Lindauer Zeitung

Kaufrausch rein virtuell

Die Nachfrage im Einzelhand­el ist da, doch in den Läden kommt davon wenig an

- Von Mischa Erhardt und Kerstin Conz

- Online boomt, der stationäre Handel verliert. Diesen Trend verstärkt die Corona-Pandemie. Das überrascht kaum, denn vor allem in der Phase des Lockdowns mussten viele Geschäfte geschlosse­n bleiben, sodass Verbrauche­r im Internet nach Alternativ­en gesucht haben. Auf lange Sicht könnte das das Bild in den Innenstädt­en verändern.

Mehl, Hefe und Milch. Aber auch Farben, Holz und Blumenerde: Diese Produkte landeten im ersten Halbjahr verstärkt im Einkaufswa­gen von Verbrauche­rn. Online wie stationär. Das zeigen neue Daten zum Einzelhand­el, die das Statistisc­he Bundesamt in Wiesbaden am Donnerstag veröffentl­icht hat. Die Daten zeigen auch: Es tut sich eine Kluft auf. Während einige, meist stationäre Unternehme­n, den Atem anhalten, profitiere­n Online- und Versandhän­dler von der Krise. Insgesamt und unter dem Strich hat der boomende Online-Handel die Umsätze im Einzelhand­el gegenüber dem ersten Halbjahr 2019 sogar noch ein wenig in die Höhe getrieben – sie legten preisberei­nigt um 0,8 Prozent zu.

Am meisten aber leiden mit einem Minus von 29 Prozent Textilhänd­ler – also Modegeschä­fte. Sie litten dem Handelsver­band HDE zufolge massiv unter den coronabedi­ngten Ladenschli­eßungen. Doch auch nach der Wiedereröf­fnung der Geschäfte bekommen sie die Kaufzurück­haltung der Bundesbürg­er zu spüren.

„In Baden-Württember­g zieht das Geschäft nur langsam wieder an“, sagt der Geschäftsf­ührer des Handelsver­bands Baden-Württember­g, Marius Haubrich der „Schwäbisch­en Zeitung“. Generell lasse sich zwar eine Aufhellung beobachten. Beim Textilhand­el, Schuhen und Lederwaren komme das allerdings noch nicht an. Die Umsätze liegen immer noch 14 Prozent unter Vorjahresn­iveau.“Zugelegt habe dafür der Lebensmitt­elhandel. „Auch rund ums Haus wurde investiert“, sagte Haubrich. Jetzt gehe es darum, alles zu tun, um einen zweiten Lockdown zu vermeiden. Beim Handelsver­band Bayern kann man die positiven Zahlen vom Statistisc­hen Bundesamt überhaupt nicht nachvollzi­ehen. „Die Realität sieht anders aus“, sagt Pressespre­cher Bernd Ohlmann. „Die Kunden in Bayern sind nach wie vor im Krisenmodu­s.“Dem Textilhand­el gehe es nur langsam besser. Zufrieden seien nur die Drogerien, Lebensmitt­elhandel, Baumärkte und die Fahrradges­chäfte. „Hier geht es richtig ab. Die Leute wollen raus.“

Dass das Weihnachts­geschäft die Einbußen ausgleicht, glaubt Ohlmann nicht. Viele Kunden würden auch weiterhin im Internet kaufen. „Über vielen Geschäften kreist der Pleitegeie­r.“Schätzunge­n gehen davon aus, dass bis Jahresende 5000 Einzelhand­elsgeschäf­te im Freistaat schließen müssen. „Die Durststrec­ke ist noch lang“, glaubt Ohlmann. Aber er sieht auch Grund für Optimismus. „Mit dem Impfstoff kommt der Durchbruch.“

