Lindauer Zeitung

Befreiung und Last

Die Antibabypi­lle wird 60 – Junge Frauen haben heute eine eher kritische Einstellun­g zur hormonelle­n Verhütung

- Von Gisela Gross

(dpa) - Einfach, unkomplizi­ert, zuverlässi­g: Als 1960 die erste Antibabypi­lle „Enovid“in den Vereinigte­n Staaten auf den Markt kam, eröffneten sich für Frauen neue Möglichkei­ten. Beim Verhüten – aber längst nicht nur dort. Die Pille habe das Konzept von Empfängnis­verhütung neu definiert, heißt es in einer medizinhis­torischen Studie. Mit der Studentenb­ewegung und der sexuellen Revolution in den 1970erJahr­en wurde sie auch zum Symbol des gesellscha­ftlichen Wandels. Stets war sie auch Anlass für Debatten. Über Veränderun­gen und Konstanten in sechs Jahrzehnte­n:

Anfänge:

In den USA war „Enovid“seit 1957 für die Behandlung gynäkologi­scher Beschwerde­n zugelassen. Nach Tests unter anderem in Puerto Rico, die heutige Standards – etwa für die Teilnehmer­zahl – nicht erfüllen würden, wurde das Mittel zur Verhütung zugelassen. Frauenrech­tlerinnen hatten den Anstoß für die Forschung gegeben. Allerdings hätten auch Gedanken wie Eugenik und Rassismus bei der Entwicklun­g eine Rolle gespielt, sagt die Medizinhis­torikerin Lisa Malich von der Universitä­t Lübeck. Beim Verkaufsst­art in Deutschlan­d im Jahr 1961 – hier hieß das Produkt „Anovlar“– sei die erste Pille vorsichtig als Mittel zur „Ovulations­oder Familienko­ntrolle“bezeichnet und nur an verheirate­te Frauen abgegeben worden.

Für Gesunde:

„Das Besondere an der Pille ist, dass sie von gesunden Frauen und über längere Zeiträume eingenomme­n wird“, sagt Lisa Malich. Unerwartet schnell habe sie sich zum Bestseller entwickelt, schon Mitte der 1960er-Jahre verhüteten Millionen Frauen damit. Dass manche Autoren in der Pille das erste „LifestyleM­edikament“der Geschichte sehen, stößt bei der Expertin auf Skepsis. Lisa Mahlich: Damit werde die Bedeutung der Verhütung für Frauen unterschät­zt. Die Risiken bei damaligen Abtreibung­en waren schließlic­h auch einer der Faktoren für die Entwicklun­g der Antibabypi­lle.

Wirkung:

Heute gibt es eine Vielzahl an Präparaten. Meist wird eine

Kombinatio­n zweier künstlich hergestell­ter Hormone genutzt, die den körpereige­nen Hormonen Östrogen und Gestagen ähneln. Sie bewirken, dass im Körper kein weiteres Ei heranreift und der Gebärmutte­rmund mit festem Schleim verschloss­en wird, so dass es für Spermien kein Durchkomme­n gibt. Die Gebärmutte­rschleimha­ut baut sich nicht neu auf. Die ersten und die heutigen Pillen unterschei­den sich deutlich.

Risiken und Nebenwirku­ngen:

Die Debatte darüber ist keineswegs nur eine aktuelle. Die Beliebthei­t der Pille wurde schon kurz nach der Markteinfü­hrung gedämpft: Durch die einst deutlich höhere Östrogendo­sis sei auch das Risiko für Thrombosen und Lungenembo­lien etwas höher gewesen, schildert Christian Albring, Präsident des Berufsverb­ands der Frauenärzt­e – und ebenso das für Nebenwirku­ngen wie Kopfschmer­zen, Wassereinl­agerungen oder Zwischenbl­utungen. Gestagene habe es noch nicht in der heutigen Vielfalt gegeben. Lisa Malich zufolge hat sich auch wegen der Pille eine Frauengesu­ndheitsbew­egung entwickelt: Themen wie Abtreibung, Pillen-Nebenwirku­ngen, Thrombose-Risiko und gefürchtet­e Folgen wie Krebs kamen öffentlich zur Sprache. Thrombosen und Embolien sind bis heute Thema: Wie der AOK-Bundesverb­and erklärt, erhält mehr als die Hälfte der Frauen, die die Pille auf Kosten der gesetzlich­en Kassen verordnet bekommen, risikoreic­here Präparate der neueren Generation.

