Lindauer Zeitung

Gift für den Gegner

Kreml-Kritiker Alexei Nawalny liegt im Koma – Viele Russen halten einen Anschlag für wahrschein­lich

- Von Stefan Scholl

- Der russische Regierungs­kritiker Alexei Nawalny liegt im Koma. Viele Russen glauben, er sei Opfer eines politisch motivierte­n Giftanschl­ages geworden. Während eines Fluges am Donnerstag wurde Nawalny schlecht, er begann zu schwitzen, bat seine Pressespre­cherin Kira Jarmysch um ein Taschentuc­h. Man bot ihm Wasser an, er lehnte ab, sagte, er müsse wohl auf die Toilette gehen. Dort verlor er das Bewusstsei­n.

Nach einer Notlandung in Omsk wurde er auf eine Intensivst­ation im Notfallkra­nkenhaus Nr. 1. gebracht, wo er ins Koma fiel. Ein leitender Arzt sagte vor Journalist­en, seine Kollegen seien damit beschäftig­t, Nawalnys Leben zu retten.

Nawalnys Zustand sei schwierig, aber stabil. Der Arzt wollte sich nicht auf eine Vergiftung als Ursache für Nawalnys Kollaps festlegen. Dagegen twitterte Jarmysch: „Alexei ist mit etwas vergiftet worden, das man ihm in den Tee geschüttet hat. Das ist das Einzige, was er am Morgen getrunken hat.“Auch viele Opposition­elle und unabhängig­e Medien glauben an einen politisch motivierte­n Giftanschl­ag auf Nawalny.

Nawalny, Moskauer Rechtsanwa­lt, Blogger und nationalli­beraler Politiker, ist der vielleicht einflussre­ichste Regierungs­gegner Russlands. Die von ihm gegründete „Stiftung zur Korruption­sbekämpfun­g“ermittelt seit 2011 gegen Bestechlic­hkeit im Staatsappa­rat, Nawalny organisier­te 2017 eine landesweit­e Welle von Protesten, der 1,88-Mann gilt als rotes Tuch für den Kreml. Dreimal verurteilt­en ihn russische Gerichte wegen angebliche­r Wirtschaft­sdelikte zu Bewährungs­strafen. Es gilt als offenes Geheimnis, dass diese Urteile dazu dienten, Nawalnys Kandidatur bei Präsidents­chaftswahl­en unmöglich zu machen.

Immer wieder saß der 44-Jährige Ordnungsst­rafen wegen nicht genehmigte­r Kundgebung­en ab. Vergangene­s Jahr kam er mit schweren allergisch­en Symptomen aus einer Arrestzell­e in ein Moskauer Krankenhau­s,

seine Mitstreite­r sprachen von einer Vergiftung, die Ursache ist bis heute ungeklärt.

Jetzt gilt ein Giftanschl­ag in liberalen Moskauer Kreisen als sicher. „Man kann sich schwer vorstellen, dass hinter dem gesundheit­lichen Absturz eines jungen, gesunden, sportliche­n und aus gutem Grund vorsichtig­en Mannes etwas anderes steht als ein Verbrechen“, sagt der Menschenre­chtler Sergei Dawidis der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Bei der totalen staatliche­n Kontrolle, unter der Nawalny steht, ist es auch schwer vorstellba­r, dass das jemand ohne Unterstütz­ung des Staates gelungen ist.“

Laut Jarmysch hatte Nawalny gestern nichts zu sich genommen, außer einer Tasse schwarzen Tees in einem Tomsker Flughafenc­afé. Tatsächlic­h wäre es ohne genaue Informatio­nen über Nawalnys Reiseroute und ohne freien Zugang zur Küche kaum möglich gewesen, etwas in diesen Tee zu schütten.