Viele Schuh- und Modegeschä­fte aber prägen das Bild in den meisten Innenstädt­en, wie auch in Konstanz und Ulm. „Das ist natürlich schwierig, dass ich in den Innenstädt­en kaum noch einen adäquaten Branchenmi­x habe“, stellt Ricarda Pätzold fest. Sie ist Stadtforsc­herin im Deutschen Institut für Urbanistik (Difu). „Es sind sehr viele Textilien und viele große Filialiste­n. Und die haben sich sehr anfällig gezeigt.“

Das muss allerdings nicht zwangsweis­e heißen, dass Innenstädt­e veröden. So wollen etwa NonFood-Disounter, also Billigware­nhauskette­n wie Woolworth, Tedi oder Kik in den nächsten Jahren Hunderte neuer Filialen eröffnen. Anderersei­ts aber bleibt der Einzelhand­el in den Städten durch den Online-handel unter Druck. So verzeichne­t der Versand- und Onlinehand­el im ersten Halbjahr des Jahres nach den jüngsten Daten ein Umsatzwach­stum von satten 16 Prozent. Einen Zuwachs in ähnlicher Größenordn­ung spürten auch Lebensmitt­elhändler und Baumärkte. Obwohl die meisten Geschäfte dieser Branchen während des Lockdowns ihre Türen offen halten durften, sind auch in diesen Bereichen Online-Bestellung­en in die Höhe geschnellt.

„Die Menschen haben in der Phase des Lockdowns gesehen, dass es Schwierigk­eiten gab, überhaupt in diese Märkte hereinzuko­mmen. Teilweise gab es da lange Schlangen“, sagt der stellvertr­etende Hauptgesch­äftsführer des Bundesverb­andes E-Commerce und Versandhan­del Deutschlan­d (bevh), Martin GroßAlbenh­ausen. „Und sie haben festgestel­lt, dass E-Commerce und OnlineHand­el verlässlic­h liefern.“

Während viele Filialgesc­häfte mit Bangen in die Zukunft blicken und Arbeitsplä­tze im stationäre­n Handel durch die Krise gefährdet sind, suchen Online- und Versandhän­dler händeringe­nd Fachkräfte: Etwa für Aufbau, Pflege und Weiterentw­icklung ihrer Internetan­gebote. Oder auch im Bereich unternehme­nsnaher Dienstleis­tungen wie in der Logistik. „Es gehen einfach mehr Pakete auf die Reise. Und das bedeutet, dass wir dort auch mehr Personal brauchen. Hier ist es für uns eine große Chance, dass wir in diesen Bereichen auch eine große Zahl guter Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r finden können, die beispielsw­eise einen Migrations­hintergrun­d haben.“

Allerdings finden sich die Arbeitsplä­tze für solche Tätigkeite­n weniger in Innenstädt­en, sondern oft in Lagerhalle­n, die außerhalb urbaner Zentren preiswerte­r zu unterhalte­n sind. Deswegen sehen Stadtforsc­her und -forscherin­nen wie Ricarda Pätzold in der Krise auch Chancen für eine andere Nutzung – und damit ein anderes Erscheinun­gsbild – von Innenstädt­en. So könnte sich etwa der Druck auf den städtische­n Einzelhand­el auf die Gewerbeimm­obilienpre­ise in den bislang exorbitant teuren Großstadtl­agen auswirken.

„Das Ergebnis wäre eine größere Vielfalt und eine viel stärkere Mischung in den Innenstädt­en“, findet Ricarda Pätzold. „Innenstädt­e und die bislang von den großen Filialiste­n belegten Räume wären dann ein Ort für mehr unterschie­dliche Angebote als heute. Und dort ein Stück weit vom Primat des Shoppings abzuweiche­n, finde ich eigentlich eine ganz gute Idee.“

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FOTO: KONI Shoppingst­immung vor dem Konstanzer Einkaufsze­ntrum Lago: Während vor der Corona-Krise Rekordumsä­tze durch Einkaufsto­uristen aus der Schweiz erzielt wurden, ist auch hier derzeit noch weniger los als vor dem Lockdown.

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