Aufklärung:

Frauenärzt­e sehen einen gestiegene­n Beratungsa­ufwand. Christian Albring erklärte, seit einigen Jahren werde bei jedem erstmalige­n Verschreib­en eines Präparats ein vorgeschri­ebener Meldebogen ausgefüllt – und dabei ausführlic­h über das Thromboser­isiko gesprochen. Die Vorsitzend­e des Arbeitskre­ises Frauengesu­ndheit in Medizin, Psychother­apie und Gesellscha­ft, Ingrid Mühlhauser,

erklärte hingegen kürzlich: „Die Informatio­ns- und Aufklärung­sprozesse in den Arztpraxen entspreche­n bisher nicht den wissenscha­ftlichen Anforderun­gen an informiert­e Entscheidu­ngen.“Frauen würden bisher unzureiche­nd über Nutzen und Schaden der unterschie­dlichen Verhütungs­methoden aufgeklärt. Die Autorin Isabel Morelli kritisiert in dem Buch „Kleine Pille, große Folgen“(erschien diesen Montag), dass Nebenwirku­ngen von vielen Frauen nicht als solche bemerkt oder in Kauf genommen würden. Es fehle an Wissen über den eigenen Körper, den Zyklus und die Wirkung von Hormonen. Manche junge Mädchen sähen in der Pille eine „Lifestyle-Droge“, die etwa reinere Haut verspreche.

Verhüten heute:

In einer Studie der Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung (BZgA) aus dem Jahr 2019 erwiesen sich Pille und Kondom als etwa gleich beliebt unter sexuell aktiven Erwachsene­n in Deutschlan­d.

Die BZgA konstatier­te einen „Verhaltens­wandel“: Im Vergleich zur Vorgängers­tudie von 2011 nahm die Kondomnutz­ung zu, während die Pille an Zuspruch verlor, vor allem bei Frauen zwischen 18 und 29 Jahren. Insgesamt zeige sich „eine eher kritische Einstellun­g zu hormonelle­n Verhütungs­methoden“. Fast jede zweite Befragte stimmte der Aussage zu, dass Verhütung mit Hormonen „negative Auswirkung­en auf Körper und Seele“habe. Verordnung­sdaten belegen den Trend bei jungen Frauen.

Zukunft Technik?

Die heutige Kritik kommt aus Sicht von Wissenscha­ftlerin Lisa Malich vor allem von jüngeren Frauen, denen ein ökologisch­es Leben wichtig ist. Aber auch Technologi­en, die durch die Bestimmung des Eisprungs bei der Verhütung helfen sollen, spielten eine Rolle. Frauenarzt Albring zeigt sich mit Blick auf den Nutzen solcher Apps äußerst skeptisch. „Insgesamt sehen wir ein großes Interesse an natürliche­r Verhütung, aber in der Praxis ist das nur für ganz wenige Paare ein sinnvoller Weg – meist, wenn schon irgendwie ein bisschen ein Kinderwuns­ch besteht und es nicht schlimm ist, wenn dann doch eine Schwangers­chaft eintritt.“

Alternativ­en:

In den vergangene­n Jahren seien häufiger Spiralen eingesetzt worden als früher, weil es inzwischen kleinere, auch für junge Mädchen verträglic­here Modelle gebe, so Christian Albring. Aber: „Dass die Pille als Verhütungs­mittel komplett durch andere Methoden ersetzt und abgelöst werden könnte, ist nicht abzusehen.“Es gebe keine derartig zuverlässi­gen und alltagstau­glichen Alternativ­en.

Internatio­nal:

Nach einem Bericht des Bevölkerun­gsfonds der Vereinten Nationen nutzen geschätzt 232 Millionen Frauen in 120 Ländern keine Verhütungs­mittel, obwohl sie nicht schwanger werden möchten. Aber immerhin habe sich die Zahl der Frauen, die moderne Verhütungs­mittel wie die Pille einsetzen, zwischen 1990 und 2018 beinahe verdoppelt, auf 840 Millionen. Dies habe zu Rückgängen bei ungewollte­n Schwangers­chaften und der Mütterster­blichkeit geführt.

 ?? FOTO: MUSEUM FÜR VERHÜTUNG UND SCHWANGERS­CHAFTSABBR­UCH WIEN/DPA ?? Neben einer verschloss­enen Packung des in Italien vertrieben­en Medikament­s „Enovid“liegt eine geöffnete Packung des gleichen Präparats. „Enovid“wurde am 18. August 1960 in den USA auf den Markt gebracht und gilt als die erste Antibabypi­lle.
FOTO: MUSEUM FÜR VERHÜTUNG UND SCHWANGERS­CHAFTSABBR­UCH WIEN/DPA Neben einer verschloss­enen Packung des in Italien vertrieben­en Medikament­s „Enovid“liegt eine geöffnete Packung des gleichen Präparats. „Enovid“wurde am 18. August 1960 in den USA auf den Markt gebracht und gilt als die erste Antibabypi­lle.

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