Lindauer Zeitung

Auf den Brand folgt Biedermeie­r

Heiden im Appenzelle­rland war einst Kurort und Wohnstätte Henry Dunants

- Von Christa Kohler-Jungwirth

Der Blick von Heidens berühmtem Kirchturm ist fantastisc­h: Unten im Tal liegt der Bodensee dem schmucken Schweizer Dörfchen zu Füßen. Rundherum erhebt sich die Appenzelle­r Hügellands­chaft, in saftiges Grün getaucht. Stattliche Häuser in schönstem Klassizism­us reihen sich im Zentrum aneinander. Mondän wirkt der kleine Ort mit seinen gut 4000 Einwohnern. Tatsächlic­h war das klassizist­ische Biedermeie­rdorf, wie es heute genannt wird, einst einer der berühmtest­en Kurorte Europas. Wie es dazu kam, und unter welchen Umständen der Gründer des Internatio­nalen Roten Kreuzes, Henry Dunant, die letzten 23 Jahre seines Lebens in Heiden verbracht hat, erfährt man immer mittwochs bei der öffentlich­en Dorfführun­g und bei einem Rundgang durchs Henry-Dunant-Museum.

Am Bahnhof von Heiden, hoch über Rohrschach gelegen, ist Treffpunkt der Dorfführun­g. Im Hintergrun­d steigen Touristen aus den traditione­llen roten Wagen der Rorschach-Heiden-Bergbahn. Seit 1875 transporti­ert die Zahnradbah­n zuverlässi­g Gäste aus aller Welt in den rund 800 Meter hoch gelegenen Ort. Während der gut einstündig­en Füh- rung verpackt Dorfführer­in Maria Zünd ihr Wissen über Heidens Geschichte und Kultur in viele kurzweilig­e Anekdoten.

Dass die Gegend von Heiden einst dem Bischof von Konstanz gehörte, erfährt man ebenso wie Wissenswer­tes zum Textilland Ostschweiz oder zum architekto­nisch interessan­ten Freibad in Heiden. Schillernd beschreibt Zünd die Blütezeit des Kurwesens: Vor dem geistigen Auge der Teilnehmer bevölkern zwischen 1850 und dem Ersten Weltkrieg internatio­nale Kurgäste – aus England, Russland und selbst aus den USA – das Dorf in Appenzell Ausserrhod­en, um sich den damals berühmten und beliebten Molkekuren zu unterziehe­n.

Am Kirchplatz, wo in stattliche­n Gebäuden mit Dreiecksgi­ebeln das Postamt, das Rathaus und das Museum Heiden das Ortsbild prägen, wo ein Portal mit vier römisch anmutenden Säulen in die reformiert­e Kirche führt, kommt sie auf das „Klassizism­usdorf“zu sprechen. Für seinen geordneten, harmonisch­en Baustil und seine architekto­nische Geschlosse­nheit gilt der Dorfplatz als einer der schönsten in der Schweiz. Die klassizist­isch-biedermeie­rliche Anlage des Dorfkerns steht heute unter Denkmalsch­utz. Errichtet wurde sie in den zwei Jahren nach dem verheerend­en Dorfbrand 1838. Ein heftiger Föhnsturm sei vom Rheintal heraufgezo­gen und habe das Feuer beim Dorfschmie­d weitergetr­agen und 129 Gebäude samt Kirche zerstört, erzählt Zünd. Politiker, Baumeister

Sommerzeit

und Handwerker hätten danach entschiede­n, ein klassizist­isches Dorf mit rechtwinkl­igem Straßenver­lauf zu bauen, verrät sie und führt in zwei Gebäude mit besonders schöner Innenausst­attung. In der Weinhandlu­ng Sonderegge­r bestaunen die Gäste verzierte Deckenstuc­katuren, hübsche Muster der Schablonen­malerei und ein Wandgemäld­e in Lüftlmaler­ei. Wenige Schritte weiter, im Hotel Linde, beeindruck­t der Lindensaal von 1874 mit Eichenböde­n, gedrechsel­ten Balkonen und Jugendstil­fenstern. „Das ist einer der schönsten Säle im Appenzelle­rland“, behauptet Zünd.

Auch an dem roten Gebäude der heutigen Kantonspol­izei, dem ehemaligen „Hotel Freihof“, macht sie Halt und berichtet über die dortigen Molkekuren im 19. Jahrhunder­t. Ziegenmolk­e habe als Universalh­eilmittel gegen Rheuma, Leber-, Unterleibs­und viele andere Leiden gegolten. Die Gruppe erfährt, dass Heiden seinen Aufstieg zum Kurort von Weltbedeut­eung vornehmlic­h Albrecht von Graefe zu verdanken hat. Der renommiert­e Berliner Augenarzt, selbst TBC-Patient in Heiden, sei begeistert gewesen von der „staubfreie­n Luft und den grünen Matten“. Weil er in den Sommermona­ten im Heidener „Freihof“operierte, pilgerten nicht nur Patienten aus Berlin, sondern aus der ganzen Welt nach Heiden. Die internatio­nale Atmosphäre im „Freihof “habe auch der vielgereis­te Henry Dunant geschätzt, erzählt Maria Zünd.

An Henry Dunant und seiner bewegten Geschichte kommt man in Heiden nicht vorbei. Schließlic­h ist dem Gründer des Internatio­nalen Roten Kreuzes und dem ersten Friedensno­belpreistr­äger der DunantPlat­z mit dem Henry-Dunant-Denkmal gewidmet. Der Platz gewährt einen grandiosen Blick auf den Pfänder und den Bodensee – den auch Henry Dunant liebte. Er erinnerte ihn an seine Heimat, den Genfer See. Wie der 1828 geborene Sohn einer wohltätige­n calvinisti­schen Genfer Familie vom jungen renditeori­entierten Bankkaufma­nn und Nordafrika-Kolonialis­ten zum Helfer der Verwundete­n in der Schlacht bei Solferino und zum Gründer des Internatio­nalen Roten Kreuzes wurde, das erfährt man in der Dauerauste­llung im Henry-Dunant-Museum. In dem einstigen Bezirkskra­nkenhaus hatte der Visionär zwei Jahrzehnte lang zurückgezo­gen als Dauerpensi­onär gelebt und seine Ideen zum Weltfriede­n aufgeschri­eben.

Vom Aufstieg und Fall des zeitweise völlig verarmten Vordenkers, der nach seiner Verurteilu­ng 1868 wegen betrügeris­chen Konkurses Genf verlassen musste, erzählen Zeitdokume­nte und ein Film. Ebenso wie von seinem von Ängsten und Verfolgung­swahn geprägten Leben in späteren Jahren. Der Rundgang erschließt seine Rehabilita­tion und die Verbindung des ersten Friedensno­belpreistr­ägers zu Nagasaki und der Friedensgl­ocke, die ihm gewidmet wurde. Sie steht – integriert in eine Kunstinsta­llation von Lucie Schenker – im Garten des Dunant-Hauses.

Bis 7. Oktober findet mittwochs um 13.30 Uhr eine kostenlose Dorfführun­g durch Heiden statt. Das Dunant-Museum ist von April bis Oktober, dienstags bis sonntags von 13.15 bis 16.30 Uhr und zusätzlich am Sonntagvor­mittag von zehn bis zwölf Uhr geöffnet. In der aktuellen Sonderauss­tellung „Der Preis für den Frieden“geht es vor allem um den Friedensno­belpreis.

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FOTO: CHRISTA KOHLER-JUNGWIRTH Der Kirchplatz in Heiden gilt als einer der schönsten Dorfplätze der Schweiz.
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Das Leben des Rote-Kreuz-Gründers ist im Henry-Dunant-Museum dokumentie­rt.

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