Kaufrausch rein virtuell
Die Nachfrage im Einzelhandel ist da, doch in den Läden kommt davon wenig an
- Online boomt, der stationäre Handel verliert. Diesen Trend verstärkt die Corona-Pandemie. Das überrascht kaum, denn vor allem in der Phase des Lockdowns mussten viele Geschäfte geschlossen bleiben, sodass Verbraucher im Internet nach Alternativen gesucht haben. Auf lange Sicht könnte das das Bild in den Innenstädten verändern.
Mehl, Hefe und Milch. Aber auch Farben, Holz und Blumenerde: Diese Produkte landeten im ersten Halbjahr verstärkt im Einkaufswagen von Verbrauchern. Online wie stationär. Das zeigen neue Daten zum Einzelhandel, die das Statistische Bundesamt in Wiesbaden am Donnerstag veröffentlicht hat. Die Daten zeigen auch: Es tut sich eine Kluft auf. Während einige, meist stationäre Unternehmen, den Atem anhalten, profitieren Online- und Versandhändler von der Krise. Insgesamt und unter dem Strich hat der boomende Online-Handel die Umsätze im Einzelhandel gegenüber dem ersten Halbjahr 2019 sogar noch ein wenig in die Höhe getrieben – sie legten preisbereinigt um 0,8 Prozent zu.
Am meisten aber leiden mit einem Minus von 29 Prozent Textilhändler – also Modegeschäfte. Sie litten dem Handelsverband HDE zufolge massiv unter den coronabedingten Ladenschließungen. Doch auch nach der Wiedereröffnung der Geschäfte bekommen sie die Kaufzurückhaltung der Bundesbürger zu spüren.
„In Baden-Württemberg zieht das Geschäft nur langsam wieder an“, sagt der Geschäftsführer des Handelsverbands Baden-Württemberg, Marius Haubrich der „Schwäbischen Zeitung“. Generell lasse sich zwar eine Aufhellung beobachten. Beim Textilhandel, Schuhen und Lederwaren komme das allerdings noch nicht an. Die Umsätze liegen immer noch 14 Prozent unter Vorjahresniveau.“Zugelegt habe dafür der Lebensmittelhandel. „Auch rund ums Haus wurde investiert“, sagte Haubrich. Jetzt gehe es darum, alles zu tun, um einen zweiten Lockdown zu vermeiden. Beim Handelsverband Bayern kann man die positiven Zahlen vom Statistischen Bundesamt überhaupt nicht nachvollziehen. „Die Realität sieht anders aus“, sagt Pressesprecher Bernd Ohlmann. „Die Kunden in Bayern sind nach wie vor im Krisenmodus.“Dem Textilhandel gehe es nur langsam besser. Zufrieden seien nur die Drogerien, Lebensmittelhandel, Baumärkte und die Fahrradgeschäfte. „Hier geht es richtig ab. Die Leute wollen raus.“
Dass das Weihnachtsgeschäft die Einbußen ausgleicht, glaubt Ohlmann nicht. Viele Kunden würden auch weiterhin im Internet kaufen. „Über vielen Geschäften kreist der Pleitegeier.“Schätzungen gehen davon aus, dass bis Jahresende 5000 Einzelhandelsgeschäfte im Freistaat schließen müssen. „Die Durststrecke ist noch lang“, glaubt Ohlmann. Aber er sieht auch Grund für Optimismus. „Mit dem Impfstoff kommt der Durchbruch.“
Viele Schuh- und Modegeschäfte aber prägen das Bild in den meisten Innenstädten, wie auch in Konstanz und Ulm. „Das ist natürlich schwierig, dass ich in den Innenstädten kaum noch einen adäquaten Branchenmix habe“, stellt Ricarda Pätzold fest. Sie ist Stadtforscherin im Deutschen Institut für Urbanistik (Difu). „Es sind sehr viele Textilien und viele große Filialisten. Und die haben sich sehr anfällig gezeigt.“
Das muss allerdings nicht zwangsweise heißen, dass Innenstädte veröden. So wollen etwa NonFood-Disounter, also Billigwarenhausketten wie Woolworth, Tedi oder Kik in den nächsten Jahren Hunderte neuer Filialen eröffnen. Andererseits aber bleibt der Einzelhandel in den Städten durch den Online-handel unter Druck. So verzeichnet der Versand- und Onlinehandel im ersten Halbjahr des Jahres nach den jüngsten Daten ein Umsatzwachstum von satten 16 Prozent. Einen Zuwachs in ähnlicher Größenordnung spürten auch Lebensmittelhändler und Baumärkte. Obwohl die meisten Geschäfte dieser Branchen während des Lockdowns ihre Türen offen halten durften, sind auch in diesen Bereichen Online-Bestellungen in die Höhe geschnellt.
„Die Menschen haben in der Phase des Lockdowns gesehen, dass es Schwierigkeiten gab, überhaupt in diese Märkte hereinzukommen. Teilweise gab es da lange Schlangen“, sagt der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes E-Commerce und Versandhandel Deutschland (bevh), Martin GroßAlbenhausen. „Und sie haben festgestellt, dass E-Commerce und OnlineHandel verlässlich liefern.“
Während viele Filialgeschäfte mit Bangen in die Zukunft blicken und Arbeitsplätze im stationären Handel durch die Krise gefährdet sind, suchen Online- und Versandhändler händeringend Fachkräfte: Etwa für Aufbau, Pflege und Weiterentwicklung ihrer Internetangebote. Oder auch im Bereich unternehmensnaher Dienstleistungen wie in der Logistik. „Es gehen einfach mehr Pakete auf die Reise. Und das bedeutet, dass wir dort auch mehr Personal brauchen. Hier ist es für uns eine große Chance, dass wir in diesen Bereichen auch eine große Zahl guter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter finden können, die beispielsweise einen Migrationshintergrund haben.“
Allerdings finden sich die Arbeitsplätze für solche Tätigkeiten weniger in Innenstädten, sondern oft in Lagerhallen, die außerhalb urbaner Zentren preiswerter zu unterhalten sind. Deswegen sehen Stadtforscher und -forscherinnen wie Ricarda Pätzold in der Krise auch Chancen für eine andere Nutzung – und damit ein anderes Erscheinungsbild – von Innenstädten. So könnte sich etwa der Druck auf den städtischen Einzelhandel auf die Gewerbeimmobilienpreise in den bislang exorbitant teuren Großstadtlagen auswirken.
„Das Ergebnis wäre eine größere Vielfalt und eine viel stärkere Mischung in den Innenstädten“, findet Ricarda Pätzold. „Innenstädte und die bislang von den großen Filialisten belegten Räume wären dann ein Ort für mehr unterschiedliche Angebote als heute. Und dort ein Stück weit vom Primat des Shoppings abzuweichen, finde ich eigentlich eine ganz gute Idee.“