Gift für den Gegner
Kreml-Kritiker Alexei Nawalny liegt im Koma – Viele Russen halten einen Anschlag für wahrscheinlich
- Der russische Regierungskritiker Alexei Nawalny liegt im Koma. Viele Russen glauben, er sei Opfer eines politisch motivierten Giftanschlages geworden. Während eines Fluges am Donnerstag wurde Nawalny schlecht, er begann zu schwitzen, bat seine Pressesprecherin Kira Jarmysch um ein Taschentuch. Man bot ihm Wasser an, er lehnte ab, sagte, er müsse wohl auf die Toilette gehen. Dort verlor er das Bewusstsein.
Nach einer Notlandung in Omsk wurde er auf eine Intensivstation im Notfallkrankenhaus Nr. 1. gebracht, wo er ins Koma fiel. Ein leitender Arzt sagte vor Journalisten, seine Kollegen seien damit beschäftigt, Nawalnys Leben zu retten.
Nawalnys Zustand sei schwierig, aber stabil. Der Arzt wollte sich nicht auf eine Vergiftung als Ursache für Nawalnys Kollaps festlegen. Dagegen twitterte Jarmysch: „Alexei ist mit etwas vergiftet worden, das man ihm in den Tee geschüttet hat. Das ist das Einzige, was er am Morgen getrunken hat.“Auch viele Oppositionelle und unabhängige Medien glauben an einen politisch motivierten Giftanschlag auf Nawalny.
Nawalny, Moskauer Rechtsanwalt, Blogger und nationalliberaler Politiker, ist der vielleicht einflussreichste Regierungsgegner Russlands. Die von ihm gegründete „Stiftung zur Korruptionsbekämpfung“ermittelt seit 2011 gegen Bestechlichkeit im Staatsapparat, Nawalny organisierte 2017 eine landesweite Welle von Protesten, der 1,88-Mann gilt als rotes Tuch für den Kreml. Dreimal verurteilten ihn russische Gerichte wegen angeblicher Wirtschaftsdelikte zu Bewährungsstrafen. Es gilt als offenes Geheimnis, dass diese Urteile dazu dienten, Nawalnys Kandidatur bei Präsidentschaftswahlen unmöglich zu machen.
Immer wieder saß der 44-Jährige Ordnungsstrafen wegen nicht genehmigter Kundgebungen ab. Vergangenes Jahr kam er mit schweren allergischen Symptomen aus einer Arrestzelle in ein Moskauer Krankenhaus,
seine Mitstreiter sprachen von einer Vergiftung, die Ursache ist bis heute ungeklärt.
Jetzt gilt ein Giftanschlag in liberalen Moskauer Kreisen als sicher. „Man kann sich schwer vorstellen, dass hinter dem gesundheitlichen Absturz eines jungen, gesunden, sportlichen und aus gutem Grund vorsichtigen Mannes etwas anderes steht als ein Verbrechen“, sagt der Menschenrechtler Sergei Dawidis der „Schwäbischen Zeitung“. „Bei der totalen staatlichen Kontrolle, unter der Nawalny steht, ist es auch schwer vorstellbar, dass das jemand ohne Unterstützung des Staates gelungen ist.“
Laut Jarmysch hatte Nawalny gestern nichts zu sich genommen, außer einer Tasse schwarzen Tees in einem Tomsker Flughafencafé. Tatsächlich wäre es ohne genaue Informationen über Nawalnys Reiseroute und ohne freien Zugang zur Küche kaum möglich gewesen, etwas in diesen Tee zu schütten.
Mehrere anonyme MessengerKanäle dagegen behaupteten, auch Alkohol in Verbindung mit bestimmten Medikamenten könnte Nawalnys Vergiftungserscheinungen hervorgerufen haben. Laut dem TelegramKanal Life Shot hatte Nawalny am Vorabend im Dorf Kaftantschikow bis zwei Uhr nachts gezecht. Und die Ärzte in Omsk sollen 0,2 Promille Alkohol in seinem Blut gemessen haben. Jarmysch dementiert das: Nawalny habe weder getrunken noch Tabletten geschluckt. Der TelegramKanal Baza vermutet unter Berufung auf Ärzte, Nawalny sei mit den K.o.Tropfen Natriumoxibuturat vergiftet worden, was der Drogenarzt Erken Imanbajew gegenüber der Zeitung „Kommersant“aber als wenig wahrscheinlich bezeichnete. Nawalny wollte am Donnerstag nach Besuchen
in Nowosibirsk und Tomsk nach Moskau zurückkehren. Wie das Portal tayga.info schreibt, traf er in Sibirien Mitarbeiter seiner örtlichen Stäbe, in Nowosibirsk soll er auch Material für neue Enthüllungen über Abgeordnete der Staatspartei „Einiges Russland“gesammelt haben. Laut Jarmysch wurden er und seine Begleiter in Nowosibirsk demonstrativ beschattet, in Tomsk dagegen nicht. In den Gebieten Nowosibirsk und Tomsk finden Mitte September Kommunal- und Regionalwahlen statt, wie in über 30 anderen Teilen Russlands. Auch unabhängige Kandidaten, die von Nawalny unterstützt werden, nehmen teil.
Pressesprecherin Jarmysch glaubt, Nawalnys Vergiftung stehe im Zusammenhang mit diesen Wahlen. „Nawalnys Vergiftung ist keine Rache“, schreibt auch der oppositionelle Schriftsteller Viktor Schenderowitsch,
„sondern Zweckmäßigkeit, wie diese Leute sie verstehen.“Die Machthaber im Kreml wollten ihren Widersacher Nawalny vor den Septemberwahlen ausschalten, um Massenproteste wie zuletzt in Chabarowsk zu vermeiden. Kremlsprecher Dmitri Peskow dagegen versicherte, er wünsche Nawalny eine möglichst schnelle Genesung „wie jedem Bürger unseres Landes“. Sollte sich die Vergiftung bestätigen, würden die Rechtsschutzorgane ermitteln.
„Es ist keinesfalls sicher, dass Wladimir Putin den Befehl gegeben hat, Nawalny zu vergiften“, sagt Menschenrechtler Dawidis. „Aber es ist durchaus möglich, dass eine staatsnahe Figur oder Korporation beschlossen hat, gründlich mit ihm abzurechnen und so beim Kreml auch noch Verdienstpunkte zu sammeln.“
Es gibt viele einflussreiche Russen, die etwas gegen den Korruptionsenthüller Nawalny haben könnten. Er und seine Stiftung veröffentlichten Berichte und Filme über Luxusimmobilien und Schmiergeldaffären diverser Kabinettsmitglieder, Putin-Vertrauter oder Topbeamter, darunter Ex-Premierminister Dmitri Medwedew, der langjährige Generalstaatsanwalt Juri Tschaika oder Nationalgardenchef Viktor Solotow. Dem kremlnahen Unternehmer Jewgeni Prigoschin warf Nawalny massive Unterschlagungen bei der Verpflegung Moskauer Schulkinder vor, Prigoschin beschimpfte ihn deshalb erst Ende Juli heftig: „Nawalny, du kriechst vor den Feinden Russlands und führst ihre abscheulichen Aufträge aus.“
Nawalnys Hausarzt Jaroslaw Aschichmin sagte am Donnerstag der Internetplattform Medusa, er und Nawalnys Umgebung wollten den Patienten so schnell wie möglich in ein europäisches Krankenhaus evakuieren. Man verhandelte mit Kliniken in Hannover und Straßburg. Putin-Sprecher Peskow versicherte prompt, der Kreml werde einen Transport des Regierungskritikers ins Ausland nach Kräften unterstützen, wenn es entsprechende Bitten gäbe. Am Abend bot Kanzlerin Angela Merkel (CDU) an, Nawalny in Deutschland zu behandeln.