mich so findet.“Seit zwei Jahren sei sie laut eigener Aussage symptomfrei und auf dem Weg der Besserung, hat jedoch auch Rückfälle gehabt.
„Abhängigkeit ist eine chronische Erkrankung, das hat man sein Leben lang“, erklärt Schneider. Angefangen hat die Allgäuerin, als sie 14 Jahre alt war – damals mit Marihuana. Zudem entwickelte sie Essstörungen wie Bulimie und Magersucht (diese zählen auch in das Suchtspektrum). Die erste Therapie machte Schneider, als sie 18 war. Gründe für ihre Krankheit sieht sie vor allem in ihrer familiären Geschichte. So sei die Situation zu Hause schwierig gewesen, Verwandte hätten bereits zu viel Alkohol getrunken. Hinzu kommt ein Missbrauch, der sie bis heute begleitet.
Die Sucht war nicht nur für Schneiders Gesundheit insgesamt schädlich, sondern hat in manchen
Situationen gar zu akuter Lebensgefahr geführt. So ist sie einmal betrunken schwimmen gegangen, weil sie in ihrem Zustand nicht zu ihrem Partner nach Hause zurückkehren wollte. Sie zog eine Stunde lang Runden in einem See, um sich auszunüchtern. Passanten sahen sie und verständigten die Polizei. Einsatzkräfte vom Technischen Hilfswerk haben Schneider schließlich unterkühlt und am Ende ihrer Kräfte aus dem Wasser gezogen. „Ich bin auf der Intensivstation aufgewacht und wusste nicht mehr, was passiert war“, erinnert sie sich an das Ende des gefährlichen Abenteuers.
Schneider war, während sie aktiv abhängig war, abwechselnd beschäftigt und arbeitslos. Da ihre Einkünfte für den Drogenkonsum nicht reichten, hat sie im Lauf der Jahre zudem Schulden angehäuft. Zudem verlor sie Freunde, die ebenfalls süchtig waren und daran starben. Inzwischen pflegt sie zu ihren früheren Freunden, welche abhängig waren, keinen Kontakt mehr.
Während des Shutdowns haben die Bürger deutlich mehr Alkohol als gewöhnlich getrunken, sagt Natali Bayer, Leiterin der Kemptener Suchtfachambulanz und des Talk Inns (beide von der Caritas).
Fünf Drogentote gab es 2019 in Kempten offiziell. Die Dunkelziffer schätzt Bayer um einiges höher ein. Manche Abhängige würden zum Beispiel an multiplem Organversagen sterben, was an dem langen Rauschmittelkonsum liege, jedoch nicht bei den Drogentoten
Rückfälle, so Schneider, seien auf dem Weg zur Genesung oft programmiert. „Damit ist der Kampf nicht verloren. Der Kampf ist nie verloren“, stellt die Allgäuerin klar. Auf dem Weg zum dauerhaften drogenfreien Leben helfen ihr die Kemptener Suchtfachambulanz und eine Therapie. Bei der Ambulanz seien besonders die Einzelgespräche hilfreich: „Sie helfen mir, nicht zu vergessen, dass ich nicht nur eine Süchtige bin. Da ist noch viel mehr Gutes – zum Beispiel mein Talent für Kalligrafie – in mir“, sagt Schneider. Auch ihre Mutter war ihr lebenslang eine wichtige Stütze.
Zudem hat Schneider eine Kämpfernatur: „Ich habe nie aufgegeben, an mir zu arbeiten“, erklärt sie. Deshalb könne sie heute auch mit schwierigen Situationen anders umgehen und greife dann nicht, wie früher, zu Rauschmitteln.
Als schlimmste Droge bezeichnet Schneider den Alkohol: Wenn sie den getrunken habe, habe sie viel mehr die Kontrolle verloren, als das eingeordnet werde. Droge Nummer eins ist laut Bayer weiterhin der Alkohol. „Das ist kulturell bedingt, auch hier in Bayern“, sagt Bayer. „Die Erkrankung ist chronisch und bleibt ein Leben lang“, erklärt Bayer. Sucht, sagt sie, könne jeden treffen. Sie fange oft schon im Jugendalter an. Oftmals hätten Süchtige nicht gelernt, für sich selbst zu sorgen. Vielen vermeintlich integrierten Menschen sehe man gar nicht an, dass sie suchtkrank sind. Diese versuchten oft bei anderen Drogen der Fall gewesen wäre. Ein weiteres Problem: Alkohol ist für jeden über 18 frei zugänglich.
Ohne nachzudenken beantwortet Schneider die Frage, was sie künftig unternehmen wird, damit sie drogenfrei bleibt: „Einen Hund anschaffen!“Sie ist Tierliebhaberin und weiß, dass sie sich um den Hund kümmern müsste. „Da bin ich dann verantwortlich und kann mich nicht mehr hängen lassen“, erklärt Schneider. Ein weiterer Traum der Allgäuerin: Eine Einrichtung für Mehrfachabhängige mit einer Suchtberaterin aufbauen, zum Beispiel auf einem Bauernhof.
Schneiders Nachricht an Menschen, die keine Erfahrung im Umgang mit Suchtkranken haben: „Schließt die Menschen nicht aus, die krank sind. Tut sie nicht als faul oder schwach ab.“Keiner verhalte sich direkt so, doch trotzdem spürte sie es. „Hätten sie mein Leben gelebt, wüssten sie, dass ich das Gegenteil von faul und schwach bin.“ lange, alleine mit ihrer Krankheit klarzukommen. Bayer schätzt, dass 30 Prozent es schaffen, dauerhaft die Sucht zu besiegen. Auf dem Vormarsch seien momentan Mediensucht, Onlinespielsucht und Internetpornografie. Abhängige, Angehörige oder Kollegen von Menschen mit einem Suchtproblem können sich jederzeit bei der Suchtfachambulanz melden. (nr)
Informationen momentan nur telefonisch unter 0831 / 25019.