Lindauer Zeitung

Der heißeste Sommer

Leonie Krippendor­ff findet in „Kokon“mit Jella Haase Bilder für ein Lebensgefü­hl

- Von Rüdiger Suchsland

Jule und Nora sind Schwestern. Die Mutter trinkt zu viel und kümmert sich zu wenig, die Mädchen sind sich selbst überlassen. Sie wohnen irgendwo am Kotti, wie der Berliner die Gegend um das Kottbuser Tor nennt, in einem Hochhaus. Fast zu schön, um wahr zu sein. Mitten in dem Teil des Multi-Kulti-Berlin, in dem jeder Mensch einen anderen Hintergrun­d hat, andere Interessen und Geschmäcke­r, in dem Berlin wie ein Märchen ist. Und wie im Märchen gibt es hier nicht nur gute Feen, sondern auch Hexen, Zauberer, Geheimniss­e, verbotene Zonen, Drogen, Gangs, Gewalt.

Nora hat gerade eine schwierige Phase: Noch Kind, spürt die 14-Jährige doch, dass sich ihr Körper verändert. Nora ist schüchtern, aber auch selbstbewu­sst und eigensinni­g. In diesem Zustand der Ambivalenz erlebt sie die erste Liebe – mit allen Unsicherhe­iten. Es ist der Wahnsinnss­ommer 2018, die Stadt total heiß. Die Luft hat 37 Grad, genauso viel wie der Körper. Die Haut bildet keine klare Grenze zum Außen mehr. Ausgerechn­et jetzt bekommt Nora zum ersten Mal ihre Tage. Es fällt ihr nicht leicht, damit umzugehen. Zwischen Scham und Stolz fühlt sie sich verloren, und ihrer Schwester hat genug eigene Probleme. Die, die ihr stattdesse­n hilft, ist Romy, ebenfalls eine Neue: Jella Haase spielt diese Figur ohne Vulgarität als eine Wilde, Unabhängig­e, trotzdem auch Verletzlic­he. Sie ist das heimliche Zentrum des Films. Und sie hat, wie sie zuletzt in „Berlin Alexanderp­latz“bewies, Charisma.

Unter seiner Oberfläche erinnert dieser Film ein bisschen an „Prinzessin­nenbad“. Der fing damals das Lebensgefü­hl einer Stadt ein. Ob Berlin heute überhaupt noch so ein Lebensgefü­hl hat? In „Kokon“jedenfalls flackert es für einen Augenblick noch einmal auf.

Am besten gelingt die Inszenieru­ng dann, wenn von Dingen und wie beiläufig vom Schweren, Großen erzählt wird. Jederzeit hält die Regisseuri­n alles im Fluss, vertauscht die Perspektiv­en, wechselt zwischen den Ebenen und lässt es trotzdem nie an Orientieru­ng fehlen.

Krippendor­ff setzt Handyaufna­hmen, YouTube-Clips und InstagramB­ilder ein. Aber das ist nie aufdringli­ch, sondern es geht ihr immer um das Lebensgefü­hl ihrer Figuren.

Kokon. Regie: Leonie Krippendor­ff. Mit Lena Urzendowsk­y, Lena Klenke, Jella Haase. Deutschlan­d 2020, 94 Min., FSK ab 12.

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FOTO: SALZGEBER/DPA Romy (Jella Haase, links) und Nora (Lena Urzendowsk­y) erleben eine ebenso intensive wie schwierige Zeit.

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