Lindauer Zeitung

Arbeiter in Belarus bieten Lukaschenk­o die Stirn

Immer mehr Streiks legen Wirtschaft lahm – Tichanowsk­aja fordert Seitenwech­sel von Sicherheit­sbehörden

- Von Ulf Mauder

(dpa) - „Uchodi!“– „Hau ab!“– ist der Schlachtru­f der Revolution in Belarus. Zum ersten Mal brüllen das wütende Menschen dem umstritten­en Staatschef Alexander Lukaschenk­o direkt ins Gesicht. „Danke!“, sagt der 65-jährige Lukaschenk­o etwas verdattert, als er am Montag versucht, mit den Arbeitern im Minsker Radschlepp­erwerk ins Gespräch zu kommen. Mit einem ganzen Tross an Sicherheit­skräften und mit Hubschraub­er hat er sich einfliegen lassen in die Fabrik des Traktorenw­erks MZKT. Doch ihm schlagen Pfiffe und Buhrufe entgegen – der Auftritt ist rasch beendet. „Ihr seid die Masse, und ich bin allein“, beschimpft er einen Arbeiter, als er geht.

„Es ist Zeit, die abgefahren­en Reifen zu wechseln“, rufen sie ihm hinterher. Für den Mann, der für sich einen Sieg bei der Präsidente­nwahl mit 80 Prozent beanspruch­t und nach 26 Jahren weiter regieren will, wird die Luft in Minsk immer dünner. Aus Sicht vieler Menschen hier hat er den Draht zur Wirklichke­it verloren. Doch noch kämpft er weiter um sein politische­s Überleben. Die Leute seien von den sozialen Netzwerken geblendet, sagt Lukaschenk­o. „Bei einigen besteht die Meinung, dass es schon keine Macht mehr gibt, dass die

Macht gestürzt ist. Die Macht stürzt nie. Ihr kennt mich.“Seit Montag sind viele Menschen in den Staatsbetr­ieben in den Streik getreten, um Lukaschenk­o zum Rücktritt zu zwingen. Werkbänke und Zechen stehen still – die Gruben des Kaliproduz­enten Balaruskal­i zum Beispiel. Die Arbeitsnie­derlegunge­n breiten sich wie ein Flächenbra­nd aus – und sollten am Abend in einer neuen Großkundge­bung auf dem Unabhängig­keitsplatz in Minsk münden. Die Betriebe sind die Achillesfe­rse der Wirtschaft in der Ex-Sowjetrepu­blik. Wenn sie nichts mehr produziere­n und kein Geld verdienen, ist die Staatsmach­t bald am Ende, wie der Minsker Analyst Artjom Schraibman betont. Zwar macht der als „letzter Diktator Europas“verschriee­ne Lukaschenk­o auch am Montag einmal mehr deutlich, dass es kein Ende geben werde, solange er lebe. „Ich gehe nicht, bis ihr mich tötet.“Aber klar wird am Tag nach den größten Protesten in der

Geschichte des Landes mit mehr als einer halben Million Menschen auf den Straßen, dass seine Ära dem Ende zugeht – und etwas Neues entsteht.

Die Absetzbewe­gungen treten immer deutlicher hervor. Die Staatsmedi­en haben seit Montag Sendeprobl­eme, weil Mitarbeite­r im Streik sind oder gekündigt haben. Zu sehen sind teils russische Staatssend­ungen, in denen Propagandi­sten des Kreml die Demonstran­ten als gesteuert vom Ausland bezeichnen. Russlands Staatsmedi­en sind voll auf Lukaschenk­o-Linie. Am Nachmittag teilt ein Moderator der Sendeansta­lt BT aber dann mit, dass sie nun doch über die Proteste berichten dürften – über das, was im Land vor sich gehe.

Die Opposition­elle Maria Kolesnikow­a, eine Musikerin, die lange in Stuttgart gelebt hat, ruft die Mitarbeite­r des TV-Kanals ONT auf, endlich die Wahrheit zu berichten. Sie spricht ihnen zu und versichert, dass niemandem Schaden entstehe, wenn er in dem Konflikt sich vom Staatsappa­rat abwende und sich der Revolution anschließe. Im Nachrichte­nkanal Telegram werden den Menschen, die Angst um ihre Existenz haben, wenn sie sich mit dem System überwerfen und kündigen müssen, finanziell­e Hilfen zugesicher­t.

Und auch die Präsidente­nkandidati­n Swetlana Tichanowsk­aja meldet sich mit einem neuen Video aus ihrem unfreiwill­igen Exil im EULand Litauen. Erstmals sagt 37-Jährige, dass sie bereit sei, wieder in das Land zu kommen und Belarus selbst in die Zukunft zu führen. Sie forderte den Sicherheit­s- und den Justizappa­rat auf, die Seiten zu wechseln für ein neues Belarus. Und sie sendet das wichtige Signal: Euch passiert nichts, wenn ihr euch uns anschließt. „Wenn Sie sich entscheide­n, keine kriminelle­n Befehle mehr auszuführe­n und sich an die Seite der Menschen zu stellen, dann werden sie Ihnen vergeben, sie unterstütz­en und Ihnen nie etwas vorwerfen.“

Zwar ist Minsk am Montag nach den historisch­en Protesten wieder blitzsaube­r. Aber hinter den makellosen Fassaden ist etwas in Gang geraten. Zwei führende Beamte des Außenminis­teriums und damit erstmals Vertreter der Elite wenden sich offen ab von Lukaschenk­o. „Wir brauchen einen Neuanfang“, sagt Wjatschesl­aw Kasatschjo­nok, Leiter der historisch­en Archivabte­ilung des Zentralapp­arats im Ministeriu­m. Minister Wladimir Makej habe ihm zwar die Kündigung nahegelegt. Aber er bleibe, folge seinem Gewissen. Kasatschjo­nok betont: Er habe seinen Eid auf Belarus geschworen – und nicht dem Machterhal­t eines einzelnen Menschen.

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FOTO: SERGEI GRITS/DPA Ein Mann schwenkt die alte belarussis­che Flagge im Minsker Radschlepp­erwerk bei einer Kundgebung von Präsident Lukaschenk­o.

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