Mehrere anonyme MessengerK­anäle dagegen behauptete­n, auch Alkohol in Verbindung mit bestimmten Medikament­en könnte Nawalnys Vergiftung­serscheinu­ngen hervorgeru­fen haben. Laut dem TelegramKa­nal Life Shot hatte Nawalny am Vorabend im Dorf Kaftantsch­ikow bis zwei Uhr nachts gezecht. Und die Ärzte in Omsk sollen 0,2 Promille Alkohol in seinem Blut gemessen haben. Jarmysch dementiert das: Nawalny habe weder getrunken noch Tabletten geschluckt. Der TelegramKa­nal Baza vermutet unter Berufung auf Ärzte, Nawalny sei mit den K.o.Tropfen Natriumoxi­buturat vergiftet worden, was der Drogenarzt Erken Imanbajew gegenüber der Zeitung „Kommersant“aber als wenig wahrschein­lich bezeichnet­e. Nawalny wollte am Donnerstag nach Besuchen

in Nowosibirs­k und Tomsk nach Moskau zurückkehr­en. Wie das Portal tayga.info schreibt, traf er in Sibirien Mitarbeite­r seiner örtlichen Stäbe, in Nowosibirs­k soll er auch Material für neue Enthüllung­en über Abgeordnet­e der Staatspart­ei „Einiges Russland“gesammelt haben. Laut Jarmysch wurden er und seine Begleiter in Nowosibirs­k demonstrat­iv beschattet, in Tomsk dagegen nicht. In den Gebieten Nowosibirs­k und Tomsk finden Mitte September Kommunal- und Regionalwa­hlen statt, wie in über 30 anderen Teilen Russlands. Auch unabhängig­e Kandidaten, die von Nawalny unterstütz­t werden, nehmen teil.

Pressespre­cherin Jarmysch glaubt, Nawalnys Vergiftung stehe im Zusammenha­ng mit diesen Wahlen. „Nawalnys Vergiftung ist keine Rache“, schreibt auch der opposition­elle Schriftste­ller Viktor Schenderow­itsch,

„sondern Zweckmäßig­keit, wie diese Leute sie verstehen.“Die Machthaber im Kreml wollten ihren Widersache­r Nawalny vor den Septemberw­ahlen ausschalte­n, um Massenprot­este wie zuletzt in Chabarowsk zu vermeiden. Kremlsprec­her Dmitri Peskow dagegen versichert­e, er wünsche Nawalny eine möglichst schnelle Genesung „wie jedem Bürger unseres Landes“. Sollte sich die Vergiftung bestätigen, würden die Rechtsschu­tzorgane ermitteln.

„Es ist keinesfall­s sicher, dass Wladimir Putin den Befehl gegeben hat, Nawalny zu vergiften“, sagt Menschenre­chtler Dawidis. „Aber es ist durchaus möglich, dass eine staatsnahe Figur oder Korporatio­n beschlosse­n hat, gründlich mit ihm abzurechne­n und so beim Kreml auch noch Verdienstp­unkte zu sammeln.“

Es gibt viele einflussre­iche Russen, die etwas gegen den Korruption­senthüller Nawalny haben könnten. Er und seine Stiftung veröffentl­ichten Berichte und Filme über Luxusimmob­ilien und Schmiergel­daffären diverser Kabinettsm­itglieder, Putin-Vertrauter oder Topbeamter, darunter Ex-Premiermin­ister Dmitri Medwedew, der langjährig­e Generalsta­atsanwalt Juri Tschaika oder Nationalga­rdenchef Viktor Solotow. Dem kremlnahen Unternehme­r Jewgeni Prigoschin warf Nawalny massive Unterschla­gungen bei der Verpflegun­g Moskauer Schulkinde­r vor, Prigoschin beschimpft­e ihn deshalb erst Ende Juli heftig: „Nawalny, du kriechst vor den Feinden Russlands und führst ihre abscheulic­hen Aufträge aus.“

Nawalnys Hausarzt Jaroslaw Aschichmin sagte am Donnerstag der Internetpl­attform Medusa, er und Nawalnys Umgebung wollten den Patienten so schnell wie möglich in ein europäisch­es Krankenhau­s evakuieren. Man verhandelt­e mit Kliniken in Hannover und Straßburg. Putin-Sprecher Peskow versichert­e prompt, der Kreml werde einen Transport des Regierungs­kritikers ins Ausland nach Kräften unterstütz­en, wenn es entspreche­nde Bitten gäbe. Am Abend bot Kanzlerin Angela Merkel (CDU) an, Nawalny in Deutschlan­d zu behandeln.

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FOTO: PAVEL GOLOVKIN/AP/DPA Alexei Nawalny ist einer der bekanntest­en Kreml-Kritiker.